Auge um Auge - Thread IV

Kapitel 21

 

13.34 Uhr – Kommandozentrale des Tyson Corner Centers

 

Ohne anzuklopfen stürmte Gibbs in die Kommandozentrale der Security des Tyson Corner Centers. Sogleich löste sich ein aufgeregter Mitarbeiter von seinem Bildschirm und kam mit großen Schritten auf Gibbs zu und packte ihn am Arm.

 

„Sir? Sir? Sie dürfen hier nicht rein. Hier ist kein Publikumsverkehr. Das hier ist…“

 

Gibbs eisiger Blick bohrte sich in die Hand des Mitarbeiters auf seinem Arm und ließ den Mann umgehend verstummen. Ganz langsam orientierte Gibbs seinen Blick von seinem Arm auf das Gesicht des Mannes. Mit hochgezogener Augenbraue musterte er den Mann ohne ein Wort, der sich zusehends unbehaglicher fühlte.

 

Ruckartig zog der Mann schließlich seine Hand weg und lächelte Gibbs unsicher an: „Ich nehme an, Sie haben sich verlaufen.“

 

„Das glaube ich nicht“, sagte Gibbs ruhig. „Ich bin auf der Suche nach dem Leiter Ihrer Abteilung.“

 

„Und Sie sind…“

 

Gibbs zückte seinen Ausweis und hielt ihm den Mann vor´s Gesicht. „Leroy Jethro Gibbs, NCIS.“

 

„Und Ihr Anliegen?“

 

„Das werde ich mit dem Leiter Ihrer Abteilung besprechen“, antwortete Gibbs bestimmt. „Würden Sie mich jetzt endlich zu ihm bringen? Ich habe keine Zeit zu verlieren.“

 

Ein anderer Mann in einem dunklen, schlecht sitzenden Anzug gesellte sich zu ihnen. „Entschuldigen Sie. Ich bin Frank Hoskins, Leiter der Security. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“

 

„Das hoffe ich. Ich brauche einen Teil Ihrer Überwachungsbänder. Und zwar alle in der Zeitspanne von 11.45 Uhr bis … sagen wir 13.00 Uhr.“

 

Frank Hoskins lächelte grimmig: „Ich nehme an, dass Sie mir einen entsprechenden Beleg vorlegen können, der mich dann wiederum zur Herausgabe der Bänder berechtigt.“

 

Gibbs wurde langsam aber sicher ungeduldig. „Hören Sie, ich habe wirklich keine Zeit, mich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Genau in dieser Zeitspanne ist eine meiner Agentinnen verschwunden und das letzte, was wir von ihr wissen, ist, dass sie hierhin wollte, in ihr verdammtes Einkaufszentrum.“

 

„Trotzdem, Sie müssen verstehen…ich muss mich an meine Regeln halten, genauso, wie Ihre Behörde sich sicher auch an gewisse Regeln halten muss. Bringen Sie mir eine entsprechende Verordnung, dann können wir weiter reden. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun. Sie finden sicher alleine raus.“ Der Mann wollte sich ohne weiteres Wort abwenden und gehen.

 

Gibbs konnte es nicht fassen. Er war es gewohnt, dass seine natürlich Autorität seine Mitmenschen beeindruckte. Dass er ausgerechnet jetzt an eines der seltenen Exemplare geriet, bei denen das offensichtlich nicht funktionierte, machte ihn wütend. Er versperrte Frank Hoskins den Weg und funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Nur mühsam beherrschte er sich – schließlich war er auf die Kooperation des Mannes angewiesen.

„Vielleicht verstehen Sie nicht, wie dringend es ist. Ich würde es Ihnen ja gerne erklären, aber leider läuft mir die Zeit davon. In den letzten 24 Stunden sind zwei meiner besten Agenten spurlos verschwunden. Die beiden schweben in akuter Lebensgefahr und der Hinweis auf ein Treffen, dass hier in diesem Zentrum stattgefunden haben muss, ist im Grunde die einzige Spur, die wir derzeit haben.“

 

„Das tut mir ja auch leid für Sie, aber…“

 

Gibbs trat einen weiteren Schritt auf den Mann zu und zischte nun ohne weitere Zurückhaltung dicht vor dessen Gesicht: „Ich schwöre Ihnen, wenn meinen Leuten irgend etwas geschieht, dass Sie hätten verhindern können – und sei es einfach nur, weil Sie hier unnötig meine Zeit verplempern – dann werde ich Ihnen derartig auf die Pelle rücken, dass Sie sich wünschten, Sie hätten sich in einer Zinkmine in Alaska verkrochen.“

 

Frank Hoskins hielt der Drohung und dem vernichtenden Blick stand, ohne auch nur einmal zu zucken. Keiner im Raum telefonierte mehr oder achtete auf seinen Bildschirm. Alle verfolgten atemlos die Auseinandersetzung zweier starker Charaktere. Nach einer endlos scheinenden Weile trat Hoskins schließlich einen Schritt zurück und lächelte dünnlippig.

 

„Nun“, sagte er und nickte Gibbs kurz zu. „Ich denke, in diesem speziellen Fall kann ich einmal eine Ausnahme machen. Sie können die Bänder haben – unter der Voraussetzung, dass ich sie so schnell wie möglich zurück bekomme.“

 

„Sicher, außer meine Leute finden etwas und wir benötigen es als Beweismaterial. Dann wird es etwas länger dauern.“

 

„Gut“, nickte Hoskins. „Damit kann ich leben. Aber haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Überwachungskameras es hier gibt? Die Zeitspanne, die für Sie interessant ist, ist gerade erst abgelaufen. Die Bänder sind noch in den Kameras. Es wird eine Weile dauern, alle auszutauschen.“

 

„Worauf warten Sie dann noch?“, meinte Gibbs kurz. Als er die verwunderten Blicke der Mitarbeiter im Raum bemerkte, setzte er vorsichtshalber hinzu. „Ähm, und danke.“

 

„Keine Ursache.“ Hoskins drehte sich um und winkte drei seiner Mitarbeiter herbei. „Okay, Leute, ihr habt gehört, worum es geht. Schnappt euch saubere Bänder und seht zu, dass ihr die laufenden so schnell wie möglich austauscht. Bringt alles hierher.“ Dann wandte er sich wieder Gibbs zu. „Sie können hier warten. Dort drüben können Sie sich hinsetzen.“

 

Ein paar Sekunden lang überlegte Gibbs, warten war nicht gerade seine Stärke. Dann aber nickte er kurz und ging hinüber zu der kleinen Sitzgruppe, die eine Ecke der Kommandozentrale einnahm, nahm Platz, griff nach seinem Handy und drückte eine Kurzwahl. „McGee?“

 

„Ja, Boss, was ist los?“

 

„Hast du schon was?“

 

„Nein, bis jetzt hatte ich keinen Erfolg. Niemand hat die beiden gesehen oder einen ungewöhnlichen Zwischenfall bemerkt. Es ist zum verzweifeln.“

 

Gibbs seufzte: „Versuch´s weiter. Ich melde mich wieder.“ Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Nervös trommelte er mit den Fingern auf der Lehne des schmalen Sessels herum. Gott, wie er es hasste, wenn sie nicht weiterkamen. Und dann musste er auch noch an solche Bürokraten geraten. Die Zeiger der großen Wanduhr schlichen quälend langsam vorwärts. Du lieber Himmel, wohin war er denn hier nur geraten? Wenn er und seine Leute in diesem Tempo arbeiten würden, könnten sie wohl nie einen Fall aufklären. Endlich, nach fast einer Viertelstunde öffnete sich die Eingangstür der Kommandozentrale und der erste der Männer kehrte mit einer Kiste voller Überwachungsbänder zurück. Die beiden anderen folgten kurz darauf. Gibbs sprang auf und ging auf die Männer zu. Auch Hoskins gesellte sich wieder zu ihnen.

 

„Okay“, sagte er. „Ich verlasse mich auf Sie. Ich werde Ihnen diese Bände jetzt ohne Empfangsquittung mitgeben und Sie werden Ihr Versprechen halten, nicht wahr.“

 

Gibbs starrte den Mann an, als hätte er den Verstand verloren. „Natürlich“, sagte er schnell, bevor Hoskins es sich doch noch anders überlegte. „Sie können sich auf mich verlassen.“

Sein Handy klingelte und er zog es hervor. „Entschuldigung“, sagte er in Richtung Hoskins, bevor er sich meldete. „Gibbs.“

 

„Oh, hallo Gibbsman, stell dir vor, wir haben was gefunden“, quäkte eine offensichtlich total überdrehte Abby in sein Ohr. „Weißt du, Portsmith, er ist ein Phönix! Eigentlich ist ja Ducky darauf gekommen, aber…Hey.“

 

„Abby?“ Gibbs war verwirrt und wusste nicht, worauf die schräge Forensikerin hinaus wollte. Aber wenn sie so drauf war, musste sie tatsächlich etwas Bedeutendes herausgefunden haben.

 

„Leroy? Hier spricht Donald.“

 

„Ducky, was zum Teufel ist da bei euch los?“

 

„Abigail und ich haben herausgefunden, dass die Identität dieses Portsmith offenbar falsch ist. Weißt du, das kam so…“

 

„Nein, Ducky! Stopp!“ Gibbs bekam so langsam das Gefühl, als entgleite ihm alles. „Ich sammle McGee ein und wir kommen zurück ins Hauptquartier.“

 

„Ist gut, wir warten dann hier auf euch.“

 

„Tut das. – Ähm…und gute Arbeit“, setzte er hinzu, obwohl er immer noch nicht verstand, worum es eigentlich ging. Außer, dass es um Portsmith ging und das war definitiv wichtig.

Er beendete das Gespräch und rief McGee ein zweites Mal an. „Tim, wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Haupteingang. Abby und Ducky haben was gefunden.“

 

„Klar, Boss, ich werde da sein.“

 

 

 

13.44 Uhr – Im Keller bei Tony und Ziva

 

Wie durch Watte drangen langsam Stimmen zu Ziva durch. Mühsam hob sie ihren Kopf und blickte sich orientierungslos in dem kahlen Raum um. Dann setzte schlagartig die Erinnerung wieder ein: Tony! Ihr Kampf mit Erez! Der Schuss! Sie wollte sich bewegen, sich an den schmerzenden Kopf fassen, doch plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass sie bewegungsunfähig war. Sie sah an sich herunter und musste feststellen, dass sie an den Stuhl gefesselt war, den Erez zuvor im Raum verankert hatte. Ihre Arme waren an die Lehnen gebunden und sie konnte diese keinen Millimeter bewegen, wie sehr sie auch an den Fesseln zerrte.

 

Langsam ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern und blieb an einer auf dem Boden liegenden Gestalt hängen. Erez lag regungslos auf der Erde und Thomas kniete mit hängendem Kopf neben ihm. Aaron lehnte resigniert mit blutbeschmierten Händen neben den beiden an der Wand und blickte stumm zu einer der kleinen Fensterluken. Anscheinend hatte er versucht, die Blutung an Erez' Körper zu stoppen. Vergeblich! Es war unverkennbar: Erez war tot.

 

Seitlich neben Ziva stand Rebekka mit verschränkten Armen hinter Thomas. Eigenartigerweise wirkte sie weder besonders wütend, noch erschüttert. Anscheinend machte ihr Erez' Tod weniger aus, als den beiden Männern. „Sie ist wach!“, informierte sie ihren Bruder und Aaron und deutete mit dem Kopf in Richtung Ziva.

 

Thomas wandte den Kopf und sah zu ihr, langsam erhob er sich, während Aaron sich von der Wand abstieß und mit verkniffenem Gesicht zu Ziva trat. Der junge Israeli blieb vor ihr stehen und sah sie einige Sekunden lang an, dann schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht und hinterließ einen brennenden roten Fleck auf Zivas Wange. Ihr Kopf flog nach links und ihre Nackenmuskeln knackten, doch sie zwang sich, Aaron gleich darauf wieder ins Gesicht zu sehen. Der Blick mit dem er sie ansah war eine Mischung aus Hass und Schmerz. „Erez war mein Freund. Ich kannte ihn schon seit Kindertagen! Verdammt, weißt du überhaupt, was das bedeutet?“ Wütend ballte er die Hände zu Fäusten, doch in dem Moment legte ihm Rebekka die Hand auf die Schulter.

 

„Beruhige dich. Du kriegst deine Rache, genau wie ich.“ Geschmeidig glitt sie an ihm vorbei und sah ihm in die Augen. Unsicher erwiderte er ihren Blick, irgendwie war ihm Rebekka unheimlich und doch konnte er sich immer noch nicht gegen ihre Anziehungskraft wehren. So war es früher schon gewesen und er hatte sich lange Zeit dafür gehasst. Der einzig mögliche Weg, von dieser Frau loszukommen, war damals für ihn gewesen, sich komplett von seinem bisherigen Leben zu verabschieden. Eine Zeitlang war alles gut gewesen – bis sie dann wieder in sein Leben getreten war. Jetzt war die logische Konsequenz eingetroffen. Er hatte wieder einen Freund verloren. Doch er war ja selber schuld! Er hatte es schließlich zugelassen, dass sie wieder Besitz von ihm ergriff, obwohl er genau wusste, wie sie war. Erez war Rebekka vollkommen hörig gewesen; das war er nicht, er war noch Herr seiner sieben Sinne und hinterfragte zumindest das Ein oder Andere, was sie entschied. Trotzdem senkte er jetzt den Kopf, nickte zustimmend und trat drei Schritte von Ziva zurück.

 

„Tragt Erez hinauf, wir überlegen später, was wir mit ihm machen“.

 

„Was wir mit ihm machen!?“, begehrte in diesem Moment Thomas auf. „Willst du ihn vielleicht einfach irgendwo verscharren? - Rebekka, er war einer von uns!“

 

„Was willst du?“, fuhr ihn Rebekka mit einem Ton an, der keinen Widerspruch duldete, „Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich einen Rabbi holen, der das Kaddisch für ihn betet? - Wir haben hier etwas zu beenden und ich lasse mich von Niemandem dabei aufhalten! Von Nichts und Niemandem! Ist das klar?! - Wir werden später überlegen!!! Verstanden?“

 

Einige Augenblicke starrten sich die zwei Geschwister an, dann senkte auch Thomas seinen Blick und bedeutete Aaron wortlos, dass er ihm helfen sollte, die Leiche von Erez hinauszutragen.

 

„Bringt die Käfige mit!“ rief ihnen Rebekka hinterher, als sie den Raum bereits verlassen hatten. „Wir wollen doch nicht, dass bei unseren Gästen Langeweile aufkommt.“

 

 

13.48 Uhr – Tyson Corner Centers

 

Als McGee seinen Boss knapp zehn Minuten später auf der Rolltreppe erspähte, ging er ihm entgegen und wartete am Fuß der Treppe auf Gibbs, der schwer bepackt mit mehreren Tüten und einer Kiste auf der Rolltreppe stand. Ohne zu fragen nahm er seinem Chef einiges an Gepäck ab und gemeinsam verließen sie schweigend die Shopping-Mall in Richtung Parkplatz. Vor der Tür angekommen, traute McGee sich endlich eine Frage zu stellen.

 

„Ähm, Boss, was haben die beiden denn gefunden?“

 

„Weiß nicht“, antwortete Gibbs knapp. „Du kennst sie doch. Es hat irgendwas mit Portsmith zu tun, aber wirklich durchgeblickt habe ich nicht. Abby hat irgendwas von einem Phönix gefaselt. Keine Ahnung, was sie damit meint.“

 

„Na ja, gleich werden wir schlauer sein“, tröstete Tim.

 

„Davon gehe ich aus“, sagte Gibbs grimmig und fischte in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel.

 

McGee stand wartend vor dem Kofferraum und ließ seinen Blick über den Parkplatz schweifen. Dabei fiel ihm plötzlich etwas auf und er sah genauer hin. „Boss?“, sagte er dann alarmiert. „Sieh mal. Dort hinten links..“ Er nickte in die angegebene Richtung.

 

Gibbs folgte dem Blick den MIT-Absolventen. „Verdammt, das ist doch Ziva´s Auto.“

 

„Das denke ich auch.“

 

Endlich hatte Gibbs den Kofferraum auf. Hastig luden sie die Überwachungsbänder hinein, knallten den Deckel wieder zu und gingen mit schnellen Schritten über den Parkplatz, bis sie den Wagen erreicht hatten. Sie brauchten nur einen Blick auf das Kennzeichen des Wagens zu werfen und wussten, dass sie Recht hatten.

 

„Sie war also tatsächlich hier.“

 

„Ja, und entweder sie ist immer noch hier oder sie hat das Center nicht in ihrem eigenen Wagen verlassen.“ Gibbs hatte bereits wieder sein altes Ledermäppchen hervorgezaubert und fummelte nun am Schloss herum. Kurz darauf war der Wagen offen. Er stieg ein und stieß mit dem Absatz an etwas, dass offenbar nur flüchtig unter den Sitz geschoben worden war. Mit einer Hand griff er zwischen seine Beine und beförderte Ziva´s Dienstwaffe ans Tageslicht. Grimmig starrte er McGee an.

 

„Das ist nicht gut“, stammelte der. „Das ist ganz und gar nicht gut. Wieso hat sie ihre Waffen nicht mitgenommen? Das sieht ihr gar nicht ähnlich.“

 

„Allerdings“, brummte Gibbs.

 

„Da! Auf dem Beifahrersitz liegt ihr Handy.“

 

Gibbs warf von der Fahrerseite aus einen Blick darauf. „Aus“, verkündete er gleich darauf. „Entweder hat sie es ausgeschaltet oder der Akku ist leer. Das muss Abby sich ansehen. Vielleicht kann sie ja das letzte Telefonat rekonstruieren.“ Gibbs hatte mittlerweile auch Ziva´s Notfallwaffe und ein Messer unter dem Sitz hervorgeholt. „Kannst du ein Auto kurzschließen“, erkundigte er sich dann kurz.

 

„Boss, Ziva wird mich köpfen!“

 

„Sie kann froh sein, wenn ich sie nicht köpfe“, fauchte Gibbs, dem langsam immer klarer wurde, was Ziva getan hatte. „Wir nehmen den Wagen mit zurück ins Hauptquartier. Du wirst ihn fahren. Bring ihn direkt in Abby´s Garage. Sie muss ihn sich vornehmen. Wir treffen uns in Abby´s Labor.“ Er stieg aus und machte Platz für McGee. „Nun mach schon, beeil dich!“

 

 

13.52 Uhr – Im Keller bei Tony und Ziva

 

Immer wieder hatte Ziva während der Auseinandersetzung der Rivkins Tony angesehen. Genau wie er ahnte sie, dass ihm bald eine neuerliche Quälerei bevorstand. Sie hatte ihm helfen, ihn beschützen wollen - und jetzt war sie hilflos und würde vermutlich tatenlos mit ansehen müssen, wie ihr Liebster wieder misshandelt wurde. Ziva hatte selten Angst, doch jetzt machte sich unaufhaltsam dieses bislang weitgehend unbekannte Gefühl in ihr breit.

Sie wusste nicht, was ihr mehr Angst machte: Die Tatsache kaltgestellt zu sein und nichts am kommenden Geschehen ändern zu können, oder Tony´s resigniertes Verhalten. Seine Körpersprache und sein Gesichtsausdruck deuteten mehr und mehr darauf hin, dass er sich komplett aufgegeben hatte.

 

Nach fünf Minuten, in denen keiner im Raum ein Wort gesprochen hatte, kamen die beiden Israelis zurück. Jeder von Ihnen trug zwei zugedeckte Käfige, die sie mitten im Raum auf den Boden stellten.

 

Unruhig blickten Tony und Ziva auf die unbekannte Gefahr, die sich vermutlich in diesen Käfigen befand. Es war kein Geräusch zu hören und doch wirkten die relativ kleinen Behältnisse bedrohlich.

 

„Kettet seinen linken Arm auch an die Wand“, befahl Rebekka in die allgemeine Stille hinein.

 

Unwillkürlich versteifte sich Tony und sah auf seine linke Hand. Jede kleinste Bewegung verursachte ihm scheußliche Schmerzen und der Gedanke daran, dass sie seinen Arm packen und an die Mauer fesseln würden, trieb ihm den Angstschweiß aus den Poren.

 

„Lasst ihn in Ruhe, ihr verdammten Mistkerle!“, schrie Ziva Thomas und Aaron entgegen, die sich in Richtung Tony in Bewegung gesetzt hatten und zerrte an ihren Fesseln. Doch genauso wenig, wie die Fesseln nachgaben, ließen sich die beiden Israelis durch ihr Protestgeschrei von ihrem Vorhaben abbringen.  

Der Tod seines Freundes rumorte noch heftig in Aaron und irgendwo suchte er ein Ventil, seine Wut abzulassen – und dieses Ventil fand er darin, Tony weh zu tun. Grob packte er dessen gebrochenen Arm, wobei der ein übel knirschendes Geräusch von sich gab, und drehte ihn nach hinten an die Wand. Tony wollte gar keinen Widerstand leisten und hatte den Arm mehr oder weniger selbst nach hinten gelegt, doch Aaron wollte ihm Schmerzen zufügen. Der grünäugige Italiener hatte schon vorher die Zähne zusammengebissen, weil er wusste, was auf ihn zukam, doch es half nichts. Wie ein Feuerstoß jagte der Schmerz durch seinen Körper bis ins Gehirn und ein dumpfer Schrei verklang zwischen seinen zusammengepressten Lippen. Als Thomas Tony's Handgelenk rücksichtslos in die Stahlfessel drückte und dabei völlig unnötigerweise nochmals den ganzen Arm verdrehte, zuckte dessen Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengepressten Augen zurück und schlug hart gegen die Mauer. Tony´s Atem kam schnell und ruckartig, so als ob er gerade einen 200-Meter-Sprint hinter sich hätte und sein Herz trommelte ein Stakkato in seiner Brust, als würde es im nächsten Augenblick zerspringen.

 

Nur wenige Meter entfernt musste Ziva mit ansehen, wie ihm seine Peiniger wieder höllische Schmerzen zufügten. Sie war totenblass und ihre Zähne mahlten in stummer Verzweiflung aufeinander. Am liebsten hätte sie geschrien und sie hätte sogar gebettelt – für ihn - doch sie wusste, es wäre sinnlos. Wie lange würde er das noch durchhalten? Hilflos beobachtete sie ihn, wie er seinen Kampf gegen den Schmerz focht und flehte innerlich um Kraft für ihn.

 

In diesem Augenblick trat Rebekka wieder ins Zentrum des Geschehens. Bedächtig war sie zu den Käfigen gegangen - und dann zog sie langsam die Abdeckungen weg! Ziva sog hörbar die Luft ein, als sie die Tiere in den Käfigen erblickte, die durch die plötzliche Helligkeit hektisch in ihren engen Gefängnissen hin und her hetzten und dabei fiepende Laute ausstießen.

Tony rang noch immer mit geschlossenen Augen gegen die Schmerzen, als er diese ungewöhnlichen Geräusche vernahm. Langsam blickte er in Richtung der Käfige und riss im selben Moment entsetzt die Augen auf. Ein Schauer jagte über seinen Körper und er fühlte, wie ihn augenblicklich von Kopf bis Fuß ein nicht zu kontrollierendes Zittern erfasste. In den Käfigen saßen - Ratten! Ausgesprochen große Wanderratten, mit diesen widerlichen, niederträchtig dreinblickenden Knopfaugen und diesem fürchterlichen langen, glatten Schwanz! Gott, er hasste Ratten! Mehr als jedes andere Tier! Woher wusste sie das? Panisch wanderte sein gehetzter Blick zu Ziva, die genau wie Rebekka bemerkt hatte, wie er auf die Tiere reagierte.

 

„Wie ich sehe, habe ich mit meiner Überraschung ins Schwarze getroffen“, stellte Rebekka zufrieden fest. „Und ich muss dazu sagen, dass sie ausgesprochen hungrig sind. Sie haben schon tagelang nichts zu fressen gekriegt!“ Geschmeidig bückte sie sich, um den ersten Käfig zu öffnen.

 

„Nein! – Bitte!“ Kopfschüttelnd sah Tony wie hypnotisiert zu den Ratten. Alles, nur das nicht! Sein Körper krampfte sich zusammen und er zitterte wie Espenlaub. Verdammt, wenn ihn jetzt schon eine Panikattacke überrollte, was sollte dann erst werden, wenn die Hexe die ekelhaften Viecher freiließ? Er zwang sich dazu, wegzusehen und suchte Ziva's Blick.

 

Sie hatte schon die ganze Zeit versucht, ihn dazu zu bringen, sich auf sie zu konzentrieren und als er nun endlich zu ihr sah, begann sie, beruhigend auf ihn einzureden: „Tony, du musst dich beruhigen, hörst du! Es sind nur Tiere, nichts weiter. Kein Grund zur Panik. – Nein! Sieh mich an!“, herrschte sie ihn an, als sein Blick wie ferngesteuert wieder zu den Käfigen wandern wollte. „Bist du etwa ein Baby, das sich vor Krabbeltieren fürchtet? Du wirst dich jetzt zusammenreißen, verstehst du!“ Als er immer noch nicht auf sie reagierte, schrie sie in ihrer Verzweiflung laut und unbeherrscht: „Hast du mich verstanden, Soldat?“.

 

Dieser Satz riss Tony aus seiner Lethargie: „Ziva, das eben …“, begann er stockend. „Das war fast wie in Terminator I. Linda Hamilton sagt so was ähnliches zu Michael Biehn … aber bedauerlicherweise weißt du ja, wie der Film endet.“

 

„Tony ...“ - Mehr konnte Ziva im Moment nicht sagen, ein dicker Kloß saß in ihrem Hals.

 

„Wie rührend!“, meldete sich Rebekka zu Wort, die nach Tony´s Aufschrei in gebückter Haltung abgewartet und ihn beobachtet hatte. „Genau so habe ich mir das vorgestellt. Und jetzt enttäuscht mich nicht. Ich hoffe, der Rest wird genauso gut!“ Damit öffnete sie schnell hintereinander die Rattenkäfige.

 

Kapitel 22

14.05 Uhr Washingtoner Zeit – Im Flugzeug

 

Unwirsch machte Eli David der Stewardess durch eine barsche Handbewegung klar, dass er im Augenblick nicht gestört werden wollte. Wortlos verschwand die junge Frau und Eli konzentrierte sich wieder auf das Foto in seiner Hand. Zum wiederholten Male blickte er nun schon in das schöne Gesicht seiner Tochter. Eine ziemlich umfangreiche Akte lag geöffnet auf dem Klapptischchen vor ihm, aber ganz untypisch für ihn konnte er sich nicht recht darauf konzentrieren. Immer wieder ruhte sein Blick auf Zivas Gesicht – starrte er auf ihre großen dunklen Augen, in denen er immer einen leisen Vorwurf zu sehen glaubte. Einen Vorwurf, den er lange Jahre einfach rigoros ignoriert und beiseite gewischt hatte. Doch jetzt, seit Gibbs ihn angerufen hatte und ihnen beiden klar geworden war, dass sich neben DiNozzo nun wohl auch seine Tochter in der Gewalt der Rivkin-Geschwister befand, hatte sich diese unerklärliche Angst in seinem Inneren festgesetzt. Das Gefühl hatte sich urplötzlich wie eine Eisenklammer um sein Herz gelegt. Er hätte nie geglaubt, dass er einmal so empfinden würde, doch momentan plagte ihn einfach nur eine geradezu verzweifelte Angst um sein letztes Kind. Es wunderte ihn, dass er so reagiert hatte, wie er es getan hatte. Er kannte sich ja kaum wieder. Hätte ihm vor einer Woche jemand prophezeit, dass er nur aufgrund des Anrufes eines amerikanischen Agenten einfach alles stehen und liegen ließ… er hätte ihn einen Lügner geschimpft – und doch saß er jetzt hier im Flugzeug. Noch einmal führte er sich vor Augen, wie er reagiert hatte, als er die Nachricht von Ziva´s Chef, diesem Gibbs, dem seine Tochter offenbar näher stand als ihm, erhalten hatte…

 

************

 

Eli hatte kaum das Gespräch mit dem NCIS-Chefermittler beendet, als er auch schon am Flughafen angerufen und sich nach der nächsten Maschine, die nach Washington flog, erkundigt hatte. Die Angestellte, die ihm ein wenig hochnäsig verkündet hatte, dass die Maschine schon in 31 Minuten starten würde und es keine Möglichkeit mehr für ihn gäbe, mit zufliegen, hatte ihr persönliches Waterloo erlebt. Eli David hatte nicht einmal seine Stimme erhoben, als er ihr mit tödlicher Gleichmütigkeit klargemacht hatte, mit wem sie gerade sprach und dass sie sich schon am nächsten Morgen in einer Militäreinheit in vorderster Front wiederfinden würde, wenn Sie ihm nicht augenblicklich einen Platz reservieren und die Maschine so lange aufhalten würde, bis er an Bord gegangen wäre.

 

Der stellvertretende Direktor des Mossad hatte sich einen kleinen Reisekoffer gegriffen, der rund um die Uhr fertig gepackt bereitstand, öffnete ihn, kontrollierte aus alter Gewohnheit noch einmal den Inhalt auf seine Vollständigkeit, klappte ihn mit einem lauten Platschen wieder zu und machte sich im Laufschritt zu seinem Wagen auf. In halsbrecherischem Tempo jagte er Richtung Flughafen und an diesem Tag hätte er wohl sogar Ziva's Rekord gebrochen. Von unterwegs aus rief er noch seinen langjährigen Mitarbeiter Amit Hadar an, einen seiner wenigen Vertrauten beim Mossad.

 

„Amit?! - Eli hier. Hör zu, ich weiß, es kommt etwas plötzlich, aber du musst für ein paar Tage die Leitung der Abteilung übernehmen!“

 

„Wieso das? Was ist los? Wo bist du?“, entgegnete Hadar verwundert.

 

„Auf dem Weg zum Flughafen. Ich muss für ein paar Tage weg! Weshalb, ist meine Sache!“, herrschte Eli seinen Freund grob an. Seine Nerven lagen blank. „Es geht um einige unserer Agenten, mehr musst du nicht wissen“, ruderte er gleich darauf zurück, denn er wollte, dass Hadar noch etwas für ihn tat.

 

„Gibt es Schwierigkeiten?“, fragte Hadar.

 

„Nein, keine Schwierigkeiten. Mach dir keine Sorgen. Aber du könntest etwas für mich erledigen.“

 

„Du bittest mich um einen Gefallen?“ Man hörte Hadar an, wie überrascht er war. „Worum geht es?“

 

„Um einen ehemaligen Agentenanwärter. Aaron Rosen. Er hat die Ausbildung nicht beendet. Finde für mich heraus, was er nach seiner Kündigung gemacht hat.“

 

„Warum ist das so wichtig für dich?“

 

„Das ist nicht von Belang. Du weißt, wie du mich erreichen kannst. Gegen 02.00 Uhr morgens unserer Zeit müsste ich, wenn nichts dazwischen kommt, wieder am Boden sein. Kann ich mich auf dich verlassen?“

 

„Konntest du das nicht immer?“

 

„Entschuldige. Ich melde mich bei dir. Solange hat du das Sagen!“ Ohne eine weitere Antwort seines langjährigen Weggefährten abzuwarten, unterbrach Eli das Gespräch und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr, was auch dringend notwendig war, um nicht doch noch in einen Unfall verwickelt zu werden.

 

Etwa fünf Minuten vor der regulären Abflugzeit der El-Al-Maschine erreicht er den Flughafen. Er ließ seinen Wagen direkt vor der Abflughalle stehen, zeigte einem Wachmann seine Identifikation, drückte ihm den Schlüssel in die Hand und befahl ihm, das Auto zu parken und den Schlüssel für ihn zu hinterlegen. Dann ließ er den verdutzten Mann stehen und lief Richtung Abfertigung. Selbstverständlich öffnete ihm sein Ausweis sämtliche Türen. Es hatte durchaus seine Vorteile, ein mächtiger Mann zu sein. Zwei dienstbeflissene Flughafenbeamte begleiteten ihn zum Flugzeug und nur drei Minuten, nachdem Eli Platz in der ersten Klasse genommen hatte, rollte der Flieger zur Startbahn.

 

**********

 

Jetzt kreisten seine Gedanken ruhelos um Ziva, die Rivkin's und darum, was er tun konnte, um seine Tochter zu retten. Wenn Rebekka und Thomas es wagten, Ziva zu entführen, mussten sie sich ihrer Sache sehr sicher sein und das beunruhigte ihn mehr als er bereit war zuzugeben. Gerade hatte er minutenlang aus dem kleinen Fenster geblickt und sich einen phänomenalen Sonnenuntergang angesehen, ohne ihn allerdings auch nur im Entferntesten würdigen zu können, bevor er sich wieder den Akten der Geschwister zuwandte. Eigentlich hatte er sie sich schon mehrmals durchgelesen, aber vielleicht hatte er ja irgendetwas übersehen.

 

Eine Viertelstunde später rieb er sich müde über die Augen, dann winkte er die Stewardess zu sich heran: „Bringen sie mir ein Glas Wasser und einen doppelten Arak!“ Er griff in die Tasche seines Jacketts, holte ein Röhrchen Tabletten heraus, schüttelte zwei in seine Hand und wartete auf das Wasser. Jetzt war keine Zeit zum Schlafen, das konnte er nachholen, wenn seine Tochter in Sicherheit war.

 

Wieder griff er nach der Akte von Rebekka Rivkin. Warum war ihm diese Frau nicht schon früher aufgefallen? Warum hatte er nie etwas von ihr gehört? Nach dem, was in dieser Akte stand, war Michael im Vergleich mit seiner Schwester ein Waisenknabe gewesen.

 

Er griff nach einem Foto, das die Rivkin-Geschwister als Jugendliche mit ihrem älteren Bruder Michael und einem weiteren Jungen zeigte. Der Junge schaute als einziger nicht in die Kamera, sondern war auf dem Foto nur im Profil zu sehen. Er hatte seinen Blick auf Rebekka gerichtet und es wirkte so, als himmelte er das Mädchen förmlich an. Nachdenklich legte Eli das Foto auf den Klapptisch und suchte in der Akte nach einem Hinweis, um wen es sich hier handelte, doch er fand nichts, die Identität des Jungen blieb ungeklärt.

 

„Wer bist du?“, murmelte Eli vor sich hin. Sein Instinkt sagte ihm, dass das Foto nicht unwichtig war. Konnte es sein, dass es sich bei diesem Jungen, der Rebekka Rivkin so verliebt anhimmelte, um Aaron Rosen handelte? Und wenn ja, was nutzte ihnen dieses Wissen?

 

 

14.28 – Im Keller bei Tony und Ziva

 

Kaum hatte Rebekka die Käfige geöffnet, waren die Ratten aus ihren Gefängnissen gestoben und hatten sich als erstes ein Versteck gesucht, das sie unter dem Wandregal fanden.

 

Rebekka, Thomas und Aaron hatten sich neben der Türe an die Wand gelehnt und warteten genau wie Tony und Ziva, aus unterschiedlichen Gründen gespannt, darauf, was die hungrigen Tiere in der nächsten Zeit tun würden.

 

Immer wieder hetzte Tony's Blick zwischen Ziva und dem Regal hin und her. Dabei versuchte er krampfhaft, seine Angst zu überwinden. Er musste es einfach schaffen, seine Angst zu überwinden! Er wollte sich auf gar keinen Fall die Blöße geben, hier vor dieser sadistischen Hexe zusammenzubrechen wie ein verdammtes Weichei. Die Quälereien und seine daraus resultieren Schmerzensschreie waren eins, aber Rebekka sollte ihn definitiv nicht heulen sehen. Eher würde er sich die Zunge abbeißen und vor ihren Augen verbluten, als dass er ihr diese Genugtuung gönnen würde. Wer weiß, vielleicht kamen die Ratten ja gar nicht unter dem Regal hervor und Rebekka verlor die Lust daran, darauf zu warten, was geschehen würde? Aber sicher würde sie die Viecher nicht wieder einfangen, was bedeutete, dass sie hier in diesem Raum blieben. Wieder blickte er in Ziva's Augen, die ständig versuchte, ihm ein wenig Zuversicht und Kraft zu geben. Dafür war er ihr so unendlich dankbar, auch wenn er nicht wusste, ob das ausreichte. Die Kälte, die noch vor wenigen Minuten unaufhaltsam in seine Knochen gekrochen war, war wie weggeblasen und hatte einem Gefühl Platz gemacht, als ob sich in seinen Adern nach und nach Fieber ausbreiten würde.  


Seine Hoffnung, die Ratten würden sich nicht unter dem Regal hervorwagen, wurde jedoch schon nach kurzer Zeit zerstört. Die Tiere waren hungrig und witterten das getrocknete Blut in dem Raum. Flink trippelten zwei der Tiere auf ihren kleinen Füßen ein, zwei Meter in den Raum hinein und schauten sich neugierig um. In diesem Augenblick schrie Ziva kurz „Ha“ und schon schossen sie wieder zurück in die sichere Deckung unter dem Regal. Doch schon bald darauf lugten sie erneut hervor. Zwar stoben sie immer wieder zurück, aber die Zeiträume, bis sie wieder hervorkamen, wurden immer kürzer. Nach dem sechsten oder siebten Mal zuckten sie zwar noch zusammen, aber sie hatten schon realisiert, dass ihnen von dem lauten Geräusch anscheinend keine Gefahr drohte. Mit ihren dunklen Knopfaugen blickten sie aufmerksam zu Ziva herüber, die sie als Quelle der lauten Geräusche lokalisiert hatten. Als ihnen dann klarwurde, dass Ziva an Ort und Stelle blieb und nicht auf sie zukam, pirschten sie sich schließlich langsam und vorsichtig immer näher an Tony heran. Dort rochen sie etwas, was die hungrigen Tiere magisch anzog – Tony's Blut.

 

Der hatte längst bemerkt, dass die Nager immer näher kamen. Er hörte zwar Ziva's Stimme, die ihm pausenlos Mut zusprach, aber er registrierte kaum noch, was sie sagte. Plötzlich waren seine Schmerzen nebensächlich, er spürte nur noch die Panik in seinem Inneren, die langsam aber sicher völlig Besitz von ihm ergriff. Wie sollte, nein, wie konnte er sich wehren, wenn die Tiere endgültig ihre letzte Scheu abgelegt hatten und … und … Tony wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Seine Hände waren an die Wand gekettet und wenn überhaupt konnte er sich nur mit den Beinen verteidigen. Nun gut, das war nicht viel, aber für den Moment musste das reichen.

 

Ruckartig schrak er zusammen, als das größte Tier, das fast so groß wie eine Katze war, plötzlich die letzten Meter überwand und wieselflink neben ihm auftauchte. Wie von Sinnen brüllte er die Ratte an und schlug gleichzeitig mit dem Bein nach ihr. So gelang es ihm, sie noch einmal verscheuchen. Das Tier rannte einige Meter weit weg, blieb aber schon vor dem Regal stehen und wandte sich um. Mit ihren schwarzen, glänzenden Augen blickte sie abwechselnd von Tony zu Ziva. Die ahnte schon, was das bedeutete: Ratten waren schlau und diese hatte anscheinend schon begriffen, dass ihre potentiellen Opfer nicht sonderlich wehrhaft waren. Zudem war sie hungrig. Und der Geruch des Blutes war einfach zu verlockend für sie. Vorsichtig und wachsam, aber doch zielstrebig setzte das Tier sich wieder in Richtung Tony in Bewegung, und diesmal folgten ihr auch die anderen.

 

Kapitel 23

 

15.48 Uhr – Das Problem mit Erez

 

Nachdem Aaron hinter Rebekka endlich den Keller mit diesen grässlichen Biestern hatte verlassen dürfen, war er an ihr vorbei geeilt und hatte sich aus dem Kühlschrank in der Küche ein Bier geholt, das er fast in einem Zug leerte. Schwer atmend wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete dann die Flasche in seiner leicht zitternden Hand. Das, was er kurz zuvor hautnah hatte miterleben müssen, hatte ihn deutlich mehr mitgenommen, als er vermutet hatte.

 

„Was ist los?“, fragte plötzlich Rebekka in seinem Rücken. „Schwache Nerven?“

 

Aaron spürte förmlich, wie sich ihr verächtlicher Blick zwischen seine Schulterblätter bohrte, aber er sagte nichts und krampfte seine Finger nur noch stärker um die Bierflasche. 'Lass mich doch endlich in Ruhe, du verdammte Hexe', dachte er restlos bedient, und verwendete dabei unwissend die Bezeichnung, die auch Tony für Rebekka benutzte. ‚Wie kann man nur so eiskalt sein?’ Er ging zum Fenster und blickte stumm hinaus auf den nahen Wald.

 

Inzwischen hatte auch Thomas die Küche betreten und setzte sich wortlos an den Tisch. Schwer stützte er seinen Kopf in die Handflächen und stierte gedankenverloren vor sich hin.

 

„Erez ist ein Problem! Wir müssen ihn so schnell wie möglich loswerden“, sagte in diesem Moment Rebekka. „Hat einer von euch Schwachmaten eine Idee, wie wir das am besten anstellen?“

 

„Problem?! Loswerden?!!“ Bei Rebekkas kalten Worten war sofort wieder der Widerstand in Aaron erwacht. Wütend fuhr er herum, kam zum Tisch und knallte die Flasche so fest auf die Tischplatte, dass der Flaschenboden herausbrach und ihm in die Hand schnitt. Er bemerkte es in seiner Wut nicht einmal. „Verdammt, er war unser Freund! Rebekka... er hätte alles für dich getan und du willst … ihn loswerden wie ein totes Stück Vieh?“

 

„Mein lieber Aaron. Dein Freund ist nun einmal tot.“ Sie legte besondere Betonung auf die Worte ‚dein Freund’. Er kann nicht hier im Haus bleiben! Ich weiß nicht, wie lange wir noch hier sein werden.“ Rebekka wurde nun auch laut. „Auf jeden Fall will ich vermeiden, dass er hier die Luft verpestet. Das fehlte noch, dass zufällig irgendjemand mit seinem verdammten Köter draußen vorbeigeht und auf den Geruch aufmerksam wird, den dein Freund hier über kurz oder lang verbreiten wird.“   -   Sie machte eine Pause und betrachtete ihre beiden Mitstreiter. Langsam aber sicher gingen die beiden ihr mächtig auf die Nerven. Zu dumm, dass sie sie noch brauchte. Schließlich verkündete sie entschlossen. „Ihr werdet ihn irgendwo im Wald vergraben! Punkt!“

 

Kaltblütig und emotionslos hatte die Israelin diese Worte ausgespuckt. Thomas sah seine Schwester an, als ob er sie vorher noch nie gesehen oder gekannt hätte. Wann hatte sie sich nur so entscheidend verändert? War sie früher auch schon derart rücksichtslos gewesen? Er war lange genug Agent, um sehr gut zu wissen, was für eine Art Mensch er hier vor sich hatte. Rebekka war eine Psychopatin allererster Güteklasse. Ein Mensch ohne jede Gefühle, der kein Mitleid kannte und immer und ausschließlich nur auf seinen Vorteil bedacht war. Psychopaten waren gemeinhin auch sehr gute Schauspieler – deshalb hatte man ihr wahrscheinlich früher nie etwas anmerken können. Sie hatte es einfach geschickt vor ihrer Umwelt verborgen. Allerdings hasste sie Anthony DiNozzo. Und Hass wiederum war ein sehr starkes Gefühl, das die Fassade um sich herum bröckeln ließ. Aber vielleicht, sehr vielleicht irrte er sich ja, was Rebekka anging. Gott, sie war seine Schwester. Sie hatten die gleichen Eltern, die gleiche Erziehung genossen. Er musste kurz an seinen Bruder denken. Michael. Auch der hatte sich durch ein besonderes Maß an Gefühlskälte ausgezeichnet. Konnte es denn wirklich sein, dass er so viel anders war, als seine Geschwister? Um seiner selbst Willen hoffte Thomas, dass er sich in Bezug auf Rebekka irrte. Es warf kein gutes Bild auf ihn, aus einer solchen Familie zu stammen.

 

„Was willst du?“, herrschte Rebekka ihren Bruder an, als sie seinen Blick bemerkte. „Wir haben die Sache begonnen und jetzt führen wir sie auch zu Ende, verstanden! Erez hat gewusst, dass es gefährlich werden könnte. Nun ist er tot und ich kann nichts daran ändern. Habe ich ihn vielleicht erschossen? Nein! Aber er ist nun mal tot! Jetzt kann es nur noch um Schadensbegrenzung gehen. Also: Ihr schafft ihn jetzt ins Auto und bringt ihn in den Wald an eine abgelegene Stelle. Dort begrabt ihr ihn. Grab ist Grab, ob im Wald oder auf einem Friedhof. Meinetwegen könnt ihr für ihn beten, wenn das euer Gewissen beruhigt. - Los jetzt! Wir sollten keine Zeit verlieren!“ Sie stand auf und bedachte die beiden Männer mit einem Blick, der keine Widerrede zuließ. Dann verließ´ sie hoch erhobenen Hauptes die Küche und Aaron und Thomas folgten ihr wie zwei geprügelte Hunde.

 

 

 

15.57 Uhr – Loyalität unter Freunden  

 

Nachdem Thomas und Aaron Erez´ Leiche in den Kofferraum geladen und mit ihrer makabren Fracht davongefahren waren, stand Rebekka noch für einen kurzen Moment in der Haustür und blickte dem davonfahrenden Wagen hinterher. Sie war wütend und sie war diese ständigen Diskussionen leid. Aarons´s Verhalten ging ihr mehr und mehr gegen den Strich.Schließlich kehrte sie zurück ins Haus und holte sich aus der Küche etwas zu trinken. Eine seltsame Unruhe hatte sie erfasst. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, es war eigentlich nur ein Gefühl. Sie war ursprünglich davon ausgegangen, dass ihr alter Freund und Verehrer immer noch genug für sie empfand, um ihre Anweisungen und Aktionen nicht in Frage zu stellen. Früher hatte er alles für sie getan, ohne jemals etwas zu hinterfragen. Das war einer der Gründe gewesen, dass sie Thomas´ Vorschlag zugestimmt hatte, als es darum ging, wer ihnen beiden bei der Vorbereitung und Durchführung ihres Plans behilflich sein sollte. Doch nun wurde es zunehmend schwieriger mit Aaron. Er ließ sie nicht nur spüren, dass er mit einigen Entscheidungen nicht einverstanden war, nein, er begann sogar aktiv, ihre Autorität zu untergraben und das konnte sie auf gar keinen Fall zulassen. Sie wusste tief in ihrem Unterbewusstsein, dass auch Thomas nicht immer mit allem konform ging, was sie von ihm verlangte, doch bislang hatte sie ihren Bruder noch voll unter Kontrolle. Allerdings war sie sich nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn Aaron weiter gegen sie aufbegehrte. Sie drehte die Wasserflasche auf und nahm einen tiefen Schluck Mit dem Handrücken wischte sie sich danach den Mund ab und stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank.

 

Warum ihr plötzlich durch den Kopf geisterte, sich in Aaron´s Zimmer einmal gründlich umzusehen, hätte sie nicht rational erklären können, aber irgendwie schien es ihr an der Zeit, etwas zu unternehmen. Sie musste unbedingt wissen, woran sie mit Aaron war. Auf gar keinen Fall wollte sie sich später selber vorwerfen müssen, dass sie nicht alles in ihrer Macht stehende getan hatte, damit der Plan funktionierte. Sie warf einen schnellen Blick auf die Wanduhr über der Küchentür. Thomas und Aaron würden noch eine ganze Weile unterwegs sein – sie hatte also genügend Zeit. Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, sich noch ein wenig mit DiNozzo zu vergnügen, doch das musste jetzt warten. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Zu ergründen, wie loyal Aaron tatsächlich noch war, ging jetzt eindeutig vor.

 

Rebekka verließ die Küche und ging den Flur entlang, Vor der Tür zu Aaron´s Zimmer blieb sie schließlich stehen. Sie zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie die Klinke herunterdrückte. Die Tür war offen, sehr gut. Aaron hatte nicht abgeschlossen. Glück gehabt! Jetzt hielt sie nichts mehr zurück. Entschlossen betrat sie das Zimmer ihres ehemaligen Liebhabers und schaute sich um. Angesichts der fast peniblen Ordnung in dem Raum verzog sie missbilligend ihr hübsches Gesicht. Gott, Aaron war schon früher sehr ordentlich gewesen und so wie es hier aussah, hatte er diese Gewohnheit noch kultiviert. Im Nachhinein wusste sie gar nicht mehr, was sie seinerzeit an ihm gefunden hatte. Sicher, er hatte sich des Öfteren als nützlich erwiesen, zum Beispiel, wenn es um die öden Prüfungen gegangen war, die leider auch beim Mossad abgelegt werden mussten, wenn man dort Agent werden wollte, aber im Grunde genommen, war er schon immer langweilig gewesen. Nützlich ja! Aber langweilig! In den letzten Jahren hatte er offenbar zu allem Überfluss auch noch sein Gewissen wieder entdeckt… Nun, sollte das tatsächlich der Fall sein, würde sie es herausfinden und auf der Hut sein.

 

Sie zog Schubladen heraus und stöberte in Aaron´s Unterwäsche und Socken. Mit spitzen Fingern hob sie vorsichtig verschiedene Stapel an, doch außer der Kleidung fand sich nichts in den Schubladen. Auch in dem kleinen Schreibtisch entdeckte sie nichts, was für sie interessant war. Eigentlich wusste sie gar nicht, was sie überhaupt suchte. Es war nur dieses verdammte Gefühl … Oder sollte sie sich tatsächlich geirrt haben? Sie drehte sich um und wandte sich dem Kleiderschrank zu, öffnete die Türen und rümpfte die Nase. Auch hier hing jedes Kleidungsstück ordentlich in Reih und Glied. Links befanden sich die Fächer, die mit Pullovern, T-Shirts und Sweat-Shirts bestückt waren. Farblich sortiert – fast hätte Rebekka laut aufgelacht. Was für eine Krämerseele! Sie rückte die Stapel ein wenig hin und her, achtete jedoch genau darauf, dass sie alles wieder so hinterließ, wie sie es vorgefunden hatte.

 

Mann, sie hätte doch in den Keller zu diesem verdammten Italiener gehen sollen. Das wäre mit Sicherheit lustiger gewesen, als hier einem langweiligen Buchhalter hinterher zu spionieren. Plötzlich jedoch, beim untersten Fach, stutzte Rebekka, als sie den Kleidungsstapel verrückte. Da lugte eindeutig etwas hervor, dass eigentlich in einem Kleiderschrank nichts zu suchen hatte. Vorsichtig hob sie den Stapel an und fand darunter eine dünne Mappe. Neugierig zog sie sie hervor und schlug den Deckel auf. Es befanden sich ein paar Schriftstücke darin und zwei kleinere Umschläge. In dem einen Kuvert befanden sich in großen Scheinen mindestens 2.000 Dollar, in dem anderen …ein Ausweis. Als Rebekka ihn aufklappte, sog sie hörbar die Luft ein. Der Ausweis gehörte einem Alan Porter, das Gesicht, das sie jedoch von dem Foto her anblickte, war eindeutig das von Aaron Rosen. 'Was zum Teufel…?' Rebekka blätterte die weiteren Dokumente durch. Es handelte sich um einige Firmen-Briefbögen, für die Aaron anscheinend gearbeitet hatte, einen Kaufvertrag für ein Auto … und um ein mehrseitiges Schriftstück, auf dessen erster Seite in dicken schwarzen Lettern prangte: Mietvertrag! Was sollte das denn? Wieso versteckte Aaron hier einen Mietvertrag? Thomas und sie wussten doch, dass er noch die Wohnung in South Kensington hatte. Wie war das noch? Colchester Nr. 109, nein, Nr. 107. Also, warum diese Geheimniskrämerei? Rebekka klappte die erste Seite um und ihre Augen weiteten sich. Der Mietvertrag bezog sich auf ein kleines Apartment in East Riverdale, Sheridan Street 74 und der Mieter hieß Alan Porter. Rebekka blätterte weiter. Der Vertrag war vor rund drei Monaten abgeschlossen worden. Sie ließ das Papier sinken und dachte nach. Hatte Aaron tatsächlich den Mumm, sie zu hintergehen? Brachte er das fertig? Wenn Aaron nicht nur Alex, sondern auch Alan war, dann sah es verdächtig danach aus, als wolle er sich absichern. Sich womöglich sogar eine Hintertür offenhalten. Doch wozu? Warum hatte er Thomas und sie nicht eingeweiht? Die Frage war einfach zu beantworten: Damit er sich im Notfall, wenn es brenzlig für sie wurde, alleine absetzen konnte.

 

Sorgfältig auf die richtige Reihenfolge achtend legte Rebekka den Vertrag und die anderen Dokumente wieder in die Mappe zurück und schob diese vorsichtig zurück unter die Kleidung. Ein letzter Kontrollblick, bevor sie die Schranktüren wieder schloss und das Zimmer verließ. Nur mühsam gelang es ihr, ihre Wut über Aaron´s Verrat zu zügeln. Ganz offensichtlich hatte sie ihn unterschätzt – das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Bislang hatte sie sowohl Gegner, als auch Mitstreiter immer sehr gut einschätzen können. Dass sie sich ausgerechnet bei Rosen geirrt hatte, ärgerte sie umso mehr. Wie sollte sie sich jetzt ihm gegenüber verhalten? Nachdem Rebekka über diese Frage nachgedacht hatten, kam sie zu dem Schluss, sich vorläufig nichts anmerken zu lassen und auch Thomas nicht einzuweihen. Aber sie würde auf der Hut sein, und Aaron sehr genau im Auge behalten… Wenn sie auch nur den Hauch eines Verdachts bekäme, dass er ein falsches Spiel mit ihnen trieb, war er ein toter Mann.

 

 

16.07 Uhr – Ein Grab im Wald

 

Wortlos fuhren die beiden Israelis einen holprigen Waldweg entlang. Sie hatten Erez in eine Decke gehüllt und in den Kofferraum gelegt. „Sieh mal, da drüben.“ Aaron deutete plötzlich auf eine Stelle ein Stück seitlich vor Ihnen. Abseits der Straße ragte ein großer Laubbaum inmitten der vielen Nadelbäume hoch in den Himmel. „Wie wär's damit?“ Fragend blickte er Thomas an, der mit versteinerter Miene das Lenkrad umklammert hielt. Der nickte knapp und hielt kurz darauf an.

 

Nachdem die beiden ausgestiegen waren, blickten sie sich vergewissernd, ob auch niemand in der Nähe war, um. Allerdings war dieser Bereich des Waldes normalerweise völlig einsam. Die Lage schien ihnen ideal. Dichtes Gebüsch säumte den Waldweg und würde ihn in absehbarer Zeit unpassierbar machen. Sie schlugen sich durch das jetzt schon unwegsame Gestrüpp, bis sich nach einigen Minuten eine kleine Lichtung auftat. Sie traten unter den mächtigen Baum, den Aaron gemeint hatte und sahen sich um. Zwischen den großen Wurzeln, die das Erdreich aufgeworfen hatte, befand sich bereits eine kleine Grube, die wohl irgendwann ein Tier gegraben hatte. Vermutlich hatten sie beide den gleichen Gedanken, als sie sich flüchtig ansahen.

 

„Scheint mir der richtige Platz zu sein“, brachte Aaron schließlich heiser hervor. „Jedenfalls nicht schlechter als anderswo. Was meinst du?“

 

Zustimmend nickte Thomas und gleich darauf holten sie zwei Schaufeln und begannen schweigend damit, das Loch tiefer auszuheben. Verbissen gruben sie und beide bemühten sich, nicht daran zu denken, dass dies das Grab ihres Freundes werden sollte.

 

Sie hatten schon einige Zeit gearbeitet, als sie plötzlich wie auf Kommando stutzten und aufblickten. „Was war das?“, fragte Thomas und schaute sich hastig um, doch es war nichts zu sehen. „War das Hundegebell?“

 

„Keine Ahnung! Könnte sein“, antwortete Aaron angespannt. „Los, wir holen Erez. Das Loch ist tief genug.“ Damit machte er sich auch schon auf den Weg zum Wagen. Thomas schaute sich noch einmal um und folgte ihm dann. Mühsam trugen sie die Leiche von Erez zu dem Baum und legten sie schwer atmend in die Grube. Beide Männer schwitzten inzwischen stark, trotz der kühlen Temperaturen. Schließlich standen sie am Rand der Grube und blickten mit fassungslosen Gesichtern hinein, jeder für sich dankbar, dass dies nicht sein Grab werden würde.

 

„Könnte tiefer sein“, stellte Aaron mit einem Seitenblick auf Thomas fest, hoffte aber gleichzeitig, dass dieser ihm widersprechen würde, denn der Schnitt an seiner Hand, den er vor der Abfahrt nur notdürftig verbunden hatte, klopfte nach dem anstrengenden Schaufeln mittlerweile heftig.

 

„Es wird schon gehen“, antwortete Thomas zu Aarons Erleichterung. Er bückte sich, um Erez´ Beine ein wenig anzuwinkeln. Das war gar nicht so einfach und er musste schon fest zupacken, um das Ergebnis zu bekommen, dass er sich wünschte. Die Leichenstarre hatte zwar noch nicht begonnen, aber trotzdem knackte es ein-, zweimal hässlich, bis Erez endlich so lag, dass er mit allen Gliedmaßen in die Kuhle passte und nichts mehr über den Rand hinausragte. Ein heftiger Schauer schüttelte Thomas und er hoffte, dass Aaron es nicht bemerkt hatte. „Komm“, sagte er äußerlich ruhig und gelassen. „Lass es uns beenden. Mir ist kalt.“

 

Beide Männer griffen wieder zu ihren Schaufeln und bedeckten ihren Freund mit der zuvor ausgehobenen Erde und ein paar großen Steinen, die sie in der Nähe gefunden hatten. Als sie fertig waren, häuften sie noch einen Berg Laub auf das Grab und blieben einige Schritte entfernt stehen.

 

„Wirkt friedlich.“ Beklommen starrte Aaron auf die letzte Ruhestätte seines Freundes.

 

„Ja.“ Mehr brachte Thomas auch nicht hervor. Ein paar Minuten hingen sie still ihren Erinnerungen nach, dann straffte sich Rebekkas Bruder: „Wir müssen los. Komm!“ Damit drehte er sich um und machte sich auf den Weg zurück zum Wagen. Aaron folgte ihm wortlos.

 

Das Hundegebell, das kurz darauf schon etwas näher erklang, hörten sie nicht mehr. Es wurde vom Motorengeräusch ihres Wagens verschluckt.


Kapitel 24

16.53 Uhr - Hauptquartier

 

Ducky trat mit einem Tablett Kaffeebecher aus dem Aufzug. Vor einer Viertelstunde hatte er das dringende Bedürfnis verspürt, das Büro zu verlassen, denn dort wurde die Stimmung zusehends gedrückter. Seit mehreren Stunden saßen sie jetzt jeder vor einem eigenen PC und sichteten das Material aus dem Tysons Corner Center, wobei die Gesichter immer länger wurden. Abby hatte sich zunächst noch Ziva´s Wagen vorgenommen, doch außer verschiedenen Spuren, die eindeutig der Agentin zuzuordnen waren, hatte sie dort nichts finden können. Kein Hinweis darauf, dass eine weitere Person im Wagen gesessen hatte – außer Tony – und kein weiterer versteckter Hinweis von Ziva, der ihre Beweggründe erklärte oder sonst irgendwelche Rückschlüsse zuließ. Auch die Untersuchung von Ziva´s Handy hatte sie keinen Schritt weitergebracht. Der letzte Anruf, den die Israelin angenommen hatte, war offenbar von einem Prepaid-Handy gekommen, das genau wie das von Alex Portsmith nicht zu orten war. Es war wie verhext: Jedes Mal, wenn sie dachten, sie hätten endlich etwas in der Hand, stellte sich die vermeintliche Spur als Trugschluss heraus. Mittlerweile waren sie alle sehr frustriert und das ließ den Stimmungspegel der kleinen Gruppe tief in den Keller sinken.

 

Der Pathologe hatte Abby insofern Arbeit abgenommen, als dass er verschiedene DNA-Spuren aus Ziva´s Wagen für sie analysiert hatte, doch mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Also hatte er beschlossen, dass Kaffee holen eine gute Idee sei. Insbesondere, wo dem übriggebliebenen Team langsam auch mehr und mehr die Müdigkeit zu schaffen machte. Die Arbeit, der sie im Moment nachgehen mussten, wirkte zusätzlich einschläfernd. Stundenlang auf Bildschirme zu starren und nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen, frustrierte nicht nur, nein, es ließ auch die Augen tränen und das Hirn träge werden.

 

„Hier, Leute.“ Er stellte vor jedem Anwesenden einen Becher ab und wehrte die Dankbezeugungen ab. Abby und Gibbs hatten gleich danach gegriffen und jeder einen großen Schluck genommen. „Kann ich vielleicht sonst noch was für euch tun? Ich komme mir zurzeit ein wenig nutzlos vor.“

 

„Das bist du nicht, Ducky“, sagte Gibbs. „Danke für den Kaffee.“

 

„Etwas zu essen vielleicht? Ich hole euch gerne was. Ihr müsst doch was essen.“

 

Einhelliges Kopfschütteln war die Antwort.

 

„Ihr müsst bei Kräften bleiben. Wer weiß, wie lange die Suche noch dauert.“

 

„Ducky, du bist nicht meine Mutter“, mahnte Gibbs und sprach damit den beiden anderen aus der Seele. „Wir haben einfach keinen…“

 

„Ich glaub´, ich hab´ was“, kam es da plötzlich von McGee.

 

„Was?“, kreischte Abby. „Zeig her!“ Sie sprang auf und tippelte eiligst zu Tims Tisch.

 

„McGee, auf den Bildschirm damit“, befahl Gibbs.

 

Tim tippte ein paar kurze Befehle in seine Tastatur und schon erschien ein Bild auf dem großen Bildschirm, den alle einsehen konnten. Die Aufnahme zeigte die Tiefgarage der Mall. Alle starrten wie gebannt auf den Schirm, doch noch wusste niemand, was McGee meinte gesehen zu haben.

 

„Seht doch, dort hinten in der Ecke“, rief Tim und wies aufgeregt auf den Bildschirm. „Das ist doch der Wagen vom Flughafen, oder? Ich meine der, in dem dieser Rosen die Rivkin´s abgeholt hat.“

 

„Hmm“, meinte Gibbs und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. „Sieht ganz so aus.“ Vom stundenlangen gucken brannten seine Augen trotz Brille und doch war er sich sicher, dass Tim Recht hatte. Das war der Wagen, mit dem die Rivkin-Geschwister vom Flughafen abgeholt worden waren. „Kannst du den Ausschnitt vergrößern, Tim? Ich will einen Blick auf das Kennzeichen werfen .“

 

McGee tippte auf seiner Tastatur herum und es gelang ihm tatsächlich den Bildausschnitt so zu vergrößern, dass das Kennzeichen lesbar wurde.

 

„Ja!“ Gibbs ballte unwillkürlich eine Hand zur Faust. „Seht euch das an. Sie haben die geklauten Kennzeichen abgenommen. Wurde ihnen wohl zu heiß. Jetzt können wir nur hoffen, dass das die echten Kennzeichen sind. Abbs, du weißt, was du zu tun hast.“

 

Abby kritzelte das Kennzeichen auf ein Blatt Papier. „Bin schon unterwegs, Boss“, rief sie dann und machte sich auf den Weg zu ihrem Labor, um eines ihrer wunderbaren Suchprogramme zu starten.

 

„Okay“, meinte Gibbs nun wieder an McGee gerichtet. „Lass das Band weiterlaufen!“

 

Tim tat wie ihm geheißen und alle starrten wieder wie gebannt auf den Bildschirm. Im ersten Moment wirkte es so, als ob das Band immer noch auf Standbild lief, denn es tat sich einfach gar nichts. Dann kam ein Wagen, parkte und die Insassen verschwanden kurz darauf im Fahrstuhl. Wieder tat sich eine Weile lang nichts. Plötzlich jedoch öffnete sich die Fahrstuhltür und Ziva erschien mit Rebekka Rivkin im Schlepptau. Zeitgleich trat aus dem Treppenhaus ein junger Mann, der ebenfalls zu dem Wagen ging und daneben stehenblieb.

Gibbs ballte spontan wieder die Fäuste. Hilflos musste das verbliebene Team nun mit ansehen, wie Ziva die Handschellen angelegt wurden und wie man sie mit dem Sack über dem Kopf schließlich auf die Rückbank des Wagens verfrachtete. Ziva leistete keinerlei Gegenwehr und in diesem Augenblick wurde die Vermutung zur traurigen Gewissheit! Ziva war den Entführern nicht in die Hände gefallen – nein, sie war freiwillig in die Falle gegangen.

 

Wahrscheinlich war ihre Hoffnung gewesen, dass einer vom Team ihre Nachricht rechtzeitig fand und sie so die Möglichkeit bekämen, dem Wagen zu folgen, um auf diese Weise endlich einen Weg zu Tony´s Gefängnis zu finden. Nun, der Plan war gründlich danebengegangen. Jetzt war auch sie eine Gefangene – genau wie Tony, und sie hatten immer noch keine Ahnung, wo sie suchen sollten. Der dunkle Wagen verließ das Parkhaus und damit verlor sich wieder einmal die Spur der Verbrecher.

 

Scheiße!

 

 

16.55 Uhr – Im Keller bei Tony und Ziva

 

Tony und Ziva waren allein in dem kalten Kellerraum. Vor über einer Stunde hatten Rebekka, Thomas und Aaron ihr Gefängnis verlassen, nachdem sie die Ratten erschossen hatten. Die Kadaver der toten Tiere lagen noch verteilt im Raum, genau dort, wo sie von den Kugeln der Israelis erwischt worden waren. Ihre Entführer hatten es nicht für nötig befunden, die kleinen Leichen zu entfernen. Die Ratten hatten ihren Teil des Plans erfüllt – jetzt waren sie tot und unwichtig. Es gab keine Veranlassung, sich weiter um sie zu kümmern. Ziva dachte mit Schaudern daran, was mit den Kadavern geschehen würde, wenn sie hier noch längere Zeit verbringen mussten.

 

Seit Tony vor wenigen Minuten aufgewacht war, starrte er wortlos an die gegenüberliegende Wand. Bisher hatte er auf Ziva's Rufe nicht reagiert. Sie machte sich große Sorgen um ihn, das Erlebte der letzten Stunde hatte ihm anscheinend schwer zugesetzt.

 

Mit Schaudern sah sie zum wiederholten Male auf die zahlreichen Bisswunden an Tony's Körper und auf seinen gebrochenen linken Arm, der unnatürlich verdreht war. Auf einer Seite konnte sie eine große Beule erkennen, was eindeutig darauf hinwies, dass der verschobene Knochen dagegen drückte.

 

Sie konnte das entsetzliche Bild einfach nicht aus ihrem Bewusstsein verbannen; als die Ratten endgültig die letzte Scheu abgelegt und Tony angriffen hatten. Das größte Tier überfiel ihn von der Seite und biss ihn in blitzschnell in die Brust. Gleichzeitig waren auch die anderen Tiere bei ihm und schlugen ihre kleinen, scharfen Zähne gierig in sein Fleisch.

 

Ziva's Schreie übertönten das entsetzte Stöhnen Tony's, als sie hilflos mit ansehen musste, wie er verzweifelt versuchte, die Ratten abzuwehren. Als fast am schlimmsten empfand sie jedoch das unbändige, ja, irre Lachen Rebekkas, die sich an den Qualen des Italieners unglaublich ergötzte. Thomas indes beobachtete wortlos das Geschehen, nur Aaron hatte sich inzwischen angewidert abgewandt - das Ganze ging eindeutig über sein Verständnis und wenn er gekonnt hätte, wäre er auf der Stelle verschwunden, aber um das zu tun, hatte er mittlerweile viel zu viel Angst vor Rebekka, die seiner Meinung nach dabei war, ihren Verstand zu verlieren. Doch das behielt er lieber für sich.  

 

Nach einem weiteren schmerzhaften Biss machte Tony eine ruckartige Bewegung, um das hungrige Tier abzuschütteln, das sich in seinem Arm festgebissen hatte. Der Rattenkörper an seinem Unterarm schleuderte hin und her und der dicke haarlose Schwanz machte leicht klatschende Geräusche, wenn er auf Tony´s Haut traf. Tony vergaß in diesem Moment völlig, dass es sein verletzter Arm war, mit dem er wild an seinen Fesseln riss. Er wollte nur diese Ratte loswerden – alles andere war zweitrangig. Plötzlich verdrehte er jedoch seinen gebrochenen Arm so stark, das der Knochen knirschend verrutschte. Das grässliche Geräusch war im ganzen Raum zu hören.

Der katastrophale Schmerz musste wie ein Blitz in sein Gehirn geschossen sein, denn sein Körper bäumte sich kurz auf und dann sackte er bewusstlos in sich zusammen. Unvermittelt herrschte eine fast beängstigende Stille in dem Raum, selbst Rebekka hatte abrupt aufgehört, zu lachen. Nur die knabbernden und schmatzenden Geräusche der Ratten, die nach wie vor eifrig an Tony's Körper nagten, waren noch zu hören gewesen.

 

Wie in Trance hatte Ziva dann die nächsten Minuten erlebt, als nach etwa einer halben Minute Rebekka eine Pistole zückte und eine der Ratten erschoss. Wie der Blitz stoben die restlichen Tiere auseinander, doch sie konnten ihrer Vernichtung nicht entgehen. Bald darauf war auch die letzte Ratte getötet. Völlig verwirrt starrte Ziva Rebekka an, sie konnte sich nicht erklären, was los war.

 

„Wenn er bewusstlos ist, merkt er ja nichts von dem ganzen Zauber. Außerdem will ICH ihn töten und das nicht von Ratten erledigen lassen, auch wenn es passen würde. Den Hauptteil der Show hat er ja mitgekriegt, das war's, was ich wollte.“ Mit dieser lapidaren Erklärung drehte sich die Israelin um und verließ den Raum - wortlos folgten ihr die beiden Männer.                                                                                                        

Kapitel 25

 

17.03 Uhr – NCIS Hauptquartier

 

Immer noch herrschte eine gespenstische Stille in dem großen Büro. Nachdem alle Anwesenden fassungslos auf dem Großbildschirm verfolgt hatten, wie der große dunkle Wagen mit Ziva das Parkhaus der Mall verlassen hatte, hatte McGee das Überwachungsband genau an der Stelle angehalten, als sich die Sicherheitsschranke hinter dem Auto schloss und dieses die kleine Erhöhung zur Straße hin hinauffuhr. Es wirkte fast so, als wollte er vermeiden, dass der Wagen aus ihrem Blickfeld und somit auch aus ihrer Kontrolle verschwand. Solange sie ihn noch sehen konnten, war Ziva auch in irgendeiner Art und Weise noch bei ihnen. Himmel, McGee mochte sich gar nicht vorstellen, was für große Hoffnungen Ziva in ihre Nachricht gesetzt hatte. Und sie hatten es versaut! Schlimmer noch, sie hatten sinnlose Diskussionen über Papierkörbe in Israel geführt, nicht ahnend, dass sie den Schlüssel zu Tony´s Entführern quasi schon in der Hand gehabt hatten. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen: Sie waren wieder mal beim Ausgangspunkt angelangt. Sie wussten zwar, wer Tony entführt hatte und auch warum, aber sie hatten immer noch keinen blassen Schimmer, wie sie an die Täter herankommen sollten.

 

Tim lehnte sich zutiefst enttäuscht zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Irgendwie lief dieses Mal alles falsch. Normalerweise fanden sie ein Opfer, es gab Spuren und sie konnten im Umfeld des Opfers ermitteln. So kamen sie dann im Regelfall auf das mögliche Motiv und konnten so den Täter eingrenzen. Sie konnten den Tatort untersuchen, Personen verhören und gegebenenfalls sogar für eine Weile festsetzen, wenn es nötig schien. Und jetzt? Jetzt hatten sie gar nichts! Ausgerechnet, wenn es um einen der ihren ging!

 

Tony´s Entführung hatte sich mit ziemlicher Sicherheit mitten auf einer belebten Straße abgespielt – unbeachtet von allen Passanten, derer sie im Nachhinein sowieso nicht mehr habhaft werden konnten, um sie zu befragen. Selbst wenn jemand etwas bemerkt haben sollte, wusste er es wahrscheinlich noch nicht einmal. Und bei ihrem einzigen Verdächtigen, Alex Portsmith, dem Mann, der den ominösen Anruf getätigt hatte, handelte es sich um eine Person, die seit mehr als 40 Jahren tot war. McGee dachte an das Führerscheinfoto, dass sie von Portsmith oder wie auch immer er hieß, hatten. Verflucht, der Mann war so unwahrscheinlich durchschnittlich, dass er vermutlich noch nicht einmal auffallen würde, wenn er sich direkt vor dem weißen Haus nackt ausziehen würde… Tim zuckte zusammen, als Gibbs unvermittelt mit der flachen Hand auf den Tisch klatschte.

 

„Kommt, Leute, es nützt den beiden nichts, wenn wir hier Trübsaal blasen. – Was ist? Haben wir inzwischen neue Informationen über diesen Portsmith?“

 

„Nein“, antwortete McGee deprimiert. „Es scheint so, als ob der Mann unsichtbar ist. Ich habe mit verschiedenen Firmen gesprochen, für die er als Buchhalter gearbeitet hat, aber niemand kann sich wirklich an den Mann erinnern. Anscheinend hat man ihm alle nötigen Informationen per Mail geschickt und er hat dann von zu Hause aus gearbeitet. Nach getaner Arbeit hat er seine Rechnungen geschickt, die prompt bezahlt wurden. Ich habe sein Bankkonto überprüft – absolut nichts Ungewöhnliches. Keine Geldeingänge, die nicht nachvollziehbar wären. Nichts! Er bezahlt pünktlich seine Rechnungen und ist ansonsten absolut unauffällig.“

 

„Verdammte Technik“, knurrte Gibbs. „Muss man sich denn heutzutage noch nicht einmal mehr persönlich vorstellen?“

 

„Doch schon“, räumte Tim ein. „Aber das war es dann auch. Der Mann hat jede Firma nur ein einziges Mal betreten - eben um sich vorzustellen. Danach liefen alle weiteren Kontakte und Aufträge per E-Mail. Aber selbst die Personalchefs mit denen ich gesprochen habe, konnten sich nur sehr vage über ihn äußern: Höfliches Auftreten, unaufdringliche Art, bescheiden – das waren die Attribute, mit denen sie Portsmith beschrieben haben. Nur dass er gute Arbeit geleistet hat, das haben mir alle bestätigt.“

 

„Na toll! Das hilft uns ja nun wirklich weiter!“ Gibbs hatte Mühe, sich zu beherrschen. Es musste doch etwas geben, was sie tun könnten.

 

In diesem Augenblick platzte Abby wieder herein. „Hey, Leute! Ich hab´ das Ergebnis von der Kennzeichensuche. Ihr kommt nie darauf, wem das Auto gehört“, rief sie triumphierend in den Raum hinein.

 

„Abbs, die Sache ist zu Ernst für ein lustiges Ratespiel“, rügte Gibbs.

 

„Oh, ja, natürlich hast du wieder mal Recht, Boss.“ Abby machte pflichtbewusst ein zerknirschtes Gesicht. „Also, das Fahrzeug ist angemeldet auf…“ Sie machte eine Kunstpause und McGee grub unbewusst seine Fingernägel in die Handinnenfläche.

„… Tadaaa: Mr. Alex Portsmith!“

 

„Was zum Teufel…“, entfuhr es Gibbs und er blickte verblüfft in die Runde.

 

„Genau, Boss“, setzte McGee hinzu. „Wie kommt Rosen an Portsmith´s Auto, um die Rivkin´s abzuholen?“ Er blickte Abby fragend an, die jedoch seiner Frage zuvorkam.

 

„Nein, McSherlock“, benutzte sie ungewollt eine von Tony´s Phrasen. „Das Fahrzeug war nicht als gestohlen gemeldet. Ich hab´s überprüft.“

 

„Okay“, fasste Gibbs zusammen. „Es wird immer klarer, dass unser lieber Buchhalter bis zum Hals in der Sache drinsteckt. Er hat diesem Israeli, Rosen, seinen Wagen geliehen, um die Rivkin´s abzuholen und von seinem Handy aus wurde Tony aus dem Haus gelockt. Hinzu kommen diese merkwürdigen Dinge, die wir in seiner Wohnung gefunden haben. Er hat die Identität eines Toten angenommen – mit Sicherheit nicht ohne Grund. Wenn wir diesen Mann finden, sind wir ein gutes Stück weiter. Darauf sollten wir uns jetzt konzentrieren. - Was ist los Abbs? Hast du noch was für uns?“

 

„Ähm, nein Boss, aber ich hätte da vielleicht `ne Idee.“

 

„Immer raus damit, ich bin für jeden konstruktiven Vorschlag dankbar.“

 

„Okay, passt auf: Ich habe mir gedacht, wenn die Täter Tony´s Entführung schon so akribisch von langer Hand vorbereitet haben, dann müssen sie doch auch einen Ort haben, wo sie ihn unauffällig versteckt halten können. Ich meine, nicht in so einem kleinen Apartment, wie es dieser Portsmith hier in DC hat. Irgendetwas, was außerhalb liegt. Einsam und abgelegen vielleicht. Ich meine, ich weiß ja nicht, was sie mit Tony vorhaben, aber…“ Sie stockte.

 

„Weiter Abbs, weiter“, drängte Gibbs.

 

„Na ja, es müsste natürlich etwas sein, wo sie sich sicher sein könnten, dass ungewöhnliche Geräusche nicht auffallen.“ Abby verzog schmerzlich das Gesicht bei der Vorstellung, was die Täter eventuell mit Tony anstellten. „Ich könnte einfach mal alle Immobilienverkäufe und Vermietungen der letzten neun Monate im südlichen Raum von Washington als Suchbefehl eingeben. In der Richtung, wo ich das Auto verloren habe und in Richtung Woodbridge, das war doch der Ort den die Rivkin´s im Flieger erwähnt hatten, nicht wahr?“

 

McGee nickte bestätigend.

 

„Genau!“ Auch Abby nickte so heftig, dass ihre dünnen Zöpfchen auf und ab wippten. „Im Grunde ist das ja ein und dieselbe Richtung. Gut, da wird wahrscheinlich `ne ganze Menge zusammen kommen, aber wer weiß, vielleicht landen wir ja so…“

 

Gibbs unterbrach die Goth: „Abbs, rede nicht lange rum. Tu es!“

 

 

17.05 Uhr – Bei Ziva und Tony im Keller


„Tony!“ Ziva wusste nicht, wie oft sie schon seinen Namen gerufen hatte, als er endlich auf sie reagierte. Langsam drehte er seinen Kopf zu ihr und blickte sie mit soviel Schmerz und Resignation an, dass sich ihr Herz krampfhaft zusammenzog. „Liebling! Tony! Bitte, du darfst nicht verzweifeln!“ Sie musste schwer schlucken, um die aufsteigenden Tränen in Schach zu halten. „Wir schaffen es, du musst nur daran glauben. Gibbs wird uns finden, genau, wie damals. Es wird alles wieder gut!“ Ihre Worte kamen ihr beinahe selbst wie Hohn vor. 'Es wird alles wieder gut', das klang so banal. Selbst wenn sie gerettet würden, konnte überhaupt wieder „alles gut“ werden? Tony's Psyche war schwer angeschlagen, er hatte eindeutig ein schweres Trauma erlitten. Wie würde er das verkraften?

 

„Bitte, Tony, sag doch etwas“, flehte Ziva ihn schon fast an. „Sprich mit mir!“ Doch die Worte, die sie dann als Antwort von ihm erhielt, verstärkten ihre Verzweiflung nur noch.

 

Tony´s ganzer Körper zitterte vor Kälte und Schmerzen, als er kaum hörbar flüsterte: „Ich kann nicht mehr.“  

 

 

17.24 Uhr – Im Hauptquartier  

 

Nachdem Abby sich in ihr Labor zurückgezogen hatte, um mit der Suche nach den Immobilienverkäufen der letzten Monate zu beginnen, waren Gibbs, McGee und Ducky alleine im Großraumbüro zurückgeblieben. Betretenes Schweigen hatte sich breitgemacht. McGee starrte immer mal wieder auf das Standbild des Autos, wie es das Parkhaus des TCC verließ, während er zum x-ten Mal die neuen Ergebnisse seiner Verkehrssuche kontrollierte, die ja ohne Unterbrechung weitergelaufen war. Gibbs kramte in irgendwelchen Unterlagen und Ducky…räumte auf. Er sammelte alle leeren Becher und Papiertüten ein und fütterte die Papierkörbe. Als er keinen Müll mehr fand, fing er an die verschiedenen Schreibtischutensilien ordentlich und akkurat auf den Tischen anzuordnen. Im Grunde traten sie auf der Stelle; alle beschäftigten sich nur mit irgendetwas und hofften auf Abby, obwohl diese ihnen gesagt hatte, dass es durchaus eine ganze Weile dauern könne, bis sie die ersten Ergebnisse bekam.

 

„Ducky“, stöhnte schließlich Gibbs genervt. „Könntest du damit aufhören, ja? Bitte!“

 

„Aber, ich …“ Ducky hielt inne und legte das, was er gerade in der Hand hatte, zurück auf Ziva´s Schreibtisch. Resigniert nickte er: „Schon gut, Jethro.“

 

Gibbs fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Die ganze Situation war wirklich zum Verzweifeln. In diesem Augenblick klingelte sein Telefon und binnen einer Sekunde meldete er sich. „Gibbs.“

 

„Fornell.“

 

Jethro's Körper straffte sich unwillkürlich. „Tobias! Haben Sie etwas für mich?“

 

„Könnte sein. Was die Namen angelangt, die Sie mir genannt haben, war nichts herauszubekommen. Aber ich habe eben einen Anruf der Polizei erhalten. Ein Leichenfund in einem Waldstück südlich von Washington. Männlich, schätzungsweise Mitte 30.“

 

„Eine Leiche? Südlich von Washington?“ Schreckliche Bilder flimmerten plötzlich vor Jethro´s innerem Auge.

 

„Sagte ich doch, oder?“

 

„Verdammt, Sie glauben doch nicht etwa…“ Gibbs stockte der Atem. Er konnte weder seinen Gedanken aussprechen, noch die anderen ansehen, die mit weit aufgerissenen Augen förmlich an seinen Lippen klebten.

 

„Oh Gott, nein! Tut mir Leid. Nein, es ist ganz sicher nicht DiNozzo.“

 

Der Teamleiter atmete erleichtert auf, dann knurrte er verärgert in den Hörer: „Himmel, warum sagen Sie das nicht gleich. - Warum wurde das FBI eingeschaltet? Kann die örtliche Polizei das nicht alleine regeln?“

 

„Die Sache war denen zu heiß. Der Mann hatte keine Papiere bei sich. Aber so wie es aussieht, handelt es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen Ausländer. Ich hab´ mal ein bisschen nachgehakt. Vielleicht Südeuropäer oder aus dem Nahen Osten.“ Fornell machte eine bedeutungsschwangere Pause. „Sie glauben, es könnte sich um einen Juden, einen Israeli handeln. Ein Etikett in seinem Jackett deutet wohl darauf hin. Die Polizei wollte keinen Ärger mit den Behörden, daher haben sie vorsichtshalber uns eingeschaltet. Na ja, und ich dachte, vielleicht könnte Officer David…“

 

„Kann sie nicht – sie ist verschwunden“, unterbrach Gibbs knapp.

 

„Was? Aber…“

 

„Ja, Sie haben richtig gehört. Und ihr Vater ist bereits auf dem Weg nach DC. Die Adresse Fornell? Wo treffen wir uns?“

 

Gibbs erhielt die gewünschte Auskunft und sprang auf. „McGee, los geht´s! Wir haben eine Leiche südlich von Washington.“ Er sprach absichtlich so, als hätte es die Schrecksekunde kurz zuvor gar nicht gegeben. Und als hätten sich die anderen nicht mindestens genauso erschrocken wie er. „Wahrscheinlich ein Israeli! Ducky, du kommst am besten gleich mit.“

 

Der Pathologe strahlte. Endlich gab es etwas für ihn zu tun. Eilig griff er nach seinem alten verbeulten Hut, während sich Tim das Telefon schnappte.

 

„Was zum Teufel hast du vor, McGee?“, schnauzte Gibbs.

 

„Ähm, Abby informieren?“, antwortete Tim verunsichert.

 

„Das kannst du von unterwegs aus tun. Los, komm in die Hufe!“

 

Kapitel 26

17.54 Uhr – In einem Wald südlich von Washington

 

Fornell erwartete die drei Männer schon am Straßenrand. „Kommen Sie, wir müssen ein Stück in den Wald hinein“, empfing er sie und ging voraus.

 

„Wissen Sie schon, was passiert ist?“, erkundigte sich Gibbs, während sie im Gänsemarsch hinter Fornell in das unwegsame Gelände stolperten. Es wurde bereits dunkel und schon in wenigen Minuten würde es vollends finster sein. Alle leuchteten den Weg vor sich mit starken Taschenlampen aus. In dem dichten Waldstück wirkte das unkontrollierte Aufflackern der Lichtkegel irgendwie gespenstisch. ‚Hoffentlich zertrampeln wir keine wichtigen Spuren’, dachte Gibbs bei sich, wohl wissend, dass sie darauf jetzt keine Rücksicht nehmen konnten. Sein Instinkt sagte ihm, dass die Leiche etwas mit der Entführung von Tony und dem Verschwinden von Ziva zu tun hatte. Er knirschte grimmig mit den Zähnen. Alles konzentrierte sich mehr und mehr auf die südliche Richtung von DC. Er glaubte nicht an Zufälle, schon gar nicht in einer solch geballten Form. Er hoffte nur stark, dass die Leiche ihnen etwas verriet. Wenn ja, würde Ducky es finden. Er war der Beste.

 

„Ein Jäger hat den Mann gefunden. Er war unterwegs, um ein paar Hasen zu schießen, als sein Hund plötzlich verrückt spielte und abhaute. In der Dämmerung hatte er Probleme, das Tier wiederzufinden und als er ihn dann endlich hatte, fand er diese Szene vor.“ Fornell betrat eine kleine Lichtung, die bereits weiträumig mit Flatterband abgesperrt war.

 

Eine Reihe von Leuten in Polizeiuniformen und einige Männer in den typischen, schlecht sitzenden Anzügen der FBI-Mitarbeiter liefen herum und taten ihre Arbeit. Spuren wurden gesichert und eingetütet und etwas abseits stellten zwei Männer einem dritten, an dessen Seite ein Irish Setter geduldig wartete, Fragen. Wirklich interessant aber war für Gibbs, McGee und Ducky die Stelle am Rande der Lichtung unter einem sehr großen alten Baum. Dort war das Herbstlaub beiseite geschoben und eine Art Grab freigelegt worden. Gibbs ging direkt darauf zu und blickte in die nicht allzu tiefe Öffnung hinein. Dort lag zusammen gekrümmt ein Mann. Ducky stieg bereits eilig in das Loch hinein und kniete neben dem Toten nieder.

 

„Der Hund muss die Leiche gewittert haben. Als sein Besitzer dazukam, hatte er schon angefangen zu graben“, berichtete Fornell weiter.

 

Gibbs nickte. „Verstehe. Cleveres Tier. – Ducky? Was siehst du?“

 

„Nun, Jethro, bei dieser Beleuchtung verständlicherweise nicht viel. Aber ich gebe den hiesigen Polizisten recht. Der Mann weist einige typische Charakteristika von Juden, auf jeden Fall aber von Bewohnern des Nahen Ostens auf. Es könnte daher durchaus ein Israeli sein. Ach ja, gestorben ist er übrigens an einer sehr hässlichen Schussverletzung. Ich weiß ja nicht, was vorher mit ihm passiert ist, aber diese Verletzung hätte ihn auf jeden Fall getötet. So wie ich das sehe, ist das noch gar nicht so lange her. Ich muss das natürlich erst prüfen, und dabei auch noch die Witterungsbedingungen, die Temperatur und die ganzen äußeren Umstände berücksichtigen, aber…“

 

„Ducky… Seit wann liegt er ungefähr hier?“, unterbrach Gibbs seinen alten Freund ungeduldig.

 

Ducky seufzte: „Natürlich willst du mal wieder gleich eine konkrete Aussage von mir haben. So einfach geht das aber nicht. Aber wenn ich schätzen sollte, würde ich sagen, der Tod ist vor ca. 3 – 4 Stunden eingetreten. Die Leichenstarre ist…“

 

„Das reicht mir“, befand Gibbs und wandte sich nun direkt an Fornell. „Tobias, ich will diese Leiche. Unbedingt! Ich weiß, sie steht mir nicht zu, aber ich hoffe, Sie stehen jetzt zu ihrem Wort und helfen mir.“

 

Tobias Fornell blickte seinen langjährigen Kontrahenten lange schweigend an. Dann drehte er sich ruckartig zu seinen Leuten um. „Stringer“, brüllte er in Richtung eines lang aufgeschossenen rothaarigen Mannes. Der Angesprochene drehte sich fragend um. „Kommen Sie her.“ Nachdem der Mann sie erreicht hatte, sagte Fornell: „Sie hören mir jetzt gut zu und stellen keine Fragen. Verstanden?“

 

„Sicher“, erwiderte der Mann leicht verunsichert.

 

„Also gut. Ich will, dass Sie die Leiche so schnell wie möglich ins NCIS Hauptquartier bringen. Zusammen mit sämtlichen Beweisstücken, die wir hier gefunden haben. - Nun starren Sie mich nicht an wie ein waidwundes Reh, tun Sie gefälligst, was ich sage“, herrschte er abschließend seinen Untergebenen an. Sein Mitarbeiter schaute ihn höchst verwundert an, doch er trollte sich und gab seinen Kollegen die entsprechenden Anweisungen. Fornell wandte sich wieder an Gibbs. „Zufrieden?“

 

Gibbs verzog das Gesicht und lächelte andeutungsweise: „Danke. – Ich stehe in Ihrer Schuld.“

 

Fornell grinste breit. „Dass ich das noch erleben darf. Sie dürfen sicher sein, dass ich darauf zurückkommen werde. Nun hauen Sie schon ab. Ich sorge dafür, dass alles seinen Weg geht. Verlassen Sie sich auf mich.“

 

Gibbs nickte und rief: „Ducky, McGee, kommt! Wir fahren zurück!“

 

 

17.59 Uhr – Im Keller bei Tony und Ziva

 

Ziva war zutiefst erschrocken. Im Nachhinein wünschte sie fast, sie hätte Tony nicht so vehement angefleht, etwas zu sagen. Nachdem er ihr dann gestanden hatten, dass er völlig am Ende sei, fühlte sie sich zunächst wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte versucht, ihn zu beruhigen, hatte mit begütigenden Worten auf ihn eingeredet, versucht, ihm neuen Mut zuzusprechen, aber er reagierte kaum auf sie. Das einzige, was er getan hatte, war sie aus leeren, verzweifelten, geröteten Augen schweigend anzustarren. Damit machte er ihr mehr Angst, als wenn er gebrüllt und getobt hätte. Aber sie durfte sich jetzt nicht auch noch hängenlassen. Bei allem Verständnis für Tony, der in der kurzen Zeitspanne, die er in der Gewalt dieser Verbrecher war, wahrscheinlich mehr hatte erdulden müssen, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben – sie musste stark bleiben. Für sie beide! Sie musste ihn irgendwie dazu bringen, dass auch er wieder an eine Chance für sie beide glaubte.

 

Verdammt, es musste doch irgendetwas geben, was sie tun konnte – etwas, das Tony wachrüttelte und ihn endlich aus seinem bodenlosen Tief holte. Sie hatte sich schließlich freiwillig in die Hände der Rivkins begeben, um ihn zu retten und jetzt hockte sie hier in diesem scheiß Keller - absolut hilflos - und musste mit ansehen, wie sich ihr Freund völlig aufgab. Plötzlich fielen ihr Gibbs' Worte wieder ein: 'Du musst denken und handeln wie ein Profi!“ Ja, das könnte tatsächlich ihre einzige Chance sein! Sie musste wieder die eiskalte Mossad-Agentin werden, die Frau, die sie früher gewesen war; ohne Gefühle agierend, logisch denkend, kalt und berechnend planend. Sie musste die Starke sein, die Unbeugsame und sie musste Tony aufschrecken, ihm dadurch klar machen, dass er nicht aufgeben durfte - einfach nicht aufzugeben hatte! Je länger sie darüber nachdachte, desto eher bekam sie eine Vorstellung davon, wie sie es anzustellen hatte. Wenn sie allerdings Pech hatte, war der Preis dafür ziemlich hoch. Trotzdem, sie musste es einfach riskieren!

 

Ziva atmete tief durch und fauchte ihren Freund unvermittelt bitterböse an: „Verflucht noch mal, nun sei nicht so ein Schlappschwanz! Das kann man ja nicht mit ansehen! Nicht mal zwei Tage bist du hier und willst schon das Handtuch schmeißen? Und du willst ein harter Kerl sein? Agent einer Bundesbehörde? Ist ja lachhaft! Mann, glaubst du im Ernst, ich will ein solches Weichei zum Freund? `Ne Heulsuse? Nein! Ich glaube fast, da bin ich gerade noch rechtzeitig wach geworden! Echt, da hätte ich mir ja gleich Palmer angeln können!! Reiß' dich zusammen, verdammt noch mal! Gibbs wird uns finden! Willst du ihm dann allen Ernstes so entgegentreten?“

 

Es war Ziva tatsächlich gelungen, sich in Rage zu reden. Sie war immer lauter geworden und ihre Stimme hatte kalt und unbeteiligt geklungen, so als meinte sie ihre Worte wirklich ernst. Als sie schließlich schwer atmend verstummte musste sie allerdings ihren Kopf zur Seite drehen, damit Tony ihr Gesicht nicht sah. Ihre harten Worte hatten ihr fast körperlich wehgetan und sie spürte, wie sich die Tränen unaufhaltsam ihren Weg bahnten.

'Wenn Gibbs uns rechtzeitig findet', dachte sie unglücklich. ‚Er muss einfach’, setzte sie immer noch in Gedanken hinzu. Ihr Team war das Beste - Gibbs war der Beste, und wenn einer sie finden würde, dann er. Sie betete nur, dass er sie rechtzeitig fand. Auf jeden Fall wusste sie, dass er, McGee und Abby alles menschenmögliche dafür tun würden. Nur anscheinend gelang es ihr nicht, ihren Freund davon zu überzeugen. Sie hatte versagt!

 

Ziva wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Tony sich plötzlich leise stöhnend regte. Sie schniefte kurz und blinzelte die verräterischen Tränen weg, die sich in ihren Augen gesammelt hatten. Tony hatte den Kopf gehoben und sah sie wieder mit etwas Leben im Blick an. Vorsichtig schöpfte sie wieder Hoffnung…

 

Die harschen Worte seiner Freundin hatten tatsächlich das bewirkt, was die Israelin damit bezweckt hatte, sie hatten Tony endlich wachgerüttelt.

 

„Ziva … bitte, ich… das kannst du doch nicht sagen. Ich bin doch kein Weichei … Du würdest doch nicht wirklich mit Palmer ...? Gott, er ist ein Freak! ... Tu' mir das nicht an Ziva!“ Er hatte seine Schmerzen an die zweite Stelle seines Denkens verbannt und konzentrierte sich voll auf seine Freundin. Meinte sie das wirklich ernst? Er suchte in ihren Augen nach einem Zeichen…irgendetwas, das ihm verriet, dass sie es nicht so gemeint hatte. Doch sie musterte ihn mit dem unversöhnlichen Blick, den er früher so oft an ihr gesehen hatte. Ein Blick, der schon die härtesten Schwerverbrecher beim Verhör eingeschüchtert hatte. Das machte ihm Angst. Wie konnte sie nur so mit ihm reden? Er verstand es nicht? Gott, er verstand seine Freundin nicht mehr… „Ziva… bitte…Rede mit mir“, sagte er flehend.

 

„Hör' auf, hier von 'Ich kann nicht mehr' zu sprechen, klar? Der Mensch kann noch viel mehr aushalten, wenn er muss. Es tut mir leid, dass ich es sagen muss, aber im Moment bist leider du es, der hier aushalten muss, verstanden? In Somalia war ich es. So ist das nun mal in unserem Job. Soll es denn umsonst gewesen sein, dass ich hierher zu dir gekommen bin? Du weißt, ich habe es freiwillig getan und ich würde es jederzeit wieder tun. Aber das mindeste, was ich dafür von dir verlangen kann, ist doch wohl, dass du dich zusammenreißt!“ Gott, wenn er wüsste… Es tat ihr bestimmt genauso weh wie Tony, ihm diese harten Worte an den Kopf zu werfen, aber wenn das die einzige Möglichkeit für sie war, zu ihm durchzudringen, musste es eben sein.

 

Tony´s Blick war jetzt wieder wach, seine Augen waren natürlich immer noch gerötet und man konnte in ihnen seine Schmerzen erkennen, trotzdem blickte er Ziva klar und aufmerksam an. „Es tut mir ehrlich leid, dass du durch meine Schuld jetzt in dieser Lage bist. Du hast Recht, ich werde dich nicht mehr mit meinem Jammern belästigen.“ Er machte eine kurze Pause.

 

‚Nein!’, schrie Ziva in Gedanken auf. ‚So doch nicht, du Idiot!“

 

„Du hättest nicht kommen sollen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir wegen mir etwas zustößt. Ich hoffe, du weißt das.“ Tony sah sie schuldbewusst an und im selben Augenblick schüttelte ihn ein schlimmer Hustenanfall. Nachdem der Anfall abgeklungen war, lehnte er seinen Kopf an die Mauer und atmete mit schmerzverzerrtem Gesicht keuchend ein und aus.

 

Voller Schuldgefühle wegen ihrer harten Worte sah Ziva Tony an. Als sie sprach war ihr Tonfall gänzlich anders. Sie sprach zwar immer noch ernst, aber jetzt war in Ihrer Stimme wieder Gefühl, Wärme und Liebe zu hören: „Nein, Tony, nichts muss dir leid tun, gar nichts. Es war das einzig Richtige, das ich zu tun hatte. Du hättest das Gleiche für mich getan. Ich musste einfach hierher kommen und dir beistehen.“ Sie machte eine Pause, als wenn sie über ihre folgenden Worte kurz nachdenken müsste und schloss schließlich schlicht, so als würde dieser eine Satz alles erklären: „Du bist schließlich mein Mann!“

 

To be continued im nächsten Thread !!!

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