20.55 h - oder "die erste Stunde vom Rest eines Lebens" - Thread VI

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28. Kapitel

In Tony´s und Ziva´s Wohnung

 

Eine Stunde später hörte Ziva, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und kurz darauf, öffnete Tony schwungvoll die Tür. Gut gelaunt betätigte er pfeifend den Lichtschalter und betrat mit einer gut gefüllten Papiertüte das Wohnzimmer. Als er die Gestalt auf dem Sofa entdeckte, die im Dunkeln auf ihn gewartet hatte, zuckte er im ersten Moment erschrocken zurück, dann aber erkannte er Ziva, setzte ein erfreutes Grinsen auf und trat auf sie zu. „Hey Schatz, du bist schon da? Ich hätte dich gar nicht so früh erwartet.“

 

Mit einem eisigen Gesichtsausdruck blickte Ziva ihrem Freund entgegen und genauso kühl antwortete sie ihm: „Oh ja, das habe ich bemerkt. Wie dumm für dich, dass ich ausgerechnet heute früher gehen durfte, nicht wahr?“

 

Irritiert blieb Tony stehen und sein Grinsen stahl sich fort: „Was meinst du damit? Wieso dumm? – Ach so … ja, wenn ich gewusst hätte, dass du heute schon so zeitig zu Hause bist, wäre ich natürlich eher heim gekommen. Aber nun bin ich ja da!“

 

„WO warst du, Tony?“ Der Ton, den die Dunkelhaarige anschlug, ernüchterte DiNozzo nun endgültig.

 

„Was ist eigentlich los? Soll das hier vielleicht ein Verhör werden?“ Die Vorfreude, Ziva mit den Prospekten aus dem Hochzeitsladen und den exquisiten Lebensmitteln, die er in der Papiertüte bei sich trug, zu überraschen, war Tony mittlerweile gründlich vergangen. Nachdem er den Ring für sie gekauft hatte, war er in einer so euphorischen Stimmung gewesen, dass er noch einen Abstecher in den Supermarkt gemacht hatte und so einiges für ein gemeinsames Abendessen eingekauft hatte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine Freundin an diesem Tag zu überraschen und da sie den Ring ja erst zu Weihnachten bekommen sollte, hatte er Ziva mit einem tollen, selbst gekochten Abendessen verwöhnen wollen.

 

Langsam erhob sich Ziva und sah ihn durchdringend an: „Ich kann rechnen, Tony! Verkauf mich nicht für dumm, hörst du? Deine Therapien waren bestimmt schon um 15:30 Uhr zu Ende. Das ist jetzt fast drei Stunden her. Wo warst du in dieser Zeit? Wo zum Henkel hast du gesteckt?“

 

Langsam fiel bei Tony der Groschen. Er konnte noch nicht einmal mehr über ihren kleinen Versprecher lächeln, zu hart traf ihn die Erkenntnis. „Ach, daher weht der Wind“, stellte er bitter fest, „Du glaubst also, ich war in einer Bar und habe mich wieder mal besoffen! Ist doch so, oder?“

 

„War es so?“ konterte die Israelin und musterte ihn, wie er fand, wie ein ekliges Insekt.

 

Wortlos stand er einige Zeit nur da und versuchte, seine aufkeimende Wut und die Enttäuschung über Ziva`s Reaktion in Griff zu bekommen. Dann trat er auf sie zu, blieb dicht vor ihr stehen und hauchte ihr provozierend seinen Atem ins Gesicht. „Und? Reicht dir das als Antwort?“, zischte er dann leise.

 

Erschüttert blickte Ziva ihn an und wusste im ersten Augenblick nicht, was sie sagen sollte: „Tony, ich…es tut mir so leid“, flüsterte sie schließlich.

 

DiNozzo blickte ihr jedoch nur zornig, aber auch resigniert in die wunderschönen braunen Augen, Augen die ihn sonst immer erweichen konnten – dieses Mal jedoch nicht. Zu tief tobte die Enttäuschung über ihre Verdächtigung in seinem Inneren. „Was erwartest du von mir, Ziva? Komm schon, sag es mir. Erwartest du etwa, dass ich über jede Minute meines Tages Rechenschaft ablege?“ Er wandte sich ab, blickte, dann aber über die Schulter zurück und fügte noch bitter hinzu: „Noch bin ich ein freier Mensch. Das solltest du nicht vergessen.“

 

„Natürlich bist du das“, antwortete Ziva schnell und versuchte dabei, den Stich, den sein „Noch“ bei ihr verursacht hatte, geflissentlich zu ignorieren, was ihr aber gar nicht so leicht fiel. Doch sie wusste sehr gut, dass sie darauf jetzt keine Rücksicht nehmen konnte. „Aber…versteh´ mich doch…nach deinem Anfall zuletzt in Jim´s Bar…du weißt sehr gut, dass du total daneben warst…ich meine, wenn Gibbs mich nicht gebeten hätte, dich heimzubringen, wer weiß, was dann noch passiert wäre. Na ja, als ich eben heimkam und du nicht da warst, ging mir alles Mögliche noch mal durch den Kopf…alles, was so in letzter Zeit vorgefallen ist, und da dachte ich eben…“

 

Mit einer kurzen Handbewegung brachte Tony sie zum Schweigen. „Ich kann mir lebhaft vorstellen, was du dachtest. Schon gut.“ Müde fuhr er sich mit der Hand über die Augen, bevor er schließlich fortfuhr. „Hör zu, ich will keinen Streit, daher werde ich dir jetzt einfach sagen, wo ich war. Ich habe Besorgungen gemacht. Um genau zu sein, habe ich etwas für dich gekauft, wovon ich dachte, es würde dich freuen und nun ja…ich habe einige Zeit dafür gebraucht, es auszusuchen, so circa 2 ½ Stunden alles in Allem inklusive meines anschließenden Besuches im Supermarkt, wenn du es genau wissen willst. Die restliche Zeit hat dann der Heimweg in Anspruch genommen. Sicher etwas länger als normal, aber wie du eigentlich wissen müsstest, bin ich derzeit zu Fuß unterwegs.“ Wortlos drückte er Ziva, die wie vom Donner gerührt vor ihm stand, die Papiertüte in die Hände. „Na los“, forderte er seine Freundin auf, darum bemüht, nicht zu aggressiv zu klingen. „Sieh rein – es wird dich vielleicht überraschen, aber da ist kein billiger Fusel drin. Ich wollte heute Abend für uns kochen und anschließend...“ Er hielt inne – die Prospekte von Brautkleidern, Geschenken und Vorschlägen, wie man den schönsten Tag im Leben wunderbar und außergewöhnlich gestalten konnte, die er sich mit Ziva nach dem Essen ansehen wollte, gingen ihm kurz durch den Kopf. Es hätte ein perfekter Abend werden sollen, doch jetzt… Einige Sekunden lang überlegte er noch, bevor er in die Hosentasche griff und bedächtig eine kleine blausamtene Schatulle hervorholte. Traurig betrachtete er eine Zeit lang das Kästchen, bevor er es schließlich zutiefst frustriert auf den Wohnzimmertisch legte „Eigentlich wollte ich sie dir ja erst zu Weihnachten schenken – aber so wie es aussieht, brauche ich gerade einen „Beweis“ für meine Unschuld. Mach damit, was du willst.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ das Zimmer.

 

Mit zunehmendem Entsetzen hatte Ziva ihm schweigend zugehört. Wenn er wenigstens laut geworden wäre, wenn er sie angeschrien hätte…aber so war seine Ansprache einfach nur furchtbar für sie. Tony hatte unendlich enttäuscht über ihre Anschuldigungen geklungen. Er war zutiefst verletzt und verdammt, er hatte Recht! Sie blickte langsam auf die blaue Schachtel, die wie eine stumme Anklage auf dem Glastisch lag und darauf zu warten schien, dass man sich ihr näher widmete. Wie in Zeitlupe stellte sie die Tüte auf dem Tisch ab und griff mit zitternden Fingern nach dem Kästchen. Fast wagte sie es nicht, es zu öffnen, als erwartete sie, irgendetwas würde sie anspringen, sobald der Deckel aufging. Trotzdem machte sie, nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, die Schmuckschatulle auf und sah mit Augen, die sich langsam mit Tränen füllten und ihren Blick verschwimmen ließen, zwei weißgoldene Ringe darin schimmern.

 

 

Der Morgen danach – im HQ

 

Tief durchatmend griff Tony nach der nächsten Akte. Seine Begeisterung, endlich wieder arbeiten zu dürfen, hatte in den letzten Tagen bereits stark gelitten. Die meiste Zeit saß er nur an seinem Schreibtisch und forstete alte Akten durch, immer in der Hoffnung, vielleicht doch noch auf einen entscheidenden Hinweis zu stoßen, was bislang leider nicht der Fall gewesen war. Lediglich die Besprechungen mit dem Rest des Teams stellten eine willkommene Abwechslung in seinen eher trostlosen Tagen dar, dann konnte er endlich wieder produktiv mitarbeiten, sich einbringen, wenn er auch nur für die anderen recherchiert oder telefoniert hatte. Zumindest hatte er dabei das Gefühl, gebraucht zu werden. Leider hatten sie zurzeit nur einen Fall, bei dem das Team in erster Linie Zeugen abklappern und befragen musste, und da konnte er nicht mit, obwohl er seinem Boss immer wieder versicherte, dass er mit einer verbundenen Hand durchaus dazu imstande wäre, Zeugen zu befragen. Aber Gibbs weigerte sich nach wie vor strikt, ihn mitzunehmen.

 

Im Nachhinein war das vielleicht auch gar nicht so verkehrt, denn nach der gestrigen Auseinandersetzung mit Ziva wollte er weitere Reibungspunkte mit ihr zunächst um jeden Preis vermeiden. Nach dem verhängnisvollen Streithatte er sich blindlings seine Jacke geschnappt und war wortlos aus der Wohnung gestürmt. Ziva´s Rufe in seinem Rücken hatte er einfach ignoriert. Er hatte genug gehabt – hatte nichts mehr hören wollen und er hatte in dem Moment ihre Nähe einfach nicht mehr ertragen können. – ´Nur weg von hier!´ Das allein hatte sein Denken beherrscht. Er musste weg von allen Problemen, Streitigkeiten – ja, er musste in diesem Augenblick auch weg von … ihr! Nachdem er schon einen halben Block weit gelaufen war, hatte er seinen Schritt verlangsamt und war schließlich einige Minuten lang reglos stehengeblieben. Zuerst hatte er überlegt, zu Gibbs oder zu Ducky zu fahren, sicher würde jeder von beiden ihn aufnehmen und bei sich übernachten lassen, aber dann hatte er den Gedanken schnell wieder verworfen. Diese Blößehatte er sich nicht geben wollen. Er hatte sich nicht mit den Scherben seiner Beziehung bei einem von ihnen ausheulen wollen. So hatte es ihn weitergetrieben, durch dunkle, kalte Straßen; dann wieder vorbei an hell erleuchteten, in verschwenderischer weihnachtlicher Fülle dekorierten Schaufenstern – und vorbei an Bar´s die  mitVergessen lockten, mitschnellen Drink´s, die all seine Probleme zumindest vorübergehend in Nichts auflösen würden. Mehr als einmal war er vor einem Eingang stehen geblieben und hatte mit sich gerungen, ob er der Versuchung nachgeben sollte, doch er hatte widerstanden. Gerade wegen der Verdächtigung, dass er wieder getrunken hatte, war es ja überhaupt erst zu diesem schrecklichen Streit mit Ziva gekommen. Genau deshalb, fand er, durfte er seinem Verlangen jetzt nicht einfach nachgeben. So war er schließlich jedes Mal unverrichteter Dinge weitergelaufen – stundenlang war er, ohne wirklich zu bemerken, wo er sich befand, umhergeirrt, bis ihm die schneidende Kälte der Dezembernacht den Rest gegeben hatte. Kurz vor Mitternacht war er schließlich, durchgefroren bis auf die Knochen, in ihre gemeinsame Wohnung zurückgekehrt. Ziva hatte schon geschlafen, zumindest hatte sie sich nicht bemerkbar gemacht, als Tony sich in einige Decken gehüllt auf die Couch gelegt hatte. Sich einfach neben Ziva in ihr gemeinsames Bett zu legen, hatte er nicht über sich gebracht.

 

Trotzdem er völlig erschöpft gewesen war, hatte er nur ein paar Stunden unruhigen Schlafs gefunden. Völlig entnervt und mit Kopfschmerzen war er daher schon um 4.30 Uhr wieder aufgestanden, hatte geduscht, sich angezogen und leise die Wohnung verlassen, um sich auf den Weg ins NCIS-Hauptquartier zu machen. Vielleicht wollte er sich ja damit auch nur vor der Begegnung mit Ziva drücken und so der fälligen Aussprache einen Aufschub verschaffen. `Kann schon sein´, sagte er zu sich selber und wenn er ehrlich zu sich selber war, war es auch so. Aber er konnte einfach nicht anders – zu einer Aussprache war er einfach noch nicht bereit. Die Wunde war noch zu frisch.        

 

Natürlich war ihm klar, dass ein Gespräch unvermeidlich war, aber er musste erst einmal wieder mit sich selbst ins Reine kommen und entscheiden, wie es weitergehen sollte. Es war ungeheuer schwer für ihn gewesen, Ziva an diesem Morgen im Büro zu begegnen. Als sie versucht hatte, mit ihm über den vorigen Abend zu reden, hatte er sie abgewehrt, wobei ihm ihr unsagbar trauriger Gesichtsausdruck beinahe körperliche Schmerzen verursacht hatte – doch er hatte in diesem Augenblick einfach nicht anders reagieren können.

 

„Tony, bitte…“, hatte sie leise gesagt. „Wir müssen reden.“

 

„Nicht jetzt, Ziva, nicht jetzt und nicht hier“, hatte er ebenso leise geantwortet und war dabei ihren intensiven Blicken ausgewichen. „Ich glaube, wir brauchen beide noch ein wenig Zeit. Deine Reaktion gestern, deine Zweifel an mir – ich denke nicht, dass so eine intakte Beziehung aussieht. Irgendetwas stimmt da nicht und wenn wir das ändern wollen, sollten wir uns Zeit geben, genügend Zeit, uns erst einmal ein wenig zu beruhigen. Also, bitte, lass uns später reden.“

 

„Aber…“

 

„Ziva – bitte – könntest du nur dieses eine Mal meine Meinung respektieren?“, hatte er sie etwas barsch unterbrochen, da er bemerkt hatte, dass ihre leise Diskussion schon die Aufmerksamkeit der anderen im Büro auf sich gezogen hatte. Das, was er auf jeden Fall hatte vermeiden wollen, denn nichts konnte er jetzt weniger gebrauchen, als versteckte Häme oder wohlmeinende Ratschläge. „Wir reden heute Abend, okay?“

 

In Ziva´s großen braunen Augen war deutlich die Erleichterung zu erkennen gewesen, nachdem sie die eisige Klaue, die sich um ihr Herz gekrallt hatte, als Tony ihre Beziehung kurz in Frage gestellt hatte, abgeschüttelt hatte. „In Ordnung. – Ehrlich, es tut mir so leid“, hatte sie beinahe tonlos noch hinzugefügt und ihr kräftiges Schlucken hatte ihm verraten, dass sie krampfhaft darum bemüht war, die Tränen zu unterdrücken. Ziva war keine Frau, die Tränen als Druckmittel einsetzte, und er wusste dies sehr gut. Dass sie in diesem Augenblick so krampfhaft um ihre Fassung bemüht vor ihm stand, setzte ihm mehr zu, als er, nach allem was geschehen war,  vermutet hatte.

 

„Ich weiß…Es ist nur…Es…wir werden es schon wieder hinkriegen“, hatte er daraufhin mit schlechtem Gewissen gemurmelt.

 

Plötzlich war ein spürbarer Ruck durch den Körper seiner Freundin gegangen. Ihre Haltung straffte sich und es schien, als würde sich ein anderes Ich ihrer bemächtigen. Sekundenlang legte sie ihre warme Hand auf die seine, bevor sie ihm mit fester Stimme antwortete: „Sicher, wir haben doch schon ganz andere Sachen hinbekommen, oder?“ Damit hatte sie sich von ihm abgewendet und war zurück an ihren Schreibtisch gegangen…

 

29. Kapitel

Der Fall Caulder – Am gleichen Tag

 

Aufstöhnend wandte sich Tony wieder der Akte vor ihm zu, und begann lustlos darin zu blättern. Er blickte kurz zu Ziva hinüber, die anscheinend hochkonzentriert ihre Arbeit verrichtete. Seit der kurzen Aussprache am Morgen hatten sie beide nur dienstliches miteinander besprochen und das auch nur in einer sehr zurückhaltenden Art und Weise. Obwohl er es ja so gewollt hatte, tat es doch verdammt weh. Während Tony noch darüber nachdachte, ob er womöglich am Morgen einen Fehler gemacht hatte, spürte er plötzlich den durchdringenden Blick seines Bosses auf sich ruhen. Sekundenlang trafen sich ihre Blicke, doch die wenigen Augenblicke reichten für Tony schon aus, um genau erkennen zu können, welche Fragen Gibbs an ihn hatte. Aber der Halbitaliener war nicht bereit für Antworten und so steckte er seine Nase eiligst zurück in die Akte und richtete nun endlich seine volle Konzentration auf die Papiere vor sich. Schließlich sollte ihm niemand nachsagen können, dass er völlig nutzlos geworden sei… 

 

Überhaupt führte sich Jethro schon seit Tagen irgendwie seltsam ihm gegenüber auf. Tony kam es schon fast vor, als wollte ihn der Grauhaarige an die Leine legen. Aber seine Gedankengänge waren ja oft unergründlich und Tony hatte es längst aufgegeben, darüber nachzugrübeln, was Gibbs mit Diesem oder Jenem bezweckte. Wenigstens hatte sich Vance noch nicht bei ihm gemeldet, um ihn zusammenzufalten, weil er nicht mehr zu Dr. Randolph ging. Lange würde das Donnerwetter wohl nicht mehr auf sich warten lassen. Dass eines über ihn hereinbrechen würde, dessen war Tony sich sicher. Genauso, wie er sich sicher war, dass der Direktor inzwischen davon wissen musste, dass er die Therapie eigenmächtig abgebrochen hatte. Was das anging…nun, er hatte Zeit. Er konnte warten.

 

Bei dem obersten Blatt handelte es sich um ein Memo des FBI zu einem bereits seit längerem abgeschlossenen Fall. Tony erinnerte sich an den Vorgang. Sein Team war einem Navy-Lieutenant auf die Spur gekommen, der für ein Drogen-Kartell Raschgift in großem Maße in die USA geschmuggelt hatte. Lieutenant Robert Jamieson hatte in Mexico Rauschgift vom Corvara-Kartell erhalten, es dann heimlich auf das Kriegsschiff, auf dem er Dienst tat, gebracht und im Hafen von Annapolis geschickt wieder von Bord geschmuggelt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch schon unter Beobachtung von Gibbs Team gestanden. Sie hatten den Mann bis zum Treffpunkt der Übergabe in einer alten Lagerhalle verfolgt und dort war es ihnen nach einer kurzen, aber heftigen Auseinandersetzung gelungen, alle Anwesenden festzunehmen. Das Team von Sam Caulder war damals mit von der Partie gewesen – es war eine der recht seltenen Situationen, wo gleich mehrere Teams gemeinsam Hand in Hand gearbeitet hatten. Gleich darauf hatte das FBI den Fall übernommen, da mit der Verhaftung des Navy-Lieutenants die Zuständigkeit des NCIS offiziell beendet war. ‚Na klar‘, dachte Tony verstimmt bei sich. Wieder einmal hatte das FBI die Lorbeeren eingeheimst -  für eine Arbeit, die andere zu einem Großteil für sie erledigt hatten.

 

Schnell überflog Tony die kurze FBI-Info, die der Akte erst kürzlich hinzugefügt worden war. Der Lieutenant hatte einen Deal ausgehandelt. Dafür, dass er redete und alle Verbindungsmänner nannte, die er kannte, hatte er Straferleichterung oder sogar Straferlass zugesagt bekommen. Vor einer Woche hatte das FBI nun aufgrund seiner Angaben zusammen mit der DEA wieder einige hochrangige Mitglieder des Kartells verhaften können. Bei der Gegenüberstellung hatte Robert Jamieson zwei der Gangster als diejenigen erkannt, die ihm in Mexico die 16 kg Rauschgift übergeben hatten, mit denen er in Annapolis verhaftet worden war. Tony stutzte. Irgendetwas an dieser Aussage irritierte ihn, er wusste nur nicht, was und nach kurzer Überlegung begann er, die Akte genauer durchzulesen. 

 

Zunächst fand er seine Überlegungen bestätigt. Nachdem sich das Chaos seinerzeit nach der Auseinandersetzung gelichtet hatte, hatten sie zunächst gemeinsam alle Beweise gesichert und den Tatort fotografiert. Danach war aus Zeitgründen Arbeitsteilung vereinbart worden: Gibbs´ Team hatte sich um die Inhaftierung der Gangster gekümmert und Caulder´s Team war dafür zuständig gewesen, die gesammelten Beweise zu sichern und schließlich zu Abby zu bringen. Alles schien seinen normalen Gang gelaufen zu sein, und doch…

 

Nachdem Tony zehn Minuten später schon einen Teil der Dokumente und Berichte gesichtet hatte, war das nächste Blatt, das ihm in die Hände fiel, die Bestandsliste der Asservatenkammer. Und da war es! Das, wonach er gesucht hatte – das, was ihm aufgestoßen war. Er murmelte halblaut vor sich hin: „… in einer schwarzen Ledertasche 10 kg Herion in Beuteln zu je 500 g…“  -  10 kg! Hastig blätterte er weiter. Da! Genauso stand es auch in allen anderen Berichten. 10 kg  Heroin waren sichergestellt worden. Jamieson jedoch hatte von 16 kg geredet. Warum? Wieso sollte er, was die Menge des Rauschgiftes anbelangt, lügen? Das ergab doch keinen Sinn. Schnell blätterte Tony noch einmal die ganze Akte durch, aber von Jamiesons derzeitigem Aufenthalt stand nirgends etwas. Der wurde offenbar geheim gehalten. Anscheinend hatte das FBI dafür gesorgt, dass ihr Zeuge sicher untergebracht worden war. In einer normalen Haftanstalt hätte er auch wohl keine zwei Wochen überlebt, nachdem aufgrund seiner Aussage die Hälfte des Corvara-Kartells dingfest gemacht worden war. Aber den FBI-Agent, der diese Info im Nachhinein gesandt hatte, könnte er anrufen. Vielleicht konnte der ihm ja weiterhelfen. Kurz darauf ließ sich DiNozzo mit Agent Phelps verbinden.

 

„Hallo, mein Name ist Anthony DiNozzo vom NCIS. Ich habe hier ihr Memo über die Festnahme von zwei Mitgliedern des Corvara-Kartells, die aufgrund der Aussage von Lieutenant Robert Jamieson verhaftet werden konnten.“

 

„Und? Stimmt was nicht damit?“, fragte der FBI-Beamte schlecht gelaunt.

 

Tony überhörte geflissentlich den mürrischen Ton, immerhin wollte er Informationen von dem Kerl. „Nein, nein, alles in Ordnung. In dem Memo steht nur, dass Lieutenant Jamieson den Täter identifiziert hat, als den Mann, der ihm 16 kg Heroin zum Transport übergeben hatte. Ist das so richtig?“

 

„Ja, ist es. Ich bin neben ihm gestanden.“

 

„Und er hat bestimmt 16 kg gesagt? Nicht etwa 10?“

 

„Nein, es waren 16 kg. Das weiß ich mit Sicherheit. Warum? Gibt es irgendwelche Diskrepanzen?“, erkundigte sich Agent Phelps nun schon deutlich interessierter.

 

„Nein, machen Sie sich keine Gedanken. Ich überprüfe hier gerade nur etwas. – Kein Grund zur Besorgnis. Ich bin sicher, es hat alles seine Richtigkeit. Ich melde mich wieder bei Ihnen, falls ich noch etwas brauche.“ Tony bemühte sich, belanglos zu klingen, obwohl ihm gerade mächtig das Adrenalin durch die Adern schoss. Er war hier auf etwas gestoßen, das weitreichende Folgen haben könnte, doch er wollte nicht jetzt schon die Pferde scheu machen. Er musste erst sichergehen, dass seine Vermutung richtig war. Wenn wirklich sechs Kilo des sichergestellten Heroins fehlten, würde das noch früh genug Wellen schlagen.

 

„Hey – ich will wissen, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, klar?“

 

„Klar doch! Sonnenklar! Ich halte Sie auf dem Laufenden, wenn sich was ergibt“, bestätigte DiNozzo schnell und legte dann ebenso zügig auf. Vergessen waren seine trübsinnigen Gedanken von vorhin. Der Ermittler in ihm hatte mit einem Mal wieder die Oberhand gewonnen. Er war da einer großen Sache auf der Spur – das sagte ihm sein Instinkt.  Sechs Kilo reinstes Heroin! Das hatte einen Marktwert von ca. ½ Million Dollar. Wenn man es streckte sogar noch mehr…

 

Tony blätterte die Fotos durch, die er selber seinerzeit gemacht hatte und hielt gleich darauf ein Paar Bilder der Tasche, in der das Heroin transportiert worden war, in der Hand. Die Tasche sah gut gefüllt aus. Eine Zeitlang betrachtete er noch tief in Gedanken versunken die Bilder, dann hatte er einen Entschluss gefasst.

 

Wenige Minuten später stand er in der Asservatenkammer und schritt rasch die Regale ab, auf der Suche nach der Tasche mit dem Heroin aus dem Corvara-Fall. Kurz darauf hatte er sie gefunden, zog Handschuhe an und holte die Tasche vorsichtig aus ihrer Plastikumhüllung. Sofort nachdem er sie in den Händen hielt, erkannte er den Unterschied zu den am Tatort geschossenen Fotos. Die Tasche wirkte längst nicht so prall gefüllt wie auf den Bildern. Und als er sie öffnete, bestätigte sich seine Vermutung, die auch durch das Gewicht der Tasche in seinen Händen noch einmal verstärkt worden war. Sie war wesentlich leerer als sie sein sollte. Das waren nie und nimmer 32 Päckchen mit Heroin. Grimmig nickte er vor sich hin. Das hatte er erwartet. „Ich muss die Tasche mit ins Labor nehmen“, erklärte er dem Beamten, der am Eingang der Asservatenkammer Dienst tat. Der Mann ließ ihn noch ein Formular unterschreiben, bevor er sich endlich mit der Tasche auf den Weg zu Abby machen konnte. 

 

*********

 

„Abbs, hey Abbs! Hast du einen Moment Zeit?“ Tony trat mit der Tasche zu der Forensikerin und stellte sie auf den Tisch.

 

„Tiger, für dich habe ich doch immer Zeit. Was haben wir denn da? Was brauchst du von mir?“, erkundigte sich Abby neugierig und beäugte das Beweisstück.

 

„Der Inhalt muss genauestens gewogen werden. Und könntest du dann noch die Tasche und den Inhalt auf irgendwelche Fasern, DNA oder was auch immer untersuchen?“

 

„Was auch immer gibt es in der Forensik nicht. Wonach genau suchst du denn?“, wollte seine Freundin stirnrunzelnd wissen.

 

„Weiß ich selber nicht so genau. – Vielleicht Spuren von einer Person, die das Zeug in der Hand gehabt hat. Fingerabdrücke werden wir wohl nicht finden, aber vielleicht irgendetwas anderes. Tu einfach, was du kannst“, bat Tony eindringlich.

 

„Tu ich das nicht immer?“, schmollte Abby und zog gespielt beleidigt eine Schnute.

 

„Natürlich tust du das!“ Tony drückte Abby kurz an sich drückte ihr einen Freundschaftskuss auf die Wange. „Du bist doch die Beste. Ehrlich, wenn wir dich nicht hätten, dann…“

 

„Tony, Tony, schon gut, hör auf!“ Abby wand sich lachend aus seiner Umarmung. „Trag nicht zu dick auf, sonst wird´s unglaubwürdig.“

 

Tony wich zurück und schaute seine beste Freundin gespielt entsetzt an. „Abby, ich bitte dich – können diese Augen lügen?“

 

„Weiß nicht, frag das mal alle deinen Ex´en“, grinste die junge Goth frech.

 

„Autsch, das tat weh. Seit wann schlägst du denn unter die Gürtellinie? – Aber im Ernst: Rufst du mich an, wenn du was hast?“

 

„Klar“, antwortete Abby unbekümmert. „Wenn ich was finde.“

 

„Oh, ich bin mir sicher, du wirst…“

 

Tony´s Vorstellung war, dass sich vielleicht irgendwelche Indizien fanden, die auf Caulder hinwiesen, denn mittlerweile hatte sich bei ihm der Verdacht festgesetzt, dass womöglich der NCIS-Beamte seine Finger in einem sehr schmutzigen Spiel haben könnte. Allerdings wusste er nur zu gut, dass man mit solchen Äußerungen sehr vorsichtig umgehen musste, wenn man sie nicht auch beweisen konnte.

 

„He, dir ist das ja wirklich wichtig, oder? Großer Gott, du zitterst ja – geht’s dir gut, Tiger?“

 

DiNozzo hatte selber bemerkt, dass er plötzlich unkontrolliert zu zittern begonnen hatte. Er ahnte den Grund, den er vor Abby natürlich nicht zugeben konnte, also wiegelte er leichthin ab. „Klar geht´s mir gut. Ich bin wieder im Dienst. Du weißt, was das bedeutet: Zu wenig Schlaf, zu viel Stress, unkontrollierte Essenszeiten – verdammt, ich brauch´ was zu beißen, dann geht´s mir gleich wieder besser. Tschau Schatz, und ruf an, hörst du...“

 

Ohne auf Abby´s zweifelnde Blicke einzugehen, marschierte Tony aus dem Labor schnurstracks in den nächsten Waschraum. Schnell verschwand er in eine der Kabinen und holte mit zitternden Fingern ein Röllchen seiner „Muntermacher“ aus der Hosentasche. Er hatte zu lange gewartet, ganz klar. Aber wenn er versuchen wollte, von dem Zeug wegzukommen, musste er die Zeiten so lange wie möglich ausdehnen. Er hatte jetzt – wie lange? – nichts genommen. Er wusste es gar nicht mehr, aber es war offensichtlich, dass er jetzt eine Dosis brauchte. Gibbs hatte ihn eh schon auf dem Kieker und er musste ihn nicht noch zusätzlich auf sich aufmerksam machen.

 

30. Kapitel

Das Ende eines schlimmen Tages

 

Nach seiner Stippvisite im Labor war Tony umgehend in einem der unteren Waschräume verschwunden. Hier kam es ihm zugute, dass diese auch eher seltener von der Belegschaft frequentiert wurden, als die in den Büroetagen. Trotzdem schloss er sich sicherheitshalber in eine der Kabinen ein und setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Zittern seiner Hände soweit zu unterdrücken, dass er das Tablettenröhrchen aus seiner Hosentasche bekam. Beim Versuch es zu öffnen, rutsche es ihm aus den Händen und wäre um ein Haar unter der Trennwand hindurch in die Nachbarkabine gerollt. Gerade noch rechtzeitig bekam Tony es mit einem leisen Fluch auf den Lippen wieder zu fassen. Fahrig öffnete der das Röhrchen und schüttelte zwei Tabletten auf seine Handinnenfläche. Ein letzter verzweifelter Blick traf die Muntermacher, bevor sie den Weg in Tony´s Mundhöhle und von dort aus in seinen Magen fanden. Er musste mehrmals kräftig Spucke sammeln, um sie vernünftig herunterschlucken zu können, doch er getraute sich in seinem derzeitigen Zustand nicht, die Kabine zu verlassen und an einen der Waschtische zu gehen. Mit hängendem Kopf wartete er auf der Kloschüssel sitzend darauf, dass endlich die gewünschte Wirkung eintrat, während er sich gleichzeitig selber verfluchte, schon wieder schwach geworden zu sein…

 

                                                        *********

 

Gibbs saß auf seinem Stuhl und rang schwer mit sich. Die Gelegenheit war definitiv günstig, da Tony vor einer Weile verschwunden war. Sein Instinkt sagte ihm schon seit dem letzten Gespräch mit Fornell, dass er etwas tun musste. Verdammt, er hätte schon viel eher tätig werden müssen. Dass er nichts getan, sondern lediglich erst einmal darauf gehofft hatte, dass er sich irrte, war eine Fehlentscheidung gewesen. Je länger er jetzt darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass etwas geschehen musste. Rebekka Rivkin lebte und das Schlimmste, was er tun konnte, war die Sache auszusitzen, denn das würde die verrückte Israelin mit Sicherheit nicht tun. Durch sein Zögern hatte er dieser Psychopatin schon mehr Zeit für ihre Planungen gegeben, als gut war und als nötig gewesen wäre. Allerdings, nachdem er eben diese Szene zwischen Tony und Ziva beobachtet hatte, war er wieder etwas ins Schleudern geraten. Es war offensichtlich, dass Tony immer noch sehr labil war und nun gab es offenbar auch noch zusätzlich zwischenmenschliche Probleme zwischen den beiden. Zischend sog er Luft zwischen die Zähne und atmete sie gleich darauf wieder schwer aus. Ein dreifaches Hoch auf Regel Nr. 12 – hätte er die Regeln nicht gelockert, wer weiß, dann wäre vermutlich von Anfang an alles…

 

„GIBBS???“

 

Der Teamleiter schreckte aus seinen trüben Gedanken auf und blickte verwirrt zu McGee hinüber. Seit wann brüllte der MIT-Absolvent ihn denn ohne Grund so an? „Herrgott Tim, was ist los,  – ich bin nicht taub. Du kannst in normaler Lautstärke mit mir reden“, fauchte Gibbs seinen Agent an.

 

„Oh, das habe ich Boss – und zwar dreimal. Ich weiß zwar nicht, wo du mit deinen Gedanken warst, aber…“

 

„Das geht dich auch nichts an, Tim“, unterbrach Gibbs den Agent barsch und stand auf, wobei er gleichzeitig die trüben Gedanken und Zweifel energisch in die hinterste Ecke seines Hirnes verbannte. Es brachte niemanden weiter, wenn er hier nur herum saß und über das Was-wäre-gewesen-wenn nachdachte. Nein, seine Entscheidung war gefallen. Er wollte versuchen, Tony - zumindest vorläufig noch - aus der Sache herauszuhalten, aber es war definitiv allerhöchste Zeit, dass er Tim und Ziva endlich einweihte. DiNozzo schwebte in höchster Gefahr und durfte nach Möglichkeit nicht mehr aus den Augen gelassen werden. Und dazu benötigte er die beiden. Alleine war das nicht zu schaffen und er konnte nur hoffen, dass das Zerwürfnis zwischen Tony und Ziva noch nicht so schwerwiegend war, das die Beziehung der beiden schon auf der Kippe stand. Regel-Nr. 12 hin oder her – zu diesem Zeitpunkt war es allemal ein Vorteil, dass die beiden auch ihre Abende gemeinsam verbrachten. „Ziva, Tim, mitkommen“, befahl er knapp, während er sich schon auf den Aufzug zubewegte.

 

Die beiden Agents schauten sich verwundert an, bevor sie sich ebenfalls erhoben und ihrem Chef zum Lift folgten. Der fragende Blick von Ziva in Richtung ihres Kollegen wurde von diesem lediglich mit einem Schulterzucken beantwortet. Seiner Meinung nach verhielt sich Gibbs schon seit einigen Tagen merkwürdig, doch der Grund hierfür hatte sich ihm bislang noch nicht erschlossen. Im aktuellen Fall kamen sie gut voran und auch sonst war in der letzten Zeit nichts Ungewöhnliches geschehen. Schweigend warteten die drei vor der geschlossenen Lifttür, bis diese endlich mit einem leisen Surren den Weg in die Kabine freigab. Kaum hatte der Fahrstuhl das Stockwerk verlassen, brachte Gibbs ihn wie erwartet zum halten.

 

Gespannt erwarteten die beiden jüngeren Agents die Ansage ihres Bosses, die nun unweigerlich folgen musste. Doch noch schwieg Gibbs. Wieder blickten sich die zwei verwundert an. Ihr Chef verhielt sich mehr als nur sonderbar und schließlich entschloss sich Ziva zu einem vorsichtigen Vorstoß.

 

„Gibbs, was ist los? Haben wir was abgestellt?“

 

„Angestellt, Ziva“, kam die automatisierte Verbesserung von Gibbs. „Nein, habt ihr nicht   ---   ich muss mit euch reden.“

 

„Und warum ist Tony nicht dabei“, rutschte es Tim heraus und gleich darauf setzte er hinzu. „Oh, vergiss es, schon klar. Weil er ja derzeit nur Innendienst macht.“

 

„Nein…“ Gibbs machte eine bedeutungsvolle Pause. „Er ist nicht dabei, weil es um ihn geht.“ Er sah ein, dass es keinen Sinn machte, um den heißen Brei herum zu reden und so atmete er noch einmal tief ein, als ob ihm dadurch die Worte leichter über die Lippen kommen würden: „ … Rebekka Rivkin lebt!“

 

Wie vor den Kopf geschlagen, starrten ihn seine beiden Mitarbeiter an, unfähig ein Wort zu sagen und so fuhr Jethro fort. „Es gibt Beweise, dass Rebekka Rivkin den Sturz in den Potomac überlebt hat. Sie hat sich zwischenzeitlich in Baltimore aufgehalten und so wie es aussieht hat sie auch bereits mehrfach wieder gemordet.“

 

Ungläubiges, bestürztes Schweigen herrschte auf diese Eröffnung hin in der kleinen Aufzugkabine. Während Tim´s Gesicht fassungslose Überraschung ausdrückte, wirkte Ziva zunächst wie versteinert. Doch sie war die Erste, die sich wieder fasste.

 

„Wie … wie kommst du darauf?“, fragte sie schließlich seltsam tonlos, während sie sich an die Rückwand lehnte, um das plötzliche Zittern ihrer Knie zu verbergen.

 

„Okay, hört zu…“ In kurzen Worten erklärte Gibbs nun, was er und Fornell in den letzten Tagen und Wochen herausgefunden hatten.

 

„Verdammt“, war alles, was Tim zunächst dazu sagen konnte. „Das ist ja … verflucht, das sind üble Neuigkeiten.“

 

Im gleichen Moment drückte sich Ziva von der Aufzugrückwand ab und blickte ihren Boss scharf an. „Willst du damit sagen, dass du das alles schon seit Wochen weißt…und es nicht für nötig befunden hast, uns einzuweihen?“

 

Gibbs hob entschuldigend eine Hand. „Nein, Ziva. Ich…“

 

„Hör auf!“ Vehement schnitt sie ihrem Boss das Wort ab. Die Fassungslosigkeit war mittlerweile eindeutig der Wut gewichen und die enge Aufzugskabine war ihrer zunehmend explosiven Stimmung nicht gerade förderlich. Ihr war plötzlich danach, sich zu bewegen – hin und her zu rennen und dabei die Gedanken, die sich gerade in ihrem Kopf überschlugen, zu ordnen. „Hör auf“, wiederholte sie und holte tief Luft. „Was ist passiert, dass du jetzt den Hund aus der Kiste lässt?“

 

„Die Katze aus dem…“, setzte Tim an, doch ein Blick von Gibbs reichte aus, ihn abrupt verstummen zu lassen. Nichts wünschte er sich in diesem Augenblick mehr, als der Enge der Kabine entkommen zu können. Von einem Augenblick auf den nächsten schien es, als wäre der Raum geschrumpft und nun unversehens viel zu eng für drei Personen. Gibbs holte einmal tief Luft und dem MIT-Absolventen war klar, dass es weder Ziva, noch ihm gefallen würde, was der Boss jetzt zu sagen hatte.

 

„Es gibt neue Erkenntnisse und die deuten darauf hin, dass sich Rebekka mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit inzwischen wieder in DC aufhält.“

 

Tim fröstelte unwillkürlich, während Ziva offenbar einen Impuls brauchte, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, indem sie so fest mit der Faust gegen die Spiegelwand hämmerte, dass diese einen Riss davontrug. Bevor sie den nächsten Schlag landen konnte, ergriff der Grauhaarige ihr Handgelenk und zwang ihren Arm sanft nach unten.

 

„Ziva“, sagte er eindringlich. „Hör mir zu. Ich muss wissen, ob es zwischen dir und Tony Probleme gibt?“

 

„Nicht mehr als sonst auch“, fauchte Ziva ungehalten und riss ihre Hand aus Gibbs´ Umklammerung. „Du weißt sehr gut, dass er die Ereignisse noch nicht verarbeitet hat.“

 

„Eben. Deshalb halte ich es auch für besser, dass er vorläufig noch nichts davon erfährt. Wir – wir alle – sind jetzt gefordert. Wir müssen einfach gut auf ihn aufpassen.“

 

Ein zynischer Laut entfuhr Ziva´s Kehle. „Als ob das so einfach wäre…“

 

Insgeheim gab Tim seiner Kollegin recht – andererseits konnte er Gibbs´ Argumente und Handlungsweise schon auch nachvollziehen. Er hütete sich allerdings, dies in diesem Moment vor Ziva zuzugeben.

 

„Ziva.“ Gibbs legte der völlig aufgewühlten Israelin eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. „Mir ist klar, dass das nicht einfach wird. Aber wir müssen eben alle unser Bestes geben. Für Tony.“

 

Ziva nickte grimmig, während sie auf die Spiegelwand starrte, als wollte sie mit ihrem Blick ein Loch hineinbrennen. Dann wandte sie langsam ihren Kopf zu Gibbs um und antwortete ihm mit einer Stimme, die keinen Zweifel an ihrer absoluten Entschlossenheit ließ: „Aber eins sage ich dir, Gibbs. Wenn mir diese Psychopatin vor die Knarre läuft, dann werde ich einen Dreck auf irgendwelche Regeln von wegen Notwehr und so weiter geben. Ich werde nicht lange fragen oder abwarten, was sie vorhat. Ich werde eiskalt abdrücken und sie hoffentlich töten! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“

 

Die Art und Weise wie sie diese Worte leise, bedrohlich und sehr ernst sagte, ließ Tim abermals einen Schauer über den Rücken laufen. Es war unmissverständlich, wie ernst es seine Kollegin mit ihren Worten meinte und dass es ihr völlig egal war, dass sie damit unter Umständen ihren Job riskierte.

 

Dieser Tag war gelaufen – schlimmer konnte es nicht mehr kommen…

 

 

In Jim´s Bar – Am gleichen Abend

 

Rebekka war wütend – mehr noch, sie war richtig sauer. Eigentlich hätte sie an diesem Tag freigehabt, doch ihr Chef, dieses Weichei, hatte den Ansturm, der um die Mittagszeit losgebrochen war, nicht mehr alleine bewältigen können und sie daher telefonisch aus ihren Vorbereitungen gerissen, indem er sie zur Arbeit zitiert hatte. Jetzt kellnerte sie sich seit Stunden die Hacken ab und vergeudete ihre wertvolle Zeit. Verflucht, wenn das so weiterging, würde sie wirklich noch Monate brauchen, bis sie endlich am Ziel ihrer Träume war. So hatte sie sich das wahrlich nicht vorgestellt.

 

Zunächst hatte sie ja noch die Hoffnung gehabt, dass Tony unverhofft auch wieder hereinschneien würde, doch mittlerweile war es schon so spät, dass sie nicht mehr daran glaubte. Zu schade, denn immer wenn sie einen Blick auf ihr potentielles Opfer werfen konnte, beflügelte sie das bei ihrer Planung gleich wieder ungemein – nicht, dass das unbedingt nötig gewesen wäre – aber schaden konnte es ja auch nicht. Erst gestern, als sie ihm nach seiner Therapie im Krankenhaus heimlich bis vor diesen Brautladen gefolgt war, hatte sie das wieder bemerkt. Einmal hatte sie kurz die Befürchtung gehabt, dass sie aufgeflogen sein könnte, denn er hatte plötzlich wieder leicht panisch reagiert und offenbar die Straße nach einem möglichen Verfolger abgesucht. Doch er hatte sie nicht erkannt! Die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den dicken Schal mehrfach so um den Hals gewickelt, dass er gleichzeitig das halbe Gesicht verbarg, war sie kackfrech mit hochgezogenen Schultern und die Hände in den Manteltaschen vergraben ganz ruhig an ihm vorbeimarschiert. So dicht, dass sie ihm mal wieder – wenn sie es denn schon gewollt hätte – das Lebenslicht hätte ausblasen können.

 

Himmel, wie sie es genoss, wenn das Adrenalin in solchen Momenten durch ihre Adern peitschte und ihr das Gefühl gab, jederzeit Herrin über das Geschehen zu sein. Sie trug sein Schicksal in den Händen. Sie allein bestimmte, wann sein letztes Stündchen geschlagen hatte – nur sie allein! Ein Hochgefühl, das nur schwer zu toppen war und das sie auch noch ein Weilchen auskosten wollte.

 

Dabei war der Mann jetzt schon ein Wrack, das konnte ein Blinder sehen und Rebekka sonnte sich in dem Bewusstsein, hierfür verantwortlich zu sein. Doch sein jetziger Zustand war nichts, im Vergleich zu dem, was ihm noch bevorstand. Immerhin…einen Platz, der weit genug abgelegen war, um dort unbemerkt, die Gräber auszuheben, hatte sie schon gefunden. Einen gebrauchten Laptop hatte sie auch erstanden und nun verbrachte sie viel Zeit damit, sich im Internet das technische Wissen anzueignen. Einen Teil der für ihren Plan nötigen technischen Ausrüstung hatte sie auch bereits gekauft. Dabei war sie sehr besonnen vorgegangen, denn sie hatte alles außerhalb von Washington besorgt und sich dabei auch nicht auf ein Geschäft beschränkt. Dass sie alles in bar zahlte, verstand sich von selber – schließlich war sie keine Anfängerin.

 

Ja, es ging definitiv voran und sie freute sich schon diebisch auf DiNozzo´s Gesicht, wenn er realisieren musste, dass sein damaliges Davonkommen lediglich einen kümmerlichen Aufschub seines Daseins auf Erden bedeutete.

 

31. Kapitel

Kurz vor Weihnachten – In Tony´s und Ziva´s Wohnung

 

In zwei Tagen war Weihnachten. Normalerweise freute sich Ziva auf das Fest, obwohl sie früher ja nie dieses christliche Fest gefeiert hatte, aber seit sie in Amerika lebte, mochte sie den Winter und auch den Kult, den die Amerikaner rund um das Weihnachtsfest praktizierten. Sie mochte die vielen Lichterketten, die Geheimniskrämerei, die um die Geschenke gemacht wurde, die Kerzen und den Tannenduft, aber dieses Jahr war ihr nicht wirklich zum Feiern zumute. Seit dem fürchterlichen Streit mit Tony vor kurzem schien eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen entstanden zu sein. Sie hatten sich zwar noch - wie im HQ am Morgen nach dem Streit verabredet - am selben Abend ausgesprochen, doch es war mehr als offensichtlich, dass es zwischen ihnen immer noch nicht zum Besten stand. Ziva hatte ihm gegenüber immer wieder beteuert, wie leid ihr ihre ungerechtfertigten Verdächtigungen getan hatten und Tony hatte ihre Entschuldigung anscheinend auch angenommen, gesagt, es wäre schon wieder okay – aber es war durchaus nicht okay. Er nahm sie nicht mehr spontan in den Arm, er machte keine Späße mehr und er ignorierte sogar ihre Versprecher, die sie hin und wieder wohlplatziert absichtlich in ein Gespräch einfließen ließ. Es war, als hätte er sich über Nacht  in einen völlig anderen Menschen verwandelt. Gut – er küsste sie wieder, aber auch nur, wenn sie zu ihm kam, was allerdings immer seltener vorkam. Er legte auch den Arm um sie, wenn sie abends noch einen Spaziergang machten, aber trotzdem… Ziva spürte ganz genau, dass mit ihrem Freund eine Veränderung vorgegangen war. Sie hatte sich auch bisher nicht getraut, noch einmal das Thema „Hochzeit“ anzuschneiden, irgendwie hatte sie Angst vor Tony´s Reaktion. Auch dass er die Ringe neulich Abend einfach auf dem Tisch hatte liegenlassen, war bislang totgeschwiegen worden. Gott, es gab derzeit so viel, was zwischen ihnen unausgesprochen blieb und je länger das so blieb, desto verfahrener und unangenehmer wurde die Situation.

 

Von Tag zu Tag wurde Ziva verzweifelter und es gab Momente, wo sie sich wünschte, einfach ein paar Sachen in eine Tasche zu schmeißen, die Wohnung verlassen zu können und für ein paar Tage zu Abby zu ziehen. Andererseits war Abby auch Tony´s beste Freundin und sie wollte ihre Freundin nicht zwischen die Stühle stellen – so sagte man doch, oder? Ein tiefer Seufzer entrang sich Ziva´s Brust. Der Gedanke, einfach für ein paar Tage Abstand zu gewinnen, war gewiss verlockend, aber nach Gibbs´ Horrornachricht, dass Rebekka noch lebte und wahrscheinlich immer noch nach Tony´s Leben trachtete, verbot er sich ja von selbst. Sie musste auf ihn aufpassen. Wie eine Löwenmutter auf ihr Junges und bei Gott, sie wurde ihren Freund, den sie nach wie vor über alles liebte, bis zum letzten Atemzug verteidigen. Natürlich hoffte sie, dass es dazu nicht kommen würde, und sie zuerst die Chance bekäme, dieser miesen Psychopatin die Lampe auszuknipsen, aber wer wusste schon, was das Leben für einen bereithielt? Noch vor kurzer Zeit hätte sie sich nicht träumen lassen, dass Tony und sie nun vor solchen Bergen von Problemen stehen würden. Ihre kleine heile Welt, die sie sich so sehr gewünscht und für die sie so gekämpft hatte,  war – einmal mehr – im Begriff in Trümmer zu zerfallen und verdammt, die Angst, dass es dazu kommen könnte, lähmte sie dieses Mal fast. Früher war sie anders gewesen. Zu den Zeiten, als sie es sich noch verboten hatte, jemanden so nah an sich heranzulassen, war es ihr ein Leichtes gewesen, Enttäuschungen und Verletzungen ihrer Gefühle, abprallen zu lassen. Sie hatte sie einfach nicht zugelassen – doch als es mit Tony ernst wurde, war so vieles in ihrem Leben anders geworden. Und nicht nur anders - ihr Leben war besser geworden! Umso vieles besser! War es dann nicht nur gerecht, dass es auch hin und wieder wehtat?

 

Nach außen hin gab sie sich wie immer, tough, cool und schlagfertig im Büro doch kaum waren sie abends zu Hause, zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück. Tony verhielt sich ähnlich und so sprachen sie im Grunde seit Tagen nur noch das Nötigste miteinander. Die Situation wurde für sie beide zunehmend untragbarer und wenn da nicht der Geist von Rebekka wie ein Unheil verkündendes Damoklesschwert über allem geschwebt hätte, wäre sie womöglich schon längst gegangen. Getreu dem Motto: Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Feige auf der einen Seite, sicher, aber sie hielt den Schmerz und die Angst kaum mehr aus. Wie hatte es nur so weit kommen können? Morgen war Heilig Abend…sie hatte sich so sehr darauf gefreut und jetzt? Jetzt wusste sie nicht einmal wo ihr Freund gerade steckte!? Wenn Gibbs das wüsste, würde er ihr auf der Stelle den Kopf abreißen, soviel stand fest, aber sie konnte doch nichts dafür. Tony hatte eben heimlich die Wohnung verlassen, während sie nach dem Heimkommen kurz Duschen gegangen war. Als sie zehn Minuten später zurück ins Wohnzimmer gekommen war, hatte sie die Wohnung verlassen vorgefunden. Sie hatte fast durchgedreht, als sie feststellte, dass Tony´s Mantel verschwunden war. Wie der Teufel war sie nach draußen gerannt, um ihn noch irgendwie zu erwischen, aber er war nirgends mehr zu sehen gewesen und nun konnte sie nur hoffen und beten, dass ihm – wo auch immer er jetzt unterwegs war – nichts zustieß. Das würde sie sich nie und nimmer verzeihen können – nicht für den Rest ihres Lebens. 

 

Wo blieb er nur? Ziva warf einen Blick auf die Uhr, während sie wie ein Tiger im Käfig in der Wohnung hin und her lief. Die digitale Anzeige zeigte 20.55 Uhr. Die Israelin konnte nicht anders und lachte kurz bitter auf. Wenn es nicht so merkwürdig gewesen wäre, wäre es womöglich tatsächlich komisch. Genau die Uhrzeit, auf die Tony vor einigen Tagen so impulsiv reagiert hatte! Die Uhrzeit, die ihn letztlich in Jim´s Bar vollends aus der Fassung gebracht hatte. Warum er so reagiert hatte, hatte er ihr bis jetzt nicht erklärt, aber dass diese Uhrzeit für ihn irgendeine Bedeutung gehabt hatte, war sehr offensichtlich gewesen. Wiederum fragte sie sich, wo Tony wohl sein mochte? Er war inzwischen schon über eine Stunde unterwegs und sie mochte sich nicht ausmalen, was ihm in dieser Zeit bereits alles hätte passieren können. Mit einem leisen „Flupp“ schlug die Anzeige um und riss Ziva aus ihren grüblerischen Gedanken. Sie musste sich ablenken, es half nichts, wenn sie hier jetzt die Nerven verlor. Wenn sie nicht bald damit anfing, die Wohnung etwas weihnachtlich herzurichten, brauchte sie es schließlich gar nicht mehr zu tun, also begann sie mechanisch, verschiedene Dekostücke im Raum zu verteilen. Wer weiß…vielleicht gefiel Tony die weihnachtliche Note ja, wenn er wieder nach Hause kam.

 

Wenn…   

 

 

Am gleichen Abend im HQ – Treffen von Gibbs und Fornell

 

Zischend öffnete sich die Tür des Fahrstuhls und heraus kam Tobias Fornell. Mit langen Schritten ging er auf Gibbs´ Schreibtisch zu und ließ sich, ohne die Aufforderung dazu abzuwarten, schwer in den Besucherstuhl fallen.

 

„Das muss aufhören, Jethro“, sagte er anstatt einer sonstigen Begrüßung. „Es kommt mir langsam so vor, als ob wir hier konspirative Treffen abhalten.“

 

Der Angesprochene nickte wortlos und bedeutete McGee, der gerade nach seinen Sachen griff, um Feierabend zu machen, dass er zu ihnen herüberkommen sollte. Gleichzeitig registrierte er mit einer gewissen Befriedigung, dass Fornell damit jetzt anscheinend nicht gerechnet hatte, denn Tobias zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

 

McGee war inzwischen herangekommen: „Ist noch was, Boss?“

 

„Hol dir einen Stuhl und setz dich“, antwortete sein Chef und zu Fornell gewandt sagte er lediglich. „Er weiß Bescheid.“

 

Fornell nickte erleichtert. „Gut. Ich bin froh, dass Sie es ihm endlich gesagt haben. Was ist mit Agent David?“

 

Wiederum nickte Gibbs als Bestätigung. „Sie ist mit ihm zu Hause. Dort sind sie gut aufgehoben und sicher.“

 

McGee hatte sich inzwischen ebenfalls vor Gibbs´ Schreibtisch niedergelassen und wartete gespannt, was nun weiter passieren würde.

 

„Was gibt´s Neues?“, fragte der Grauhaarige Fornell.

 

„Im Grunde nichts, was wir nicht auch hätten telefonisch besprechen können.“

 

Gibbs verzog verärgert das Gesicht. „Was wollen Sie damit sagen? Dass Sie in den letzten Tagen nichts Neues über den Verbleib von Rebekka herausgefunden haben? Verdammt noch mal, Tobias, was treiben Sie eigentlich den ganzen Tag?“

 

Der so angegriffene FBI-Mann beugte sich wütend vor und funkelte seinen Kontrahenten erbost an: „Was ich treibe? Ich arbeite! Für das FBI, falls Sie sich daran noch erinnern sollten. Ich bin nicht der Laufbursche von Leroy Jethro Gibbs, dass das mal klar ist. Ich habe auch noch anderes zu tun, als ihre Ermittlungen durchzuführen. Außerdem ist bald Weihnachten und ich habe Familie.“

 

„Was Sie nicht sagen. - Immerhin sind Sie daran schuld, dass sie uns damals im Krankenhaus durch die Lappen gegangen ist“, erinnerte Gibbs seinen Weggefährten völlig unbeeindruckt.

 

„Ja, schönen Dank auch, dass Sie mich immer wieder daran erinnern“, fauchte Fornell wütend.

 

„Offenbar ist es ja nötig.“

 

„Gibbs! Es reicht!“

 

Fornell war laut geworden und McGee fühlte sich immer unwohler zwischen den beiden Kampfhähnen. Am liebsten hätte er sich unauffällig dünne gemacht, doch er wollte nichts tun, was den Zorn seines Bosses auf ihn lenkte. Unwillkürlich fragte er sich, was er wohl angestellt haben mochte, dass ausgerechnet er immer zwischen die Fronten geriet.

 

„Ich helfe gerne, wenn ich kann. Das wissen Sie, aber Sie sollten bedenken, dass ich nichts dergleichen tun muss.“

 

„Schon gut, geschenkt“, knurrte Gibbs, der sehr wohl wusste, dass Fornell Recht hatte. „Also…Sie haben doch was?“, setzte er neu an.

 

„Die Polizei hat eine unbekannte Leiche gefunden. Weiblich und bevor sie fragen, ich habe sie mir angesehen. Es handelt sich nicht um Rebekka.“

 

„Schade eigentlich“, warf Gibbs trocken ein. „Warum ist sie dann interessant für uns?“

 

„Nun…die Art, wie die Frau zu Tode kam, ist…sagen wir, sehr ungewöhnlich. Es sieht danach aus, als sei sie vor ihrem Tod noch schwer gefoltert worden.“

 

„Sie glauben, Rebekka hat sich an ihr ausgetobt?“

 

Statt einer Antwort zuckte Fornell nur die Achseln. Als Gibbs daraufhin schwieg, setzte er leise hinzu: „Immerhin haben wir ja inzwischen schon einige ihrer Leichen in Augenschein nehmen dürfen. Denken Sie nur an den Toten aus Greenbelt…“ Bei der Erinnerung an das vor dem toten Antlitz des Opfers baumelnde Auge wurde ihm immer noch leicht flau im Magen.

 

„Hmm, ja. Aber solange wir nicht wissen, um wen es sich handelt, haben wir keine Chance herauszufinden, wo die Verbindung zu Rebekka liegen könnte.“

 

„An der Identifizierung wird mit Hochdruck gearbeitet. Leider gibt es keine Fingerabdrücke mehr. Und ein Foto … na ja, sagen wir einfach, es lohnt sich nicht eines von dem, was einmal das Gesicht der Frau war, zu machen. Anhand dessen würde sie sowieso niemand erkennen.“

 

„Sollen wir Dr. Mallard einbinden?“

 

„Ich denke nicht, dass das ein kluger Schachzug wäre. Die Polizei war schon nicht begeistert, dass ich sie mir angesehen habe – wenn sich jetzt noch ihre Behörde einmischt, schalten die womöglich komplett auf stur. Ich bleibe aber am Ball – passen Sie nur inzwischen gut auf Ihren Mann auf.“

 

„Das werden wir. Keine Sorge. DiNozzo haben wir hier gut im Griff.“ Gibbs warf einen Blick auf McGee und bemerkte dessen Gesichtsausdruck. „Was ist? Bist du anderer Meinung, Tim?“

 

Tim fühlte sich äußerst unbehaglich. Einerseits würde er sich wohler fühlen, wenn er endlich über die Befürchtung, die sich seit einiger Zeit verstärkt bei ihm breitgemacht hatte, mit jemandem reden könnte. Andererseits wollte er Tony nicht womöglich unberechtigt in die Pfanne hauen.

 

„Tim, du hast doch gehört – wir haben nicht ewig Zeit“, mahnte Gibbs ungeduldig.

 

„Ich weiß nicht, ob du damit so richtig liegst, Boss“, fing McGee an, während er gleichzeitig überlegte, wie er es am besten sagen sollte. „Tony ist…nun ja, ich finde, er hat sich sehr verändert.“

 

„Das wissen wir alle. Nun spuck schon aus, was du denkst.“

 

Das gab den Ausschlag und Tim redete sich endlich von der Seele, was ihn schon seit Tagen beschäftigte. „Tony verhält sich zunehmend merkwürdig. Auf der einen Seite ist er fahrig, hypernervös und ein Nervenbündel. Denk nur mal daran, wie er in der Bar ausgeflippt ist. Dann wiederum – und manchmal liegen nur kurze Zeiten zwischen den einzelnen Phasen – wirkt er geradezu euphorisch. Wie heute Nachmittag zum Beispiel. Bei allem Verständnis für das was er durchgemacht hat, ich finde nur einfach, dass sein Verhalten über die Maßen nicht normal auf mich wirkt.“

 

Fornell hob überrascht die Augenbrauen, während Gibbs Tim´s Worte auf sich wirken ließ. „Du glaubst, er nimmt was ein?“, fragte er schließlich, obwohl er die Antwort schon kannte.

 

Tim bereute schon fast, etwas gesagt zu haben: „Ich weiß es nicht, Boss. Ich weiß nur, dass er sich nicht wie unser Tony DiNozzo verhält und das macht mir Sorgen.“

 

Gibbs nickte grimmig. „Du hast Recht, verdammt! Aber was ist mit Ziva? Sie müsste das doch auch bemerken, oder?“

 

„Sie ist doch selber ziemlich durch den Wind“, gab Tim zu bedenken. „Ich glaube, die beiden haben Probleme und jetzt auch noch das mit Rebekka … aber vielleicht will sie es auch einfach nicht wahrhaben“, fügte er noch irgendwie deprimiert hinzu.

 

„Verdammt! Wir können ihn doch nicht rund um die Uhr beobachten.“ Wütend und zutiefst frustriert hieb Gibbs mit der Faust auf den Tisch. Noch mehr zusätzliche Probleme waren das Letzte, was er gebrauchen konnte. Aber so sehr es ihm auch gegen den Strich ging: An Tim´s Worten war was dran.

 

Betretenes Schweigen war die Antwort. Keiner der drei Männer registrierte, wie sich oben auf der Galerie Direktor Vance leise und unbemerkt wieder in sein Büro, zurückzog. Nachdem Fornell eben laut geworden war, war er herausgekommen, um zu sehen, was unten los war. Jetzt hatte er genug gehört. Nachdenklich setzte er sich zurück an den Schreibtisch und überlegte, wie er mit dem Gehörten umgehen sollte.

 

32. Kapitel

Am gleichen Abend – Etwas später in Tony´s und Ziva´s Wohnung

 

Ruhelos wanderte Ziva immer wieder durch die Wohnung, bis sie schließlich vor der Vitrine im Wohnzimmer stehenblieb und gedankenverloren ein Foto von Tony und ihr betrachtete, auf dem sie überglücklich in die Kamera lachten. Sie hatten die Arme fest umeinander gelegt und es war für den Betrachter mehr als deutlich, dass sie eine Einheit bildeten und sehr glücklich miteinander waren. Ziva musste schlucken. Wie lange war das her? Noch keine drei Monate – und jetzt? Jetzt sah mit einem Mal alles anders aus.

 

Sofort nachdem sie festgestellt hatte, dass Tony verschwunden war, begann sie fieberhaft zu überlegen. Gibbs anrufen? Das verbot sich von selber! Abby? Gott, die gute Seele würde, auch ohne zu ahnen, warum Tony´s Verschwinden so fatal war, sofort Himmel und Hölle in Bewegung setzen und wahrscheinlich eben auch Gibbs informieren. Tim? Denkbar, aber wahrscheinlich wäre ihr der auch keine große Hilfe, sondern würde sie nur noch zusätzlich verrückt machen. Natürlich hatte sie auch kurz darüber nachgedacht, sich auf die Suche nach Tony zu machen, nur…wo sollte sie damit anfangen? Sie hatte ja keinen Schimmer, welche Richtung er nach dem Verlassen des Hauses eingeschlagen hatte und so blieb ihr keine andere Wahl, als abwechselnd durch die Wohnung zu tigern und aus dem Fenster zu starren, während die Minuten zäh dahinschlichen...

 

Jetzt stand sie wieder vor dem Bild aus glücklichen Tagen und betrachtete es tief in Gedanken versunken. Ohne zu registrieren was sie tat, fuhr sie wieder und wieder sanft mit dem Zeigefinger der rechten Hand über das Glas, unter dem heraus sie Tony´s Gesicht anzulächeln schien. Langsam spürte sie, wie der Kloß in ihrem Hals immer größer wurde. Würde es je wieder so werden, fragte sie sich und plötzlich konnte sie die Fassade der starken Ziva, die immer alles im Griff hatte und die sich durch nichts aus der Bahn werfen ließ, nicht mehr aufrechterhalten. Wozu auch? Sie befand sich schließlich alleine in der Wohnung. Ziva ließ zu, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten und auch ihre Mundwinkel begannen, verräterisch zu zucken. Sie schniefte ein paar Mal, bevor sie sich energisch wieder zur Ordnung rief! Sie weigerte sich, sich so gehen zu lassen; das würde auch nichts an der verfahrenen Situation ändern.Wütend wischte sie sich über die Augen und abrupt stellte sie das Bild zurück an seinen Platz, als sie plötzlich eine Bewegung zu ihrer Linken wahrnahm. Ihr Atem stockte für einen Moment lang und dann zwang sie sich dazu, sich langsam und bedächtig herumzudrehen.

 

Tony hatte schon einige Minuten in der Tür gestanden und seine Freundin stumm beobachtet. Noch nie hatte er sie so gesehen – sie wirkte so hilflos und verletzlich und diese Tatsache berührte ihn sehr. Sicher, sie hatte ihn tief getroffen und er war immer noch der Meinung, dass er jedes Recht gehabt hatte, wütend auf sie zu sein. Mit ihren falschen Verdächtigungen hatte sie ihn in einem denkbar ungünstigen Moment konfrontiert. Gerade als er in einer solchen Hochstimmung gewesen war - sich wie ein kleines Kind darauf gefreut hatte, sie mit dem Essen zu überraschen – in dem Bewusstsein, dass er ja noch etwas viel Besseres in der Hosentasche hatte – da hatte sie ihn mit ihren harschen Worten in ein abgrundtiefes Loch gestoßen. Obwohl er es zunächst gesagt hatte, hatte er ihr diesen Vertrauensbruch nicht sofort verzeihen können und tagelang hatte er die Nähe zu ihr kaum ertragen. Doch langsam, nachdem er wieder und wieder im Stillen über die Situation nachgegrübelt hatte, war er zu der Einsicht gelangt, dass er auch nicht völlig unschuldig an den Spannungen war, eben weil er mit seinem Verhalten und seinen Eskapaden schon manchmal durchaus Anlass dazu gegeben hatte.

 

„Tony“, flüsterte sie leise und ihre Stimme klang merkwürdig brüchig. Mit hängenden Armen stand sie neben der Vitrine und schaute ihn aus großen braunen Augen traurig an. „Du bist wieder da…“

 

Als Tony Ziva so dastehen sah und bemerkte, wie unglücklich sie war, gab er sich einen Ruck und trat langsam auf sie zu. Unmittelbar vor ihr blieb er stehen.„Hast du geglaubt, ich komme nicht wieder?“ fragte er sie ebenso leise.

 

„Nein,…ich…“ Ziva schüttelte den Kopf. „Ich weiß auch nicht.“

 

Behutsam strich Tony seiner Freundin eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und hob dann sanft ihr Kinn an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. „Liebes, ich brauchte einfach nur mal ein paar Minuten für mich alleine. So, wie ihr alle mich in der letzten Zeit bemuttert…na ja, das ist schon anstrengend, weißt du? Ich wollte einfach mal für mich sein.“

 

„Ich hab´ mir Sorgen gemacht.“

 

Tony konnte nicht anders – er musste lächeln. „Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich musste einfach nur mal einen klaren Kopf bekommen. In Ruhe nachdenken, verstehst du? Ich habe mir weder ein Flugticket gekauft, noch war ich in einem Bordell.“

 

„Das weiß ich doch…“ Ziva senkte den Kopf. „Trotzdem hab´ ich mir Sorgen gemacht.“

 

„Aber das musst du nicht“, bekräftigte Tony noch einmal.

 

‚Oh doch, das muss ich‘, dachte sie verzweifelt und doch konnte sie es nicht aussprechen. Mit belegter Stimme brachte sie hervor: „Aber ich … vielleicht hatte ich einfach nur Angst, dass du mich verlassen würdest…“ Nach einer Pause setzte sie leise hinzu: „Ich könnte das nicht ertragen, weißt du… Blöd, nicht wahr? Ich meine, nach allem, was ich schon erlebt und überlebt habe…“ Etwas hilflos wedelte Ziva während ihrer Worte mit den Händen in der Luft herum.

 

„Ziva…hör auf, bitte.“ Tony griff nach den Händen seiner Freundin und hielt sie fest. „Ich würde dich nie verlassen, hörst du? Nie! Selbst wenn ich es wollte, ich könnte es gar nicht. Dafür liebe ich dich viel zu sehr!“ Sanft ließ er seine Hand auf ihrer Wange liegen und registrierte dankbar, wie Ziva´s Kopf sich an seine Handinnenfläche anschmiegte. Das signalisierte ihm zum ersten Mal seit Tagen ein Gefühl, dass vielleicht doch noch wieder alles gut  werden könnte.

 

„Aber…“

 

„Kein `Aber´ mehr! Vertrau mir!“ Tony zog sie in seine Arme und es tat einfach nur gut. Er wollte endlich alle Streitigkeiten, Probleme und Sorgen ausblenden und wieder glücklich sein – mit Ziva. Das wurde ihm jetzt bewusst. Alle Spannung fiel von ihm ab und befreit ließ er seinen Kopf auf ihre dunklen Locken sinken und murmelte leise: „„Nur gut, dass das Auto mich eben auf der Straße nicht erwischt hat“

 

Seine Worte ließ sie bis ins Mark erschrecken. „Welches Auto?“, fragte Ziva alarmiert und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme dabei leicht zitterte.

 

 „Ach, ich war so in Gedanken, dass ich wohl einfach blindlings auf die Straße gelaufen bin, ohne auf den Verkehr zu achten“, sagte Tony und lachte leise. „Da siehst du, was du mit mir anstellst. Wir dürfen uns einfach nicht mehr streiten, hörst du? Die Folgen sind unabsehbar.“

 

Ziva löste sich aus der Umarmung und starrte ihren Freund mit großen Augen an. Sie wusste nicht, was sie auf seine Worte erwidern sollte. Sie rang mit ihrem schlechten Gewissen und der Angst um sein Leben. Die widerstreitenden Gefühle schlugen Purzelbäume in ihrem Inneren. Da war auf der einen Seite das unendliche Glücksgefühl, dass sie sich endlich ausgesprochen hatten – andererseits durfte sie leider jetzt nicht 100%-tig aufrichtig ihm gegenüber sein. Hoffentlich wurde das Geheimnis, das sie jetzt bewahren musste, nicht irgendwann zu einem Bumerang.

 

„He“, flüsterte Tony leise und zwirbelte eine ihrer Locken um seinen Finger. „Guck doch nicht so. Ich hab´ kurz nicht aufgepasst, das ist alles. Alles ist gut: Ich verspreche, dass ich ab jetzt sofort wieder gut auf mich aufpassen werde – für dich!“

 

„Ja“, nickte Ziva und bot ihm ihren Mund dar. „Aber tu es für uns, hörst du?“

 

„Sicher“, murmelte Tony, bevor er ihren Mund in Besitz nahm und endlich eroberte, was er so lange vermisst hatte. „Für uns! Versprochen!“

 

 

Zur gleichen Zeit – In Rebekka´s Wohnng

 

Die Israelin stand in ihrem dunklen Wohnzimmer und schaute nachdenklich aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Kitschige Weihnachtsbeleuchtung wohin das Auge blickte. Oh Mann, diese Amerikaner und ihre Bräuche gingen ihr ja so was von auf die Nerven. Sie war froh, dass dies bald ein Ende haben würde. Lange würde es nicht mehr dauern, dann konnte sie zum großen Schlag ausholen und bei Gott, DiNozzo´s und David´s Tod würde sich als denkwürdiges Ereignis in die Köpfe aller brennen, die die beiden kannten.

 

Trotz der anstrengenden Schicht, die sie heute wieder in Jim´s Bar hinter sich gebracht hatte, war es ein guter Tag gewesen, denn sie hatte IHN gesehen. Und das, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte. Doch als sie auf dem Heimweg gewesen war, war er plötzlich und unerwartet aufgetaucht. Scheinbar ziellos die Straße entlanglaufend. Fast hätte sie ihn im Halbdunkel der Straßenlaternen sogar übersehen. Sie hatte der Versuchung nicht widerstehen können. Dieser Mann forderte sie einfach immer wieder heraus. Sie hatte ihm einfach einen kleinen Schrecken einjagen müssen. Sie war einmal um den Block gefahren und hatte dann – gerade als er die Straße bei Grün überqueren wollte – kurz auf´s Gaspedal gedrückt. Haarscharf war sie an ihm vorbeigerast und hatte sich kurz vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn er einen Augenblick später mit zerschmetterten Knochen in seinem Blut auf dem kalten Beton läge. Wahrlich, es war eine sinuedchöne Vorstellung gewesen, doch natürlich würde sie für einen kurzen Moment der Genugtuung niemals ihren Plan aufgeben.

 

Trotzdem – diese kleine Episode hatte ihren miesen Tag abschließend doch noch zu einem guten werden lassen. So ein kleiner Adrenalinstoß wirkte doch immer wieder Wunder! Ein verträumtes Lächeln spielte um ihre Lippen. Bald…sehr bald schon war es endlich soweit…

 

33. Kapitel

Ein paar Tage später – In der Asservatenkammer

 

Ein etwa 45-jähriger Mann mit blondem, schon etwas dünnerem Haar trat mit einem Karton in der Hand an den Schreibtisch vor der Gittertür, die zur Asservatenkammer führte. Er stellte die Schachtel ab und sah sich um. „Lenny?“ rief er fragend in den Raum hinein. „Wo steckst du?“

 

Aufstöhnend bemühte sich der Gerufene, der gerade in einer von der Tür her nicht einzusehenden Ecke sein spätes Frühstück einnahm, das eben abgebissene Stück seines Sandwiches runterzuschlucken. ‚Typisch‘, dachte er. ‚Immer wenn ich esse!‘ „Einen Moment, ich bin gleich da“, rief er gleich darauf zurück und trank noch einen großen Schluck Kaffee, den er sich gerade aus seiner mitgebrachten Thermoskanne eingeschenkt hatte.

 

„Nur keinen Stress, Lenny“, antwortete Sam Caulder grinsend, er kannte den in die Jahre gekommenen, wohlbeleibten NCIS-Beamten schon viele Jahre und wusste genau, wo sich dieser gerade aufhielt. „Lass dir Zeit, ich trage schon mal alles in eine Liste ein, du brauchst dann nur noch zu unterschreiben.“ Gleich darauf zog er das Ein- und Ausgangsbuch heran und drehte es zu sich um, um den Beweisstücken die nächste Nummer zuzuordnen, als ihm die Fall-Nummer des letzten Vorganges auffiel, die dort als Ausgang eingetragen war. Sein Herz krampfte sich jäh zusammen. Er wusste sofort, worum es sich handelte. Der Corvara-Fall!  -  Vor einigen Tagen hatte Agent DiNozzo die Tasche mit dem Heroin abgeholt, die er damals vom Tatort in die Asservatenkammer gebracht hatte. Aber nicht, ohne vorher unbemerkt 6 Kilo davon abgezweigt zu haben. Er war nur wenige Minuten mit der Tasche allein gewesen, aber die hatten genügt, um ihn zum Verbrecher werden zu lassen. Er hatte schon öfter im Rahmen von Ermittlungen mit Rauschgift zu tun gehabt und wusste genau, was das Zeug wert war. Und in diesem unbeobachteten Moment hatte ihn urplötzlich der Teufel geritten und so hatte er beschlossen, etwas von den Drogen für seinen Ruhestand abzuzweigen. Ohne lange zu überlegen hatte diesen Gedanken gleichzeitig in die Tat umgesetzt. Er hatte blitzschnell 12 der Herointütchen in seinen Rucksack gepackt, sich diesen danach lässig, wie immer unmittelbar vor Feierabend, über die Schulter geworfen, und war dann mit der Tasche zu seinem Kollegen gegangen. Beiläufig hatte er seinem Mitarbeiter mitgeteilt, dass er die Beweise nur noch kurz in die Asservatenkammer bringen und danach Schluss für diesen Tag machen würde. Da er der Teamleiter war, war das vollkommen normal. Keiner hatte sich darüber gewundert oder sich weiter darum gekümmert. - Bis jetzt! Ausgerechnet kurz bevor die ganze Fuhre zur Verbrennung gegangen wäre. Diesem Termin fieberte er bereits seit langem entgegen, denn wenn das geschehen wäre, hätte niemand eine Chance gehabt, ihm auf die Schliche zu kommen. Natürlich hätte er sich vorab selber darum kümmern können, dass das Zeug auf Nimmerwiedersehen verschwand, doch wozu hätte er das tun sollen. Im schlimmsten Fall hätte er nur unnötig Verdacht erregt und das hatte er ja auf jeden Fall vermeiden wollen. 

 

Caulder hatte im ersten Augenblick Mühe, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Dieser verfluchte Halbitaliener. Diesen Typen hatte er noch nie leiden können. Dass der sich auch überall einmischen musste… Fieberhaft überlegte er, was DiNozzo wohl dazu bewogen hatte, die Tasche mit dem Heroin aus der Asservatenkammer zu holen? Sein erster Impuls war, dass er aufgeflogen war und sofort abhauen sollte. Doch dann zwang er sich zur Ruhe. Er musste überlegen! In Ruhe überlegen! Er durfte jetzt nichts überstürzen. Das wäre womöglich das Falscheste, was er tun konnte. Also galt es, die Ruhe zu bewahren. Das Zeug war verkauft und die knappe halbe Million, die er dafür kassiert hatte, war auf einem geheimen Nummern-Konto unter anderem Namen deponiert. Sämtliche Unterlagen hatte er so gut versteckt, dass nie jemand dahinter kommen würde, dessen war er sicher. Er war schließlich ein Profi; seit langen Jahren Agent – da hatte er sich einiges von den Verbrechern abgucken und deren Fehler ausmerzen können. Zurück zu DiNozzo. Was zum Henker bezweckte der Kerl mit seiner Aktion? Natürlich konnte es auch einen völlig harmlosen Grund geben, warum der Mistkerl die Tasche geholt hatte. Nur wollte ihm gerade leider so ad hoc keiner einfallen…

 

Plötzlich schrak er heftig zusammen, als sich eine warme Hand völlig überraschend für ihn auf seine Schulter legte und er fuhr blitzschnell herum, um den vermeintlichen Angreifer abzuwehren. Doch es war nur Lenny, der mittlerweile seine Frühstückspause unterbrochen hatte. Der Mann zuckte erschrocken zurück, als er den Ausdruck auf Sam Caulders Gesicht wahrnahm. „Sam! – Ich bin´s nur, ich… ich wollte dich nicht erschrecken“, stammelte er mit abwehrend erhobenen Händen.

 

Pfeifend ließ der Angesprochene den Atem aus seinen Lungen entweichen, den er unwillkürlich angehalten hatte. „`T´schuldige, Lenny“, murmelte er. „Ich hab´ dich nicht gehört. – Du schleichst dich immer noch an wie ein Field-Agent.“ Mit einem verkniffenen Lächeln versuchte er, die Situation etwas zu entspannen.

 

Der so gelobte lächelte besänftigt und antwortete: „Schon gut, tut mir ja auch leid. Es gibt halt Sachen, die verlernt man nie, nicht wahr? – Was kann ich für dich tun?“

 

„Oh, ähm…Ich, …ähm…Mist, mir ist gerade aufgefallen, dass  ich oben noch was vergessen habe. Ich komme später noch mal“, fügte er dann noch fahrig hinzu, griff sich seinen Karton und lief eilig zurück zum Aufzug.

 

Kopfschüttelnd blickte ihm Lenny nach, bevor er sich schulterzuckend umdrehte, um mit seiner unterbrochenen Mahlzeit fortzufahren. Manchmal war er fast froh darüber, dass ihn damals die Kugel getroffen und für den Außendienst unfähig gemacht hatte. Der Druck dort oben an der Front schien immer größer zu werden. Er konnte wahrscheinlich froh darüber sein, dass er hier unten die meiste Zeit über seine Ruhe hatte.

 

 

Zurück im Großraumbüro

 

Seit einer Stunde war Sam Caulder nun schon damit beschäftigt, möglichst unauffällig herauszufinden, wozu DiNozzo die Tasche gebraucht hatte. Über Umwege hatte er die Corvara-Akte aufgerufen und alles inzwischen x-Mal überprüft, ohne dass er einen Anhaltspunkt dafür gefunden hätte, warum die Tasche plötzlich wieder von Interesse war. Doch unversehens begannen seine Hände zu zittern und seine Augen weiteten sich panisch. Er hatte soeben ein Dokument geöffnet, das erst vor kurzem als Anhang vom FBI gemailt wurde. Und binnen weniger Sekunden wusste er, warum der Agent aus Gibbs´ Team die Tasche geholt hatte!  … 16 kg …! Dieser verfluchte Lieutenant hatte in dem Bericht von 16 kg gesprochen. In der Tasche waren jedoch nur 10 kg erfasst worden, und er – Caulder – hatte sie zuletzt in den Händen gehabt. Das musste es sein! Diese Diskrepanz war DiNozzo mit Sicherheit aufgefallen! Was immer er von seinem Kollegen hielt – er wusste sehr gut, dass der Halbitaliener ein verflucht guter Ermittler war.

 

Caulders Gedanken überschlugen sich. Wie viel Zeit blieb ihm wohl noch, bis sie ihn verhaften würden? Allzu lange würde es vermutlich nicht mehr dauern. Blieben ihm Stunden? Tage? Oder gar weniger? Lag die Schlinge womöglich schon um seinen Hals und wartete nur darauf, zugezogen zu werden? Er spielte kurz mit dem Gedanken, sofort abzuhauen und unterzutauchen. Aber was war dann? Was hatte er von seinem Geld, wenn er ständig auf der Flucht wäre? Und wie lange würde das Geld reichen? Um sich irgendwo zur Ruhe zu setzen, dazu war das Kapital zu wenig. Zumindest wenn er so leben wollte, wie er sich ausgemalt hatte. Schließlich war er nur aus diesem Grund das Risiko eingegangen und hatte letztendlich alles dafür auf´s Spiel gesetzt. Wahrlich, er hatte keine Lust, jetzt unterzutauchen und weiter dieselben kleinen Brötchen zu backen, wie all die Jahre zuvor… Nein, es musste einen anderen Ausweg geben. Er musste nur gründlich nachdenken, dann würde ihm schon etwas einfallen…

 

Verflucht!!! Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und schloss für einen Augenblick die Augen. Er musste alles daran setzen, zu versuchen, das drohende Unheil abzuwenden! Doch wie sollte er das anstellen? Ruhig, ganz ruhig, befahl er sich im Stillen. Denk nach! Eins nach dem anderen! Bloß jetzt nichts überstürzen! Welche Beweise waren vorhanden? Seine Unterschrift, dass er die Tasche abgeliefert hatte. Das belastete ihn ganz klar. Und es stand in allen Unterlagen, dass es sich um 10 kg gehandelt hatte, während die letzte Aktennotiz des FBI diese Tatsache eindeutig widerlegte. Sicher, er konnte versuchen, dies als falsch und den Zeugen als unglaubwürdig dazustellen, doch das Risiko war zu groß, dass er damit nicht durchkäme.

 

Krampfhaft überlegte er weiter. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Er hatte schon in unzähligen Fällen ermittelt und er hatte schon zahlreiche Gerichtsverhandlungen miterlebt. Es reichte nicht, dass sie ihn für schuldig hielten, sie mussten es ihm beweisen und das konnten sie nur anhand der Tasche. - Vielleicht könnte er in der Akte ein oder zwei Mal das Gewicht des sichergestellten Heroins ändern, dann könnte er sich auf Unstimmigkeiten berufen und somit berechtigte Zweifel an seiner Schuld begründen. Ja, das wäre eventuell eine Möglichkeit... Allerdings hatte die „im-Zweifel-für-den-Angeklagten-Variante“ immer auch einen faden Beigeschmack und er konnte sicher sein, dass man ihn von da an sehr genau im Auge behalten würde.

 

Plötzlich richtete Caulder sich abrupt auf, ein Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen und hatte sich schnell in seinem Gehirn manifestiert. Genau! Das war die Lösung! Der Anders-Fall! Der Angeklagte war frei gekommen, weil irgendwo auf dem Weg zwischen FBI und NCIS die lückenlose Beweiskette unterbrochen worden war. Wer daran schuld gewesen war und wie es dazu hatte kommen können, war seinerzeit nie geklärt worden, aber der Anwalt hatte den Dreckskerl, der nachweislich drei Morde auf dem Gewissen hatte, aufgrund der Tatsache rausgeboxt, weil nicht mehr auszuschließen war, dass jemand anders als der Angeklagte die Beweise manipuliert hatte.

 

Am Ein- und Ausgangsbuch selbst konnte er nichts mehr ändern, das würde sofort bemerkt werden. Dieses Buch war für Lenny wie eine Bibel und was das anging, konnte man den Mann durchaus als streng gläubig bezeichnen, was bedeutete, dass er das Buch mehr oder weniger komplett im Kopf hatte. Gut, das konnte er sich also aus dem Kopf schlagen. Aber was war mit dem Beweisstück selbst … Wenn DiNozzo die Tasche später wieder zurück in die Asservatenkammer gebracht hatte, könnte er heimlich zwischen den Regalen den Laufzettel austauschen gegen einen, den er selbst angefertigt hatte. Lenny begleitete die Leute eigentlich nie in die Kammer hinein – außer er wurde ausdrücklich darum gebeten. Wahnsinn, wie klar plötzlich alles war. Es  brauchte nur die letzte Unterschrift von DiNozzo zu fehlen und schon konnte ein cleverer Anwalt den Fall kippen. Der Plan nahm vor seinem geistigen Auge immer mehr Form an. Wenn er zusätzlich noch die Zeit ändern würde, so dass das Abholen und Zurückbringen der Tasche nicht mehr übereinstimmte, gelang es ihm womöglich, sogar noch den Verdacht auf DiNozzo zu lenken. Damit würde er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und er wäre aus dem Schneider, selbst wenn der verhasste Mistkerl ihn weiterhin für schuldig halten würde. Sollte er doch! Er würde genug damit zu tun haben, Vance davon zu überzeugen, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte. Jeder wusste schließlich, wie labil der Typ seit dieser Geschichte mit Rebekka war. 

 

Caulder grinste böse vor sich hin. Ja, genau so würde er es machen! Den Laufzettel zu fälschen, sollte kein Problem für ihn darstellen und die nötigen Unterschriften von Abby und ein paar anderen würde er sich irgendwie erschleichen oder notfalls auch fälschen. Ein Glück, dass er darin wirklich talentiert war und mit einigen Stunden Übung würde alles auch einer forensischen Prüfung standhalten, dessen war er sich sicher. Nur DiNozzos Unterschrift würde fehlen und damit wäre der Schwarze Peter ihm zugeschoben. Ein schöner Gedanke: Er würde nicht nur sauber aus der Geschichte herauskommen, sondern gleichzeitig auch seinem verhassten Kollegen noch ein paar zusätzliche Probleme aufhalsen. Allerdings drängte die Zeit und so begann er unverzüglich mit seiner Arbeit.

 

To be continued - mal wieder in einem neuen Thread !

 

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