Glück im Unglück

Kapitel 1

Die Katastrophe hatte das Parkdeck innerhalb von wenigen Sekunden in einen gigantischen Trümmerhaufen verwandelt. Nikki krabbelte zitternd unter einem der völlig zerstörten Wagen hervor. Dass sie sich dabei tiefe Schnittwunden an scharfen Metallkanten zuzog, spürte sie kaum. Sprachlos vor Entsetzen und unter Schock stehend schaute die junge Frau sich um: Große Teile der Decke waren eingestürzt und hatten alles unter sich begraben. Einige aus den Trümmern herausragende Kabel versprühten unkontrolliert Funken und auf den ersten Blick wirkte kaum einer der hier geparkten Wagen noch fahrtüchtig. Aber so wie es aussah, brauchte sie sich darüber sowieso keine Gedanken zu machen, denn alle Zu- und Ausfahrten wie auch der Zugang zum Treppenhaus waren mit Trümmern übersäht. Auf den ersten Blick war da definitiv kein Durchkommen.

 

„Mein Gott“, flüsterte Nikki erschüttert. Hätte sie doch bloß direkt den Ausgang genommen - aber nein, sie musste ja in ihrer Panik so dämlich sein und in die Tiefgarage flüchten! Ausgerechnet! Leider Gottes war es ihr anscheinend auch noch gelungen, ihren Verfolger abzuschütteln. Sie war allein hier unten. Mutterseelenallein! Vermutlich hatte ihr Verfolger nicht so viel Glück gehabt wie sie, und lag jetzt zerschmettert hier irgendwo unter den Trümmern begraben. Ein kalter Schauer lief Nikki über den Rücken und schaudernd schlang sie die Arme um ihren zierlichen Körper. Es war grotesk, aber in diesem Moment wünschte sie sich tatsächlich, dass es anders wäre.

 

Es war alles so furchtbar schnell gegangen. Im Grunde wusste sie gar nicht so genau, was eigentlich tatsächlich geschehen war? Ihr war nur plötzlich aufgefallen, dass sich der Geräuschpegel um sie herum verändert und an Lautstärke stark zugenommen hatte. Innerhalb weniger Augenblicke hatte das Krachen und Kreischen dann derartige Ausmaße angenommen, dass Nikki sich, ohne lange darüber nachzudenken, blindlings unter einen geparkten SUV gerettet hatte. Als sie nun über ihre Schulter zurück blickte, musste sie feststellen, dass wenigstens das wohl die richtige Entscheidung gewesen war, denn auch der Wagen, der sie gerettet hatte, war durch eine herunter gefallene Deckenplatte aus Beton stark eingedrückt worden. Alleine der Tatsache, dass diese Art Wagen höher als ein normaler PKW war, hatte Nikki es zu verdanken, dass sie nicht unter dem Auto zerquetscht worden war.

 

Nikki stöhnte gequält auf. Himmel! Kein Mensch würde hier unten nach ihr suchen! Sie war völlig auf sich allein gestellt. Gut, das war normalerweise nichts Neues für sie, aber in dem Fall…Mann, konnte sie denn niemals etwas richtig machen? Es gab eine Menge Leute, die handelten – besonders wenn sie in Bedrängnis waren – immer irgendwie instinktiv richtig. Wieso zum Teufel konnte sie nicht auch einmal dazu gehören? Aber nein, sie langte mal wieder todsicher den Griff ins Klo.

 

Vorsichtig setzte sich die junge Frau langsam in Bewegung, während sie furchtsam diese grässlichen herumzuckenden Kabel im Auge behielt. Diese Dinger bereiteten ihr eine Scheißangst und sie wollte sich gar nicht ausmalen, was es für Auswirkungen hätte, wenn sie damit in Berührung käme. Bloß nicht berühren – bitte, bitte, bloß nicht berühren! Noch bevor Nikki den Gedanken zu Ende gedacht hatte, sprang sie mit einem erschrockenen Aufschrei zur Seite, als eines der längeren Kabelenden sich plötzlich in ihre Richtung schlängelte und förmlich nach ihren Waden zu greifen schien. Verdammt! Das war gerade noch mal gut gegangen.

 

Eins war klar: Sie musste so schnell wie möglich einen Weg nach draußen finden. Der Zugang zum Treppenhaus war zwar auch verschüttet, aber so wie es aus ihrer Perspektive aussah, gab es dort einen schmalen Spalt, durch den sie sich mit ein bisschen Glück hindurchquetschen konnte! Das musste einfach klappen und wenn sie sich dabei weitere Blessuren holte…egal! Darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie musste hier raus und zwar zackig. Sie konnte nur hoffen und beten, dass wenigstens das Treppenhaus noch einigermaßen intakt war.

 

Kapitel 2

„Scheiße!“ Nikkis herzhafter Fluch hallte gespenstisch laut durch das menschenleere Parkdeck!

 

Es gab kein Treppenhaus mehr! Der Weg nach oben schien komplett verschüttet – unpassierbar! Zutiefst frustriert starrte die junge Frau aber auch gleichermaßen wütend auf das Chaos, das sich ihren Augen bot. Erst hatte sie eine gefühlte Ewigkeit lang kleinere Trümmer, die sich vor der Stahltür, die ins Treppenhaus führte, stapelten, mit bloßen Händen weggeräumt. Als das endlich geschafft war und ihr die freigelegte Lücke groß genug erschienen war, hatte Nikki sich mit viel Mühe durch den schmalen Schlitz zwischen dem verbogenen Stahlrahmen und der dicken Feuersicherheitstür gezwängt Und jetzt sollte das alles völlig umsonst gewesen sein? Die ganze Mühe für nichts und wieder nichts? Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Fassungslos blickte Nikki nach oben. Tonnenweise Stahl und Beton versperrten ihr zum Dank nun den Weg an die rettende Oberfläche. Verdammter Mist! Nein, das würde sie nicht akzeptieren. Sie war hart im Nehmen und wenn sie eins im Laufe der Jahre gelernt hatte, dann das Jammern nichts nützte. Was unterm Strich bedeutete, dass sie genau da jetzt durch musste, wenn sie auch nur den Hauch einer Chance auf Rettung haben wollte. Ein entschlossener Ruck ging durch Nikkis Körper und leise vor sich hinfluchend machte sie sich auf den Weg.

 

Nach stundenlanger Schwerstarbeit erreichte sie schließlich die Plattform zum nächsten Parkdeck und ließ sich erschöpft vorsichtig auf einem Stück herabgestürzter Deckenplatte nieder. Sie war mit ihren Kräften am Ende und brauchte unbedingt eine kurze Pause. Wie spät mochte es mittlerweile wohl sein? Wie viel Zeit war seit der Katastrophe vergangen? Nikki hatte nicht die geringste Ahnung, aber sie ging davon aus, dass es besser war, dass sie keine genaue Zeit wusste. Es hätte sie wohl nur noch mehr deprimiert und ihren weiteren Tatendrang ausgebremst, wenn sie gewusst hätte, wie lange sie für dieses kurze Stück Weg benötigt hatte. Genau das durfte sie sich nicht erlauben. Nein, kam gar nicht in Frage – sie würde sich nicht hängenlassen!

 

Nikki seufzte tief und strich sich erschöpft mit blutigen Händen das verschwitzte, staubige, tiefschwarz gefärbte Haar aus der Stirn. Ein wenig Staub rieselte ihr in den Schoß und sie fragte sich unwillkürlich, wie sie wohl aussehen mochte. Sicherlich chaotisch. Sie fühlte die Schweißperlen, die in ihrem hübschen Gesicht glänzten und sich pausenlos den Weg von ihrer Stirn über ihre Wangen bis hin zum Halsansatz suchten, um von dort aus im Ausschnitt ihres Tank-Tops zu verschwinden, das vorne bereits schweißgetränkt war. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, trotz der kurzen Pause, immer noch schnell und stoßweise und bestimmt stank sie schon wie ein Iltis. Prüfend schnupperte Nikki an ihrer Achselhöhle und verzog gleich darauf angewidert das Gesicht. Puh, vielleicht war es ja wirklich besser, alleine unterwegs zu sein, dachte sie, bevor sie sich schließlich einen Ruck gab. Es nützte ja alles nichts, sie musste weiter, ob sie wollte, oder nicht. Hier unten konnte sie auf jeden Fall nicht bleiben, denn eins war klar: Irgendwann würde man von oben her die Trümmer einfach beiseite räumen und zwar dann, wenn die Rettungsmannschaften an der Oberfläche beschlossen, dass es in dem ganzen Schutt niemanden mehr zu bergen gab, bzw. niemand mehr am Leben sein konnte, was letztlich bedeutete, dass man bei der Räumung des Geländes sicherlich nicht besonders vorsichtig zu Werke gehen würde. Da dort oben keiner wusste, dass sie hier unten eingeschlossen war, war es mehr als wahrscheinlich, dass sie bei einer Räumungsaktion endgültig verschüttet werden würde. Wahrlich keine sonderlich erquickende Vorstellung. Sie sollte wirklich keine weitere Zeit vergeuden.

 

Als Nikki sich von ihrer unbequemen Sitzgelegenheit erhob, lösten sich einige kleinere Gesteinsbrocken und polterten mit lautem Getöse nach unten. Sollten sie doch, dachte Nikki grimmig. Die waren ihr wenigstens nicht mehr im Weg, denn nach unten würde sie garantiert nicht mehr gehen. Ihr Weg führte nach oben – egal wie! Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als plötzlich…

 

„Hallo? Hallo? – Hilfe! – Ist da jemand? Hey, ich brauche Hilfe!“

 

Vergessen war all das, was Nikki noch vor wenigen Minuten gedacht hatte. Alles, was sie jetzt fühlte, war grenzenlose Erleichterung. Sie war nicht allein! Gott sei Dank!

 

„He, wo stecken Sie denn? Ich kann Sie nicht sehen!“, rief sie so laut sie konnte. „Hallo???“

 

„Ich bin hier unten! Irgendwo zwischen drittem und viertem Parkdeck. Da ist durch den Einsturz so eine Art Höhle entstanden. Ich glaube, es ist links von Ihnen.“

 

Nikki konzentrierte sich auf den Klang der Stimme und hatte so schnell herausgefunden, wo sie herkam. Vorsichtig kletterte sie über einige lose Trümmerteile und eilte dorthin, wo sie ihren Leidensgenossen, und ab jetzt Mitstreiter, vermutete. „Bin schon da! Mann, Sie glauben ja nicht, wie froh ich bin, dass ich hier noch auf Jemanden treffe.“

 

„Sie müssen die Steine wegräumen!“, kam eine Männerstimme von unten aus dem Loch. „Meinen Sie, Sie schaffen das?“

 

„Klar, es dauert nur ein bisschen.“ Nikki hatte schon mit der Arbeit begonnen. „Sind Sie verletzt?“

 

„Ich glaube nicht.“ Die Stimme wurde deutlicher. „Aber passen Sie auf! Das sieht von hier unten alles sehr locker aus – wenn das Zeug runter kracht, dann bin ich geliefert.“

 

„Ja doch, ja! Machen Sie mich nicht kirre! Ich bin ja dabei. Ich...“ In diesem Augenblick gelang es Nikki das Loch freizulegen und neugierig beugte sie sich über die entstandene Öffnung. „Sie?“, entfuhr es ihr gleich darauf entsetzt, als sie den Kaufhausdetektiv, der sie vor der Katastrophe so verdammt hartnäckig durch das Einkaufszentrum verfolgt hatte, erkannte. „Scheiße, Mann, Sie haben mir echt gerade noch gefehlt!“

 

Kapitel 3

„Und? Was nun? Wollen Sie mir helfen, oder lassen sie mich alleine hier unten zurück?“, fragte der Mann ruhig und anscheinend emotionslos.

 

„Reden Sie kein Blech“, sagte Nikki knapp. „Was ist? Schaffen Sie es alleine hier hoch?“

 

„Nein, sonst hätte ich wohl kaum gefragt, ob Sie mir helfen, oder? Mein rechtes Bein ist eingeklemmt. Es liegt wohl in einer Art Hohlraum, aber ich kann es nicht rausziehen. Ich bräuchte `ne Stange oder so etwas in der Art. Irgendwas stabiles, was ich als Hebel einsetzen kann.“

 

„Okay, Moment.“ Nikki schaute sich um. Ihr Blick fiel auf eine einzelne Eisenstrebe des ehemaligen Treppengeländers. Nicht allzu lang, aber stabil und etwas Besseres war nicht in Sicht. Sie konnte nur hoffen, dass die Strebe ausreichte. „Hier, versuchen Sie es damit!“ Sie beugte sich wieder über die Öffnung und ließ die Stange vorsichtig hinunter gleiten.

 

„Danke.“ Für kurze Zeit war nur das Ächzen und Stöhnen des Mannes zu hören, während er versuchte den Steinbrocken auszuhebeln, der sein Bein festhielt. „Ja!“, kam dann endlich die erlösende Nachricht von unten.

 

Nikki atmete erleichtert aus. „Okay, wie geht´s jetzt weiter?“, wollte sie dann wissen und beobachtete, wie der Mann unten im Loch sein durch die lange unnatürliche Haltung verkrampftes Bein massierte, um so die Blutzirkulation wieder auf ein normales Maß zu bringen.

 

„Ich weiß nicht“, kam die ehrliche Antwort. „Ich glaube nicht, dass klettern eine besonders gute Idee wäre. Wenn ich mich mit meinem Gewicht an diese Vorsprünge hänge, dann…“ Er ließ das Ende des Satzes offen und prüfte mit den Augen intensiv die Wände um ihn herum, die insgesamt alles andere als widerstandsfähig wirkten. „Wahrscheinlich ist es vernünftiger, wenn Sie alleine weitergehen und Hilfe holen“, meinte er dann. „Immerhin wissen Sie ja jetzt, wo ich bin und bewegen kann ich mich dank Ihrer Hilfe ja auch wieder. Ich werde einfach hier warten, okay?“

 

„NEIN!“ Nikki´s Weigerung klang mehr wie ein entsetzter Aufschrei! Als sie dies registrierte, holte sie einmal kurz Luft und sammelte sich, bevor sie fortfuhr. „Das kommt gar nicht in Frage. Wer weiß, was mich auf dem Weg nach oben noch erwartet.“ Sie legte sich flach auf den Bauch, robbte bis an den Rand der Öffnung ran und versicherte sich dann noch, dass ihre Füße genügend Halt fanden, bevor sie schließlich beide Arme so weit nach unten streckte, wie es ihr möglich war. „Na los“, forderte sie ihren Verfolger dann auf. „Packen Sie meine Handgelenke und halten Sie sich gut daran fest. Ich werde versuchen, Sie hochzuziehen.“

 

„Trauen Sie sich das wirklich zu“, kam zweifelnd die Antwort von unten.

 

„Nein, eigentlich nicht, aber haben wir eine Wahl?“, fauchte Nikki. „Na los, machen Sie schon, bevor ich es mir noch anders überlege.“

 

„Haben Ihre Füße sicheren Halt?“

 

„Halten Sie mich für blöd?“

 

„Schon gut.“ Der Mann wuchtete unter angestrengtem Stöhnen eine Betonplatte so in Position, dass sie ziemlich genau unter Nikki´s Armen lag. Dann nutzte er die Platte als Plattform, damit er besser an die Arme der jungen Frau heranreichte. Gleich darauf fühlte Nikki, wie sich seine Hände fest um ihre Handgelenke schlossen.

 

Nach einem kurzen Zögern packte auch Nikki fest zu und atmete zur Sicherheit noch einmal tief durch. „Alles klar? Kann´s losgehen?“

 

„Ja, los! Aber seien Sie vorsichtig – es bringt uns gar nichts, wenn Sie auch noch hier unten landen.“

 

Ein erbostes Schnaufen war alles, was Nikki hierauf als Antwort übrig hatte. Kurz darauf schnaufte sie schon wieder – dieses Mal, als sie spürte, wie sich der Mann mit seinem ganzen Gewicht an ihre Arme hängte. Sie war zwar darauf vorbereitet gewesen, doch als es tatsächlich soweit war, war sie doch ziemlich überrascht über die Dimension seines Gewichtes. Wow! Soweit sie das von oben hatte beurteilen können, hatte der Typ figürlich doch eigentlich recht normal ausgesehen…Großer Gott, wenn sie geahnt hätte, dass sein Gewicht dem eines ausgewachsenen Grizzly´s nahekam, hätte sie diesen wahnwitzigen Vorschlag nie gemacht. Jetzt allerdings kam ein Rückzieher nicht mehr in Frage!

 

„Hey, alles okay bei Ihnen?“

 

„Ja…ja klar. Keine Sorge. Achtung, es geht los.“

 

Es war ein schwieriges Unterfangen – weitaus schwieriger, als Nikki gedacht hatte und die Aktion verlangte ihr alles ab. Sie kamen nur zentimeterweise vorwärts und zwischendurch hatte sie das sichere Gefühl, dass sie es nicht zu Ende bringen könnte. Zudem setzte ihr der Staub, der bei jeder ihrer Bewegungen so dicht über dem Boden wieder aufwirbelte, zusätzlich zu. Im Nachhinein wünschte sie sich, etwas vor Mund und Nase gebunden zu haben, aber nun war es zu spät. Außerdem…was hätte sie nehmen sollen? Immerhin trug sie nur ein dünnes T-Shirt. Ihre Jacke war ihr bei der wilden Flucht durch das EKZ von der Tasche gerutscht. Zum wiederholten Male musste sie ein Husten unterdrücken, denn jedes Mal, wenn sie sich räusperte geriet der Mann an ihren ausgestreckten Händen gefährlich ins Schwanken.

 

Nikki´s Kraftreserven schwanden mehr und mehr. Der Mann unter ihr schien das zu bemerken, obwohl sie kein Wort verlauten ließ und auch er nichts dazu sagte. Doch je länger der Kraftakt dauerte, desto öfter versuchte er, sie zu unterstützen, indem er sich mit den Füßen an dem lockeren Gestein abzustützen versuchte, was Nikki jedes Mal dankbar zur Kenntnis nahm, denn es verschaffte ihr wenigstens kurze Verschnaufpausen. Doch es ging vorwärts… langsam aber stetig. Loslassen kam für die junge Frau nicht in Frage! Ächzend und stöhnend robbte Nikki Zentimeter für Zentimeter zurück, immer wieder neu mit den Füßen nach sicherem Halt suchend und immer wieder stille Stoßgebete gen Himmel schickend. Endlich gelang es dem Verschütteten mit einer Hand nach dem Rand der Öffnung zu greifen und im ersten Moment wollte Nikki es sich schon gestatten, erleichtert aufzuatmen, doch im nächsten Augenblick stockte ihr bereits wieder der Atem.

 

Die verzweifelt nach Halt suchende Hand erwischte nur lockere aufliegendes Gestein, welches postwendend nachgab und dazu führte, dass der Mann abrupt loslassen musste, stark ins Schaukeln geriet und schließlich nur noch an Nikki´s rechtem Arm baumelte. Die schrie erschrocken auf und griff beherzt mit ihrer 2. Hand zu, so dass der Mann unter ihr wenigstens wieder etwas zur Ruhe kam. Nikki hingegen bekam mehr und mehr das Gefühl, als würde ihr Schultergelenk jeden Augenblick aus der Kugel springen und sie biss die Zähne mit solcher Wucht zusammen, dass sie hörbar knirschten. Ihr Arm brannte wie Feuer und sie wusste nicht, wie lange sie dieser Last noch standhalten konnte.

 

„Scheiße! Was soll ich tun?“, keuchte sie.

 

„Nicht loslassen! – Lass um Himmels Willen jetzt nicht los!“

 

„Ha, witzig! Wirklich!“

 

„Zieh´! Zieh´ so fest du kannst! Aber mach schnell!“

 

Ohne Rücksicht auf das permanent weiter bröckelnde Gestein unter ihr und ihre Schmerzen robbte Nikki, mit dem Mut der Verzweiflung ihre allerletzten Kraftreserven mobilisierend, rückwärts, während sie ihre Last gleichzeitig Stück für Stück höher an den rettenden Rand hinaufzog.

 

„Ja! Weiter so! Nur noch ein ganz kleines bisschen! Gleich hab ich´s!“, feuerte der Mann sie ohne Unterlass an.

 

„Mann! Halt endlich die Klappe!“, zischte Nikki zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie sich vorsichtig Millimeter für Millimeter nach hinten schob. Gleich darauf spürte sie zu ihrer grenzenlosen Erleichterung, wie ihre Arme vom Körpergewicht des Mannes befreit wurden. Sie stöhnte auf und robbte sich eine sitzende Position, während sie gleichzeitig ihre malträtierten Handgelenke ausschüttelte. Dann beobachtete sie ängstlich, wie der Mann sich mit den Händen an den Rand klammerte und seinen Körper Stück für Stück mit einer immensen Kraftanstrengung per Klimmzug nach oben zog. „Das geht nicht gut – verdammt, das geht nicht gut“, murmelte Nikki und stemmte sich mit beiden Füßen breitbeinig links und rechts ab. Fast im Spagat sitzend beugte sie sich nach vorn und packte erneut die Handgelenke des Mannes und half ihm, endgültig nach oben zu gelangen.

 

„Wow!“ Kaum hatte der Verschüttete die letzte Hürde überwunden, rutschte er eilig ein Stück weiter nach hinten in Sicherheit, während Nikki schwer atmend auf der Stelle sitzenblieb. „Pass auf!“, schrie er gleich darauf, packte Nikki hart an den Schultern und zog sie mit einem Ruck zu sich nach hinten, was diese erneut mit einem erschrockenen Aufschrei kommentierte. Danach starrte sie mit großen Augen auf die Stelle, wo sie gerade noch gesessen hatte: Die durch den Einsturz nur locker aufeinander liegenden Gesteinsbrocken hatten endgültig der Belastung nachgegeben und waren laut polternd in die Tiefe gekracht.

 

Kapitel 4

Schwer atmend saßen die beiden Eingeschlossenen hintereinander auf den Trümmern und starrten schweigend auf die Stelle, wo bis vor wenigen Minuten noch das Loch gewesen war, aus dem Nikki ihren Verfolger so mühevoll befreit hatte. Jetzt war alles komplett zugeschüttet und noch immer schien sich das Gestein leicht knirschend einen endgültigen Platz zu suchen, während sich der neu aufgewirbelte Staub nur langsam wieder legte. Dadurch dauerte es eine Weile, bis den Verschütteten wieder eine bessere Einschätzung der Lage nach dem neuerlichen Einsturz möglich war.

 

„Wow! Ich würde sagen, das war knapp“, gab Nikki schließlich betont cool von sich, nachdem sie ihren Schreck über diese erneute Fast-Katastrophe etwas verdaut hatte.

 

„Allerdings“, kam direkt hinter ihr, dicht an ihrem Ohr, die Zustimmung. Dann – nach einer Pause – setzte ihr Verfolger leise hinzu: „Hey, danke! Ich denke, Sie haben mir gerade das Leben...“

 

„Quatsch“, unterbrach Nikki den Mann grob, während sie gleichzeitig vorsichtig darauf bedacht war, etwas mehr Abstand zwischen sich und ihren Kontrahenten zu bringen. „Hören Sie auf mit dem Schmus!“ Mit leicht schief gelegtem Kopf warf sie ihm einen wütenden Blick zu. „Das bringt uns keinen Schritt weiter.“

 

Der Mann grinste schief: „Okay, ich verstehe. Lassen wir das. – Mein Name ist Andreas Winter. Und wer sind Sie?“

 

Nikki ging bewusst nicht auf die Frage ein. Ihr Name ging den Typen gar nichts an. „Haben sie `ne Ahnung, was hier eigentlich passiert ist?“, fragte sie stattdessen.

 

„Nein. Während ich hinter Ihnen her war und versuchte, Sie einzuholen, gab es plötzlich einen Riesenknall und alles brach über mir zusammen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Als alles vorbei war, fand ich mich in diesem Loch wieder. Dann kreuzten irgendwann Sie auf. Mehr weiß ich auch nicht.“ Er blickte Nikki kurz direkt in die Augen. „Hey, Sie sind übrigens ganz schön schnell. Respekt! Wahrscheinlich wären Sie mir glatt durch die Lappen gegangen.“

 

Nikki schüttelte genervt den Kopf, wich seinem Blick aus und beobachtete lieber verstohlen aus den Augenwinkeln, wie Andreas Winter erneut sein Bein massierte. Er mochte schätzungsweise Anfang 30 sein – plus minus ein bisschen. Das dunkle, leicht wellige Haar traf im Nacken auf seinen Kragen war durch den Staub mit einem dichten Grauschleier überzogen. Die Schmutzspuren in seinem markanten Gesicht ließen seine unglaublich blauen Augen noch heller wirken, wie Nikki wiederholt bemerkte, als er ihr aus seiner Position einen schnellen Seitenblick zuwarf, was sie wiederum dazu veranlasste, eilends in eine andere Richtung zu schauen. Doch sie hatte auch so genug gesehen. Andreas Winter war groß, schlank, sportlich lässig gekleidet und wirkte, aus der Nähe betrachtet, sogar recht sympathisch.

 

„Und? Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“, fragte Winter jetzt mit unüberhörbar leicht spöttischem Unterton.

 

„Sie sehen gar nicht aus wie ein Detektiv“, platzte Nikki gegen ihren Willen heraus und ärgerte sich gleich darauf über sich selber, denn sie hatte gar nicht vorgehabt, auf seine provozierende Bemerkung zu antworten.

 

„So? Finden Sie? Na ja, kann schon sein.“ Andreas musterte sein Gegenüber jetzt seinerseits ungeniert mit einem entwaffnenden Grinsen im Gesicht, wobei sich ein Grübchen auf seiner linken Wange bildete. Offenbar hatte er sie durchschaut. Dann hob er eine Hand und deutete kurz auf Nikki´s Gesicht. „Sagen Sie, dieses Piercen in der Nase – tut das eigentlich weh?“

 

„Was?“ Nikki war mehr als perplex. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit dieser Frage.

 

„T´schuldigung, aber das wollte ich ehrlich immer schon mal wissen. Ich tu mich einfach schwer mit der Vorstellung, dass es Menschen gibt, die sich freiwillig durchlöchern lassen. Und da Sie mir schon nicht verraten wollen, wie Sie heißen, dachte ich mir, ich hätte zumindest `ne andere Frage gut. Wäre nur gerecht – finden Sie nicht?“

 

„Mann, Sie haben vielleicht Sorgen.“ Nikki schüttelte missbilligend den Kopf. „Haben Sie ein Handy?“, wollte sie dann nach einer kurzen Pause wissen. „Meins ist kaputtgegangen als ich mich unter das Auto geschmissen habe“, log sie glatt hinterher, um so gleich unliebsamen Fragen vorzubeugen. Seit einiger Zeit besaß sie überhaupt kein funktionierendes Mobiltelefon mehr. Einen Vertrag bekam sie nicht und um ihr Uraltgerät mit einer Karte zu füttern, fehlte ihr derzeit schlichtweg das Kleingeld.

 

„Ja, schon. Aber hier unten habe ich keinen Empfang“, antwortete ihr Mitstreiter, während er das Gerät aus seiner Hosentasche zog und zur Sicherheit noch einmal einen kontrollierenden Blick auf das Display warf und dann bedauernd den Kopf schüttelte. „Immer noch nichts!“

 

„Mist! – Wie sieht´s denn aus? Können Sie laufen?“, stellte Nikki dann die nächste Frage, die ihr unter den Nägeln brannte. Wenn die Technik schon nicht funktionierte wollte sie wenigstens so schnell wie möglich weiter.

 

„Ich denke schon. Was ist mit Ihren Verletzungen?“ Andreas deutete auf Nikki´s zahlreiche Schnitt- und Schürfwunden an Händen und Unterarmen, die sie sich bei seiner Rettungsaktion zugezogen hatte. „Die sehen echt übel aus.“

 

„Nicht der Rede wert.“ Um nichts in der Welt hätte Nikki zugegeben, dass die Wunden tatsächlich höllisch wehtaten. „Beim Laufen werden sie mich nicht behindern. Kommen Sie, wir sollten keine Zeit verlieren. Wer weiß, was hier sonst noch alles einkracht.“ Damit drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und machte sich daran, die ersten Trümmer, die ihnen den Weg nach oben versperrten, mit ihren zerschundenen Händen beiseite zu räumen. Sie hoffte, dass Andreas durch ihr Handeln verstand, dass ihr nicht nach Smalltalk zumute war. Natürlich war sie froh, dass sie nun nicht mehr alleine unterwegs sein musste, aber dass ausgerechnet der Mann, der sie vor dem Unglück so hartnäckig verfolgt hatte, ihr nun zur Seite stand, das mutete schon merkwürdig an. Im Stillen machte sie sich bereits Gedanken darüber, wie sie sich – wenn sie es denn gemeinsam an die Oberfläche schaffen sollten – am besten unauffällig verdünnisieren könnte. Nach ihrer spontanen dummen Bemerkung von eben, war es definitiv besser, sie ließ sich von ihm nicht wieder in irgendwelche Gespräche verwickeln. Oh nein, sie würde gewiss nicht den Fehler machen, Andreas Winter zu unterschätzen – da konnte er so sympathisch wirken wie er wollte!

 

Hartnäckig schweigend räumte Nikki Stein um Stein beiseite und registrierte dankbar, wie Andreas an ihre Seite trat und das Gleiche tat. Nach einigen Minuten packte er sie jedoch plötzlich am Arm und hielt sie zurück.

 

„Hey, ist es nicht ein wenig kontraproduktiv, wenn wir nebeneinander arbeiten? Ich meine, wozu brauchen wir eine breite Schneise? Lassen Sie mich mal vorbei. Ich gehe voran“, sagte er bestimmt.

 

Nikki dachte kurz nach. Andreas hatte natürlich recht. Einerseits fand sie die Vorstellung durchaus reizvoll hinter Andreas einen bereits vorbereiteten Weg vorzufinden und nur noch klettern zu müssen. Andererseits aber brachte sie das in die Defensive und er würde ihr den Weg versperren, wenn sich ihnen unterwegs womöglich überraschend ein Weg ins Freie offenbaren sollte. Dann saß sie in der Falle! Unwiderruflich! Die altbekannte Panik stieg in Nikki auf und lähmte sie für einen Moment lang.

 

„Hören Sie, ich will gar nicht wissen, worüber Sie jetzt schon wieder nachgrübeln, aber Diskussionen sind in dem Fall zwecklos, klar?“ Mit sanfter Gewalt schob Andreas Nikki zur Seite und drückte sich an ihr vorbei. Die junge Frau, die sich jetzt hinter ihm befand und ihm weiterhin schweigend folgte, imponierte ihm, aber sie stellte ihn auch vor Rätsel. Er hatte allerdings nicht vor, diese jetzt zu lösen. Dafür war später noch Zeit. Offensichtlich aber war, dass sie bei dem Harakiriakt, ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien, eine Menge Kraft gelassen hatte. Daher hatte er beschlossen, ihr wenigstens jetzt ein wenig Erleichterung gönnen. Die Wunden an ihren Händen und Armen mussten sehr schmerzen – auch wenn sie es nicht zugeben wollte – und er wollte verdammt sein, wenn er sie hier weiter die Trümmer für ihn aus dem Weg räumen ließ. Er war sich nicht sicher, was diese Frau vor ihm verbergen wollte. Darum würde er sich später kümmern, denn dass sie etwas vor ihm verheimlichte, war mehr als offenkundig. Um Andreas´ Lippen spielte ein leichtes Lächeln, als er an das Verhalten der jungen Frau im Laden denken musste. Als er sie angesprochen hatte und dabei auf sie zugegangen war, war sie aus dem Geschäft gestürmt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Nein, vermutlich musste man kein Detektiv sein, um zumindest ahnen zu können, warum sie so reagiert hatte. Und doch hatte sie eben keine Sekunde gezögert, ihm zu helfen, was wiederum sehr für ihren Charakter sprach…Während Andreas langsam aber sicher für sich und Nikki einen Weg hinauf zum nächsten Parkdeck bahnte, reifte in seinem Kopf eine Idee…ein Plan, der – je mehr er darüber nachdachte – schnell konkretere Formen annahm.

 

Hinter ihm versuchte seine junge Begleiterin gerade verzweifelt einen Hustenanfall zu unterdrücken – schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit – und Andreas rief sich ins Gedächtnis, dass sie vermutlich – nein, nicht vermutlich, sondern ganz bestimmt sogar – erschöpfter war, als sie es bereit war, vor ihm zuzugeben.

 

„Hey, alles in Ordnung bei Ihnen?“, erkundigte er sich sicherheitshalber über die Schulter.

 

„Ja, ja, alles klar – es ist nur dieser scheiß Staub hier“, antwortete ihre Stimme hinter ihm und Andreas fiel auf, wie rau sie sich plötzlich anhörte. Er musste etwas unternehmen, um ihr zu helfen, bevor sie ihm unterwegs schlapp machte und zwar schnell! Denn eins stand für ihn fest: Auf gar keinen Fall würde er sie hier alleine zurücklassen!

 

Kapitel 5

Als Nikki die Augen aufschlug, wusste sie im ersten Augenblick zunächst nicht, wo sie sich befand. Verwirrt richtete sie sich aus ihrer halbsitzenden Position auf und schaute sich um. Trümmer – nichts als Trümmer, wohin sie auch blickte. Umgehend fiel ihr wieder ein, was geschehen war und als auch der trockene Reizhusten sie gleich wieder quälte, ließ Nikki sich matt zurücksinken. Sie öffnete ihre große Umhängetasche und wühlte darin herum, bis sie die kleine Pumpdosierflasche gefunden hatte, die ihr der Arzt vor einer Weile verschrieben hatte. Im Regelfalle kam sie mit ihrem leichten Asthma gut zurecht – es behinderte sie noch nicht einmal beim Joggen – doch der immense Staub hier unten, der permanent bei jedem Schritt wieder aufgewirbelt wurde, setzte ihr mittlerweile sehr zu und zum ersten Mal war sie froh und dankbar, dass der Arzt darauf bestanden hatte, dass sie dieses Hilfsmittel für den Notfall immer mit sich führte. Nikki setzte das Gerät an den Mund und inhalierte ein paar Mal tief ein. Gleich darauf spürte sie, wie das Medikament seine Wirkung tat. Erleichtert atmete sie einige Male tief durch. Erst danach fiel ihr plötzlich auf, dass sie sich offenbar alleine auf dieser Plattform befand.

 

Andreas! Wo zum Teufel steckte ihr Mitstreiter? Verdammt! Nachdem sie gemeinsam den ehemaligen Flur der nächsten Ebene erreicht hatten, hatte sie sich von ihrem Begleiter dazu überreden lassen, sich ein paar Minuten auszuruhen. Da sie keine Lust, auf ellenlange Diskussionen gehabt hatte und ziemlich am Ende ihrer Kraft gewesen war, hatte sie schließlich nachgegeben und sich eine einigermaßen bequeme Sitzposition mit einer Möglichkeit zum Anlehnen gesucht. Danach musste sie kurz eingeschlafen sein und jetzt war er verschwunden! Weg! Einfach so! Na toll! Das war also sein Dank dafür, dass sie ihm so uneigennützig aus der Klemme geholfen hatte. Sie hätte es wissen müssen! Wahrscheinlich war Andreas Winter inzwischen längst oben und hatte bereits die Kavallerie auf sie angesetzt. Wie hatte sie nur so naiv sein und glauben können, dass er das hier gemeinsam mit ihr durchstehen würde? Vielleicht weil er so hübsche blaue Augen und ein so gewinnendes Lächeln hatte? Lachhaft! Ein paar Wuttränen wollten sich ihren Weg bahnen, doch Nikki blinzelte sie energisch zurück.

 

Nun gut, jetzt war sie also wieder auf sich allein gestellt. Wie lange mochte sie wohl geschlafen haben? Nikki´s Überlebensgeister erwachten langsam wieder und sie beschloss, sich auch alleine weiter nach oben zu kämpfen. Koste es, was es wolle – sie musste hier raus. Selbst wenn man sie dort oben schon erwarteten sollte. Alles war besser, als hier unten auf den endgültigen Supergau zu warten. Leicht würde es sicher nicht werden, das war klar. Zweifelnd betrachtete sie die dünnen Sohlen ihrer Leinenschuhe. Schon eben hatte sie jede kleine Unebenheit gespürt – jeden verdammten spitzen Stein, und davon gab es eine Menge hier in diesem Trümmerhaufen. Lange würde es sicher nicht mehr dauern, bis sie die Sohlen komplett durchgelaufen hatte. Dann wäre sie quasi barfuß unterwegs. Keine tolle Vorstellung. Und wenn sie sich ihre blutigen Hände so anschaute…

 

„Elender Scheißkerl!“ Nikki´s Wut und Enttäuschung brachen sich Bahn, während sie bitter auflachte. Keine Frage: Sie war jetzt zwar 2 Decks weiter oben, aber ihre Lage hatte sich insgesamt deutlich verschlechtert. Hätte sie diesen Mistkerl doch bloß sich selbst überlassen! Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, wütend mit der Faust auf einen neben ihr befindlichen Steinhaufen einzuschlagen. Bloß nicht! Schließlich brauchte sie ihre Hände noch.

 

„Hey, was ist so lustig?“ Steine knirschten und Andreas Winter quetschte sich durch den Spalt in der verbogenen Tür zum Parkdeck wieder in das zerstörte Treppenhaus hinein. „Lassen Sie mich mitlachen!“, forderte er und blickte Nikki fragend an, die ihn mit großen Augen baff erstaunt musterte. Erstaunt, ja! Aber offensichtlich auch wütend, wenn er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete.

 

„Mann! Da sind Sie ja endlich wieder“, fauchte sie ihn empört an. „Wo zum Teufel haben Sie denn gesteckt?“

 

„Du meine Güte. Das klingt ja fast, als hätten Sie mich vermisst“, kam prompt seine amüsierte Reaktion. „Wer hätte das gedacht?“

 

„Träumen Sie weiter“, blaffte Nikki unfreundlich in seine Richtung.

 

„Hey, nicht aufregen. Hier, schauen Sie lieber, was ich gefunden habe.“ Andreas hielt eine kleine Plastikflasche voll Mineralwasser hoch. „Na, was halten Sie davon? Interesse?“

 

„Eine Menge“, rief Nikki mit leuchtenden Augen und streckte verlangend ihre Hände aus. „Geben Sie her, ich bin am Verdursten.“ Sie setzte die Flasche an und trank gierig, bevor sie plötzlich innehielt. „Was ist mit Ihnen?“

 

„Schon okay, ich hatte schon. Da war noch mehr.“

 

„Oh, na dann…“ Nikki nickte ihm zu und verschloss die Flasche wieder sorgfältig. „Was ist?“, erkundigte sie sich dann, als sie Andreas´ verwunderten Blick bemerkte.

 

„Na ja, ich dachte, Sie hätten Durst.“

 

„Hab´ ich auch.“ Nikki zuckte mit den Achseln. „Aber wer weiß, wann wir das nächste Mal was kriegen.“ Sorgfältig verstaute sie die Flasche in ihrer Umhängetasche. „Hey, das haben Sie echt gut gemacht – was zu essen gab´s da, wo sie das herhaben, nicht zufällig auch?“

 

Andreas schmunzelte. „Nein, leider nicht. Und stellen Sie sich vor: Um an diese Flasche zu kommen, musste ich tatsächlich eine Autoscheibe einschlagen. Das Ding lag in einem der wenigen Wagen, die nicht vollständig zerstört waren.“

 

Wohlweislich verschwieg er seiner Begleiterin, dass er nicht nur jede Menge zerstörter Wagen auf seiner Kurzexkursion gesehen hatte, sondern auch einige Leichen. Einige der Unglücklichen hatten es noch bis in ihre Wagen geschafft – andere wiederum waren wohl auf dem Weg dorthin erschlagen worden. Es war ziemlich deprimierend gewesen, doch die ehrliche Freude der jungen Frau über sein Mitbringsel hellte seine getrübte Stimmung wieder etwas auf. So unangenehm ihre Lage auch war – er fühlte sich wohl in Gegenwart der jungen Frau, obwohl diese nach wie vor alles daran zu setzen schien, dass die Gesamtsituation nicht zu persönlich wurde. „Unglaublich, was?“, setzte er beinahe nachdenklich und etwas geistesabwesend hinzu.

 

„Allerdings.“ Nikki lächelte zum ersten Mal andeutungsweise in Andreas´ Richtung. Irgendwie spürte sie, dass dort draußen mehr vorgefallen war, als er ihr sagte und sie war ihm dankbar dafür, dass er den Mund hielt. „Die Vorstellung, dass ausgerechnet Sie eine Scheibe einschlagen, um etwas aus einem Wagen zu klauen ist schon sehr unglaublich.“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, biss sie sich auf die Zunge. Doch Andreas schien nichts Merkwürdiges an ihren Worten zu finden.

 

„Unter dem Sitz hab´ ich sogar noch mehr gefunden“, berichtete er stolz und zauberte einen kleinen Verbandskasten hinter seinem Rücken hervor. Er ging vor Nikki in die Knie, öffnete den Kasten und holte ein paar Rollen Verbandsmull und eine Tube Salbe heraus. Dann studierte er die Beschriftung auf der Tube. „Na ja, ist zwar eigentlich Brandsalbe, aber schädlich kann sie ja wohl nicht sein, oder?“

 

„Was haben Sie vor?“, erkundigte sich Nikki misstrauisch.

 

„Was wohl? Ich werde Ihre Hände und Unterarme verbinden – vorausgesetzt, das Material reicht. Ich will vermeiden, dass Dreck in die Wunden kommt und sie sich entzünden. Hallo? Sie brauchen gar nicht so das Gesicht zu verziehen. Blutvergiftung…davon haben Sie doch sicher schon mal gehört, nicht wahr?“

 

„Dreck in die Wunden? Blutvergiftung?“ Nikki starrte ihr Gegenüber fassungslos an. „Machen Sie Witze?“

 

„Nein, eigentlich nicht. Ich gebe zu, eigentlich müssten die Wunden ja zuerst gründlich ausgewaschen werden, aber da wir nicht genügend Wasser haben, muss es in diesem Fall auch so gehen.“

 

„Vergessen Sie´s – das ist doch völliger Humbug!“

 

„Nein, ist es nicht“, beharrte Andreas auf seinem Vorhaben. „Jetzt stellen Sie sich nicht so an. Ich beiße nicht. Her mit der Hand.“

 

Zögernd streckte Nikki Andreas ihren linken Arm entgegen. Die ungewohnte Nähe zu einem anderen Menschen bereitete ihr sichtliches Unbehagen und doch ließ sie es zu, dass er ihre Hand nahm und nach einigen prüfenden Blicken vorsichtig ein wenig Salbe darauf verteilte.

 

Um nicht noch mehr Dreck in den großflächigen Abschürfungen und tiefen Schnitten zu verteilen, benutzte Andreas zum Verteilen der Salbe eine saubere Mullkompresse. Trotzdem entging es ihm nicht, dass die junge Frau vor ihm hörbar die Luft einzog, während er sanft darum bemüht war, die Wundränder zu säubern, so gut es eben ging. Er spürte, wie sie mehrmals zusammenzuckte und am liebsten hätte sie wohl ihren Arm ruckartig wieder zurückgezogen. „Alles okay?“, fragte er leise ohne sie dabei anzusehen. „Ich weiß, ich bin nicht besonders brauchbar als Sanitäter.“

 

„Geht schon“, war die kurze Antwort und kurz darauf hielt Nikki ihm zu seiner Überraschung freiwillig auch noch ihren rechten Arm entgegen. „Aber lassen Sie die Finger frei – ich muss zupacken können.“

 

„Schon klar.“ Sorgfältig versorgte Andreas ihren rechten Arm auf die gleiche Art und Weise wie den linken. Während er zum Schluss den Verband mit Pflaster befestigte erkundigte er sich scheinbar beiläufig: „Hey, wen meinten Sie eigentlich eben mit >elender Scheißkerl<? War jemand hier?“ Ihm entging nicht, dass seine Patientin wiederum leicht zusammenzuckte und er grinste. „Schon gut“, fuhr er fort, als Nikki ihn zerknirscht anblickte und lediglich mit den Schultern zuckte, anstatt ihm zu antworten. „Ich versteh´ Sie ja – Sie müssen geglaubt haben, dass ich mich vom Acker gemacht habe, nicht wahr?

 

„Nun ja…was hätten Sie denn an meiner…“

 

„Hey…“ Andreas Winter ergriff Nikki´s jetzt bandagierte Hände und blickte ihr so eindringlich in die Augen, dass ihr ganz gegen ihren Willen warm ums Herz wurde. „…keine Angst, das würde ich nie tun, klar?“ Als er keine Antwort bekam wiederholte er noch eindringlicher: „Klar?“

 

„Mmmh“, nickte Nikki, wich Andreas´ intensivem Blick aus und entzog ihm hastig ihre Hände. „Klar…aber Angst hatte ich deswegen nicht“, setzte sie dann trotzig hinzu. Nicht, dass der Typ sich noch was einbildete.

 

 

Andreas lachte: „Natürlich nicht.“ Dann wagte er einen riskanten Vorstoß: „Wollen Sie mir nicht doch verraten wie Sie heißen? Ich will Sie nicht andauernd mit `Hey´ anreden.“

 

„Lieber nicht“, murmelte Nikki und ihr Gesichtsausdruck, der kurz zuvor noch offen und freundlich gewesen war, wurde wieder undurchdringlich und maskengleich.

 

„Aber warum denn nicht? Kommen Sie, wenigstens den Vornamen.“

 

„Geben Sie´s auf. Da Gequatsche bringt uns nicht weiter. Wir sollten lieber sehen, dass wir hier rauskommen.“ Nikki blickte sich suchend um, griff nach ihrem Pumpspray und verstaute es hastig in ihrer Tasche.

 

Allerdings nicht schnell genug, denn Andreas hatte sie genau beobachtet. Jetzt griff er erneut nach ihrem Arm. „Dieser Husten…ist das etwa Asthma?“, fragte er alarmiert. „Und lügen Sie mich bloß nicht an – ich will die Wahrheit wissen.“

 

Nikki entzog sich Andreas erneut, stand auf und blickte Andreas bockig ins Gesicht. „Ja, na und? Keine Angst, es ist nicht so schlimm – das Zeug ist nur für den Notfall und bisher hab´ ich´s noch nie gebraucht.“

 

„Bis eben, oder? Verdammt, meinen Sie nicht, dass ich das hätte wissen sollen?“

 

„Lieber Himmel, Sie können einem echt den letzten Nerv rauben. Ja, wenn Sie´s unbedingt wissen wollen: Bis eben! Aber das liegt nur am scheiß Staub. Es geht schon wieder – ich komme zurecht. Alles Bestens!“ Ohne sich nach Andreas noch einmal umzuschauen machte Nikki sich auf den Weg. „Was ist nun? Kommen Sie oder wollen Sie hier Wurzeln schlagen?“, fragte sie über die Schulter zurück.

 

Andreas seufzte tief und gab es auf. „Warten Sie, ich komme ja schon. – Hey, bleiben Sie stehen, verdammt noch mal: ICH gehe vor!“

 

Kapitel 6

Sowohl Nikki wie auch Andreas waren total am Ende ihrer Kräfte angelangt, als sie endlich die Erdgeschossebene erreichten. Sie stolperten mittlerweile mehr vorwärts, als dass sie gingen und beiden schlotterten die Knie von den ungewohnten Anstrengungen der vergangenen Stunden. Keiner von beiden vermochte auch nur eine Vermutung auszusprechen, wie lange sie für die letzten beiden Ebenen gebraucht hatten, aber beide ahnten, dass sie es auch gar nicht so genau wissen wollten. Es hätte sie nur zusätzlich deprimiert.

 

„Verflucht, da kommen wir nie durch!“, war Andreas´ Kommentar, als sie sich endlich bis zu dem ehemaligen Hauptein- und Ausgang durchgekämpft hatten und sich nur wieder weiteren riesigen aufeinandergestapelten Trümmerbergen gegenüber sahen. Und bei diesen Brocken handelte es sich definitiv um Teile, die sie nie alleine mit den Händen würden beiseite schaffen können.

 

Nikki nickte mutlos und ließ sich auf der Stelle einfach zu Boden sinken. Ihre schmerzenden Füße in den mittlerweile längst blutigen Leinenschuhen streckte sie weit von sich. Sie war müde, sie war hungrig und mittlerweile spürte sie jeden einzelnen Knochen und Muskel in ihrem Körper. Alle ihre Hoffnungen hatte sie in den letzten verzweifelten Stunden darauf gesetzt, dass es oben besser aussehen würde, als in den tristen Tiefen der mit Trümmern übersäten Parkdecks in den Untergeschossen. Dass die Rettungsmannschaften draußen vielleicht sogar inzwischen schon die Ein- und Ausgänge freigelegt hatten. Und nun waren alle ihre Hoffnungen innerhalb von wenigen Sekunden wie Seifenblasen zerplatzt. Das war im Augenblick mehr als sie verkraften konnte. Deprimiert fragte sie sich, ob sie es wirklich noch als Glück betrachten sollte, dass sie die eigentliche Katastrophe relativ unbeschadet überstanden hatte? Vielleicht wäre ein schnelles Ende ja doch humaner gewesen. So wie es den älteren Mann vermutlich ereilt hatte, der nur wenige Meter vom rettenden Ausgang entfernt jetzt halb unter Trümmern begraben lag. Sie konnte gar nicht anders, als immer wieder zu der Leiche hinüberzusehen, bis sie plötzlich eine warme Hand auf ihrer Schulter spürte und automatisch hoch blickte – direkt in Andreas´ blaue Augen.

 

„Sieh´ nicht hin“, bat er leise. „Lass es – tu dir das nicht an! Bitte!“

 

„Aber ich…“

 

„Ich weiß.“ Er unterbrach Nikki schon im Ansatz und verstärkte stattdessen den beruhigenden Druck seiner Hand auf ihrer Schulter. „Ich weiß, mir geht´s ja nicht anders. Aber wir werden hier rauskommen! Irgendwie! Ich versprech´s dir!“

 

Nikki nickte, obwohl es ihr gerade sehr schwerfiel, Andreas´ Worten Glauben zu schenken, doch ihr fehlte schlicht die Kraft, ihm zu widersprechen.

 

„Gut so“, sagte Andreas erleichtert. Er strich sich erschöpft die verschwitzten, staubigen Haare aus dem Gesicht und ließ seine Augen durch die Gegend schweifen in der Hoffnung, eventuell doch irgendeine Schwachstelle in den Trümmerbergen ausmachen zu können. Dann wandte er sich wieder seiner Begleiterin zu. „Wir dürfen nur nicht aufgeben, dann wird das schon.“ Er spürte, dass seine junge Begleiterin dringend etwas Aufmunterung und Zuversicht benötigte und wollte ihr diese gerne geben – auch wenn er selber ziemlich am Ende seiner Weisheit angelangt war.

 

„Ihren Optimismus möchte ich haben“, seufzte Nikki leise.

 

Andreas grinste schief. „Optimismus kann man lernen – im Ernst! Vielleicht bringe ich es Ihnen bei Gelegenheit ja mal bei.“ Er rümpfte die Nase und blickte auf ein paar rauchende Trümmer. „Riechen Sie das? Sieht so aus, als könnten wir von Glück reden, dass es hier nicht mehr brennt. Und so wie es hier von oben tropft, würde ich sagen, dass draußen die Feuerwehr bereits ganze Arbeit geleistet hat.“

 

„Und was nützt uns das?“, maulte Nikki. „Das hilft uns auch nicht weiter auf dem Weg nach draußen.“

 

„Nun, immerhin besteht für den Moment keine Gefahr mehr, dass wir zu allem Überfluss auch noch gegrillt werden. Das ist doch schon was. – Hey, was dagegen, wenn ich mich mal ein bisschen umsehe? Keine Angst, ich bleibe in der Nähe, aber vielleicht finde ich ja hier oben eine Stelle, wo ich Handyempfang habe.“ Er zog sein Smartphone aus der Tasche und fluchte gleich darauf unterdrückt.

 

„Leer?“, fragte Nikki fast teilnahmslos, so als ginge sie das alles gar nichts an.

 

„Noch nicht ganz – aber ich sollte mich wohl besser beeilen, wenn wir eine Chance haben wollen. Okay?“

 

„Tun Sie, was Sie glauben tun zu müssen. Ich persönlich werde mich hier nicht von der Stelle rühren.“ Noch während sie sprach, rutschte sie sich umständlich so lange in Position, bis sie sich wenigstens mit dem Rücken an die Reste der Rahmenkonstruktion einer ehemaligen Schaufensterfront lehnen konnte.

 

„Hallo? Das reicht dann jetzt aber.“ Andreas schmunzelte amüsiert. „Wenn das für Sie `nicht rühren´ ist, dann will ich gar nicht wissen, was Sie tun, wenn Sie mal richtig in Wallung kommen. – Bis später.“ Er nickte ihr noch einmal kurz aufmunternd zu und machte sich dann auf den Weg, wobei er sein kostbares Handy immer wieder suchend und hoffend in die Luft streckte, nur um gleich darauf eins ums andere Mal enttäuscht den Kopf zu schütteln und weiter zu suchen.

 

Nikki schaute ihm hinterher und schüttelte traurig den Kopf. Dass Männer nie einsehen konnten, wenn sie verloren hatten. Andreas und sie waren am Arsch – der Unterschied zwischen ihnen bestand lediglich darin, dass sie dazu bereit war, es sich einzugestehen. Er hingegen…er war immer noch eifrig dabei, einen nicht vorhandenen Ausweg zu suchen. Sicher, das ehrte ihn, aber letztlich war es vergeudete Energie. Ein Lächeln huschte über Nikki´s Gesicht, als sie sich klarmachte, dass sie ohne Andreas wahrscheinlich nie so weit gekommen wäre. Der Mann hatte eindeutig mehr drauf, als sie ihm zu Beginn zugetraut hatte, aber jetzt…jetzt wäre es vermutlich besser, die restlichen noch vorhandenen Kräfte zu schonen; einfach nur durchzuhalten und darauf zu hoffen, dass die Rettungsmannschaften irgendwann bis zu ihnen durchdringen und sie finden würden. Sie beschloss, ihm und seinem männlichen Ego noch ein paar Minuten zu gönnen und ihn dann zurückzurufen, um mit ihm zu reden.

 

Wieder fiel ihr nachdenklicher Blick auf den älteren Mann, dessen Leben vor einigen Stunden ein so abruptes Ende gefunden hatte und beim Blick in die weit aufgerissenen toten Augen des Mannes spürte Nikki plötzlich – von einem Moment auf den anderen – wie der Kampfeswille, der in den letzten Monaten ihr Leben bestimmt hatte, mit voller Wucht zurückkehrte. Nein! So wollte sie nicht enden! Auf gar keinen Fall! Verdammt noch mal: Anstatt hier heulend rumzusitzen und sich ihrem Schicksal zu ergeben, sollte sie lieber auch etwas tun. Sie durfte sich nicht von den Leichen, die hier im Erdgeschoss herum lagen, runterziehen lassen. Im Gegenteil: Die sollten ihr klar und deutlich vor Augen führen, wie viel Glück sie gehabt hatte. Glück, dass sie sich zum Zeitpunkt der Katastrophe so weit unten im Gebäude befunden hatte und Glück, dass sie danach wieder auf Andreas getroffen war. Andreas…

 

In diesem Augenblick krachte und knirschte es hässlich genau über Nikki, als urplötzlich einige der 80 x 80 cm großen Deckenplatten aus Beton, die offensichtlich nur noch lose auflagen, in Rutschen gerieten und endgültig herunterzufallen drohten. Nikki blickte hoch und versuchte zutiefst erschrocken auf die drohende Gefahr zu reagieren, doch mit ihren verbundenen Händen und den müden Knochen hatte sie keine Chance. Sie war einfach viel zu langsam und so landete eine der schweren Platten unglücklicherweise genau auf Nikki´s ausgestreckten Beinen.

 

„AAAAHHH!“ Nikki´s schmerzerfüllter Schrei gellte gespenstisch durch die Ebene. Grelle Blitze tanzten vor ihren Augen und sie hörte ihr Blut in den Adern rauschen. „Oh Mann!“ Schnell und stoßweise kamen ihre Atemzüge. Einatmen – ausatmen! Einatmen – ausatmen! Trotz aller Anstrengungen bemerkte sie, wie ihr schwarz vor Augen wurde. „Mann! Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

 

Sie spürte mehr, als dass sie es sah, wie jemand hinter sie trat, sie unter den Armen packte und ihren Oberkörper mehr oder weniger auf seinen Schoß bugsierte. „Hey, Hey, hörst du mich?“ Die Worte wurde von leichtern Klapsen auf ihre Wangen begleitet. „Bleib bei mir, hörst du? Nicht ohnmächtig werden. Schön wach bleiben!“

 

Nikki zischte einen für Andreas unverständlichen Fluch zwischen den Zähnen hervor. Dann öffnete sie schwerfällig die Augen, holte tief Luft und sagte mühsam beherrscht: „Könnten…könnten Sie wohl BITTE damit aufhören, mir auch noch ins Gesicht zu schlagen. Das nervt extrem!“

 

Ihrem Gesicht war anzusehen, wie viel Anstrengung sie diese Worte gekostet hatten, doch kaum waren sie heraus, machte sich auf Andreas´ Gesicht ein breites Grinsen der Erleichterung breit, dass den Schock, den er verspürt hatte, als er ihre Schreie eben gehört hatte, wenigstens ein wenig in den Hintergrund drängte. „Hey, du bist ja noch bei mir“, verkündete er dann, als hätte er gerade der Weisheit letzten Schlüssel gefunden.

 

„Mmmh, ich…ich wollte Sie gerade suchen gehen, als…“ Nikki stockte, als wiederum ein stechender und klopfender Schmerz durch ihre Unterschenkel fuhr. Es gelang ihr nicht ganz, ein Stöhnen zu unterdrücken und unwillkürlich schmiegte sich ihr Kopf fest an Andreas Hand, die sich warm und sanft an ihre Wange legte.

 

„Sch…sch…bleib ruhig. Hörst du, ruhig atmen.“ Andreas wirkte gleichermaßen verstört und ehrlich besorgt, doch als er jetzt fragte: „Alles in Ordnung?“, prallte das an Nikki völlig ab

 

Im Gegenteil, sie glaubte, sie hätte sich verhört. Sie hatte Schmerzen ohne Ende, lag hier eingeklemmt unter einer Betonplatte und dieser Typ fragte sie allen Ernstes… Nikki´s immense innere Anspannung entlud sich in einem Wutausbruch: „Ja, verdammt! Ich BIN noch bei Ihnen und: NEIN, Sie Idiot! Nichts ist in Ordnung! Das sehen Sie doch!“, schrie sie verzweifelt, während ihr die Tränen der Verzweiflung die Wagen herunter liefen. „Na los, machen Sie schon! Räumen Sie das verdammte Ding von mir runter! Schnell!“

 

Andreas reagierte umgehend. Er legte Nikki´s Oberkörper vorsichtig ab und trat neben ihre Beine. „Sorry, ich weiß, das war `ne blöde Frage – es tut mir leid. So leid!“ Während er die ganze Zeit über weitere Entschuldigungen vor sich hinmurmelte, machte er sich an die Arbeit, doch erst nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es Andreas schließlich, die schwere Platte so vorsichtig beiseite zu wälzen, dass sie nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. „Ich schau´s mir mal an, okay?“ Vorsichtig tastete er Nikkis Beine ab, die inzwischen nur noch leise vor sich hinwimmerte. „Tja...“, versuchte er dann einen lahmen Scherz. „...ich schätze, jetzt kannst du mir nicht mehr davonlaufen.“ Als er Nikki´s wutentbrannten Blick bemerkte tat ihm seine Bemerkung jedoch sofort wieder leid. „Hey, es war nicht so gemeint. Tut mir leid – ich bin wirklich ein Idiot! Ist es sehr schlimm?“

 

„Geht schon“, presste Nikki zwischen den Zähnen hervor. „Hey, ist das nicht toll? Sie haben vielleicht ein Glück. Wenn die uns hier rausgeholt haben, können Sie mich jetzt in aller Ruhe der Polizei übergeben und Sie sind der Held des Tages!“

 

„Wow, Sie scheinen ja `ne besonders hohe Meinung von mir zu haben.“ Andreas verzog sein Gesicht und wirkte leicht angefressen. Dafür sprach auch, dass er unvermittelt wieder zum unpersönlichen >Sie< überging. „Warum zum Teufel versuchen Sie eigentlich andauernd, mich mit aller Macht und Gewalt zu beleidigen?“

 

„Was denn?“, fauchte Nikki. „Macht man das denn nicht normalerweise mit Ladendieben?“

 

„Klar, und im wilden Westen wurden Diebe sogar am nächsten Baum aufgeknüpft!“ Andreas schien nun wirklich sauer zu sein, doch Nikki war das im Augenblick herzlich egal. Sie zuckte teilnahmslos mit den Schultern und schloss matt die Augen. „Ach, denken Sie doch von mir aus, was Sie wollen“, seufzte sie kaum noch verständlich.

 

„Hey, hören Sie!“, rief Andreas da plötzlich aus. Und: „Hier sind wir!“ Er griff nach einem dicken Stein und klopfte damit rhythmisch gegen die Trümmer. „Hier!“ Wieder und wieder hämmerte er wie ein Besessener mit dem Stein gegen die unüberwindbar scheinende Wand aus Trümmern. Dann machte er eine Pause und lauschte angestrengt. Nach ein paar bangen Sekunden kamen von der anderen Seite genau die gleichen rhythmischen Klopfzeichen. Andreas´ Hand zitterte wie Espenlaub als er nach einer weiteren kurzen Pause seinen Stein erneut anhob und ihn so fest er konnte gegen die Betonbrocken schlug. Wieder und immer wieder. Erst als er kurz darauf abermals die ersehnte Antwort bekam, gestattete er sich erleichtert aufzuatmen und erst da bemerkte er, dass er die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte und ihm der Schweiß inzwischen in Strömen über das Gesicht lief.

 

„Sie haben uns gefunden“, verkündete er maßlos erleichtert, wischte sich mit seinem T-Shirt den Schweiß von der Stirn und wendete seine Aufmerksamkeit dann wieder seiner Begleiterin zu. „Hey, halten Sie durch. Nur noch ein kleines bisschen, okay? Sie werden uns gleich hier rausholen.“ Da erst bemerkte er, dass seine junge Begleiterin unterdessen nun doch das Bewusstsein verloren hatte. Er lächelte ein wenig wehmütig und strich der jungen Frau sanft eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. „Tja, meine Liebe, jetzt haben sie uns tatsächlich gefunden und du bekommst es noch nicht mal mit. Schätze, du bist wohl doch nicht ganz so hart, wie du mir so verzweifelt weismachen willst…“

 

Kapitel 7

 Dieses Mal wusste Nikki auf Anhieb, wo sie sich befand als sie ihre Augen aufschlug und langsam wieder zu sich kam. Sie war in einem Krankenhaus – soviel wusste sie, auch wenn sie an die eigentliche Rettung aus dem zerstörten EKZ und den Transport in die Klinik keine wirklich deutliche Erinnerung mehr hatte. Erst als man sie bereits auf die fällige Operation vorbereitete war sie kurz aus ihrer tiefen Ohnmacht erwacht – nur um gleich darauf schon wieder in Narkose versetzt zu werden. Jetzt schien alles überstanden zu sein – außer dass eine Krankenschwester unermüdlich neben ihrem Bett herumwuselte; Schläuche sortierte, einen Tropf überprüfte, ihren Puls kontrollierte, mit einem Fieberthermometer in ihrem Ohr herumpulte und Nikki mit ihren geschäftigen Bemühungen einfach nur lästig war. Auf ihr unwilliges Knurren, hatte die Schwester lediglich ein freundliches Lächeln für sie übrig.

 

„Da sind Sie ja wieder. Das wurde aber auch langsam Zeit. Wie fühlen Sie sich?“

 

„Ganz gut soweit…“, antwortete Nikki müde, während sie sich gleichzeitig in Gedanken schon damit beschäftigte, ihre Gedächtnislücken zu überprüfen, was ihr jedoch zu ihrem allergrößten Ärger nicht vollständig gelingen wollte. So sehr sie sich auch anstrengte…da blieben Lücken – große Lücken. Und genau das machte sie gerade ziemlich nervös. „…wenn Sie mich nur endlich in Ruhe ließen“, setzte sie daher hinzu und hoffte, dass das deutlich genug war. Sie musste unbedingt nachdenken – in Ruhe darüber nachdenken, was geschehen war, nachdem die Deckenplatte auf ihre Beine gefallen war. Über ihren Gesundheitszustand würde man sie sicher noch früh genug aufklären. Wenn sie sich ihr eines Bein anschaute, dem man einen Fixateur verpasst hatte, lag zumindest glasklar auf der Hand, dass sie es sich abschminken konnte, sich unauffällig aus der Klinik zu verdünnisieren.

 

Die Schwester lachte amüsiert. „In Ordnung – ich bin eh für den Moment fertig. Der Arzt wird morgen früh nach Ihnen sehen, wenn nichts Außergewöhnliches anliegt, Also, wenn Sie etwas brauchen oder Schmerzen bekommen sollten, dann klingeln Sie bitte einfach. Hier…“ Sie drückte Nikki einen Schalter in die Hand und verschwand aus dem Sichtfeld der jungen Frau, die dankbar ihre Lider zufallen ließ, als sie kurz darauf die Tür klacken hörte. Doch gleich darauf hörte sie zu ihrem großen Verdruss, wie die Tür erneut geöffnet wurde und sich leise Schritte ihrem Krankenbett näherten.

 

„Was denn noch?“, schnauzte sie mürrisch, ohne die Augen zu öffnen.

 

„Freundlich wie immer“, erklang mit freundlichem Spott eine tiefe Stimme direkt neben ihrem Bett, die Nikki erschrocken dazu veranlasste, ihre Augen aufzuschlagen. Grüne Augen, ummantelt von dunklen Ringen, trafen auf klare blaue Augen, die sie aufmerksam musterten und ihren Blick festzuhalten suchten.

 

„Andreas…“, entfuhr es ihr überrascht, den ihn hatte sie hier und jetzt am allerwenigsten erwartet.

 

„Na, immerhin…du weißt noch, wer ich bin“, antwortete er, griff sich einen Stuhl und ließ sich wie selbstverständlich neben Nikki´s Bett nieder. Genauso selbstverständlich, wie er offenbar wieder vom >Sie< zum persönlichen >du< übergegangen war. Er hatte die persönliche Anrede zwar schon mehrfach benutzt, während sie gemeinsam in den Trümmern unterwegs gewesen waren, doch danach war er immer wieder zum förmlichen >Sie< zurückgekehrt, was aber auch an Nikki´s konsequenter Weigerung, dass >du< anzunehmen, liegen konnte. „Das ist fast mehr, als ich erwartet hatte, aber ich muss zugeben, dass es mich freut.“

 

Die junge Frau musterte ihren unverhofften Besucher mehr oder weniger verstohlen von der Seite. Andreas hatte offenbar inzwischen duschen dürfen. Seine dunklen Haare schienen noch feucht zu sein und von den Spuren ihres gemeinsamen Abenteuers war kaum mehr etwas zu erkennen. Außer zwei frischen Verbänden, die seine Handgelenke zierten, einigen Pflastern an den Händen und einer geklammerten Schramme über der rechten Augenbraue. Er trug ein sauberes T-Shirt und eine Jogginghose und Nikki fragte sich neidisch, wie er wohl an die frischen Klamotten gekommen war. Der dunkle Bartschatten, den sie schon in der letzten Phase im EKZ wahrgenommen hatte, hatte sich noch verstärkt, doch das verlieh Andreas in Nikki´s Augen eher ein noch positiveres Aussehen und der unangenehme Gedanke, wie sie selber wohl aussehen mochte, setzte sich in ihrem Kopf fest.

 

„Alles klar?“

 

Nikki konnte nicht anders…impulsiv erwiderte sie zaghaft Andreas´ freundliches Lächeln – auch, wenn sie nach wie vor ein ungutes Gefühl in seiner Gegenwart verspürte. „Ja, ja, alles klar. – Natürlich weiß ich noch, wer Sie sind“, antwortete sie zögernd und konnte leider nicht verhindern, dass ihre Stimme dabei leicht zitterte. „Immerhin haben Sie uns da raus gebracht. Hätte ich Ihnen übrigens gar nicht zugetraut. Wenn ich auch, ehrlich gesagt, nicht mehr weiß, wie Sie das angestellt haben“, schloss sie unsicher.

 

„Ist das eine Frage?“ Andreas schmunzelte und griff durch das Gewirr von Schläuchen nach Nikki´s nun professionell verbundener Hand. Inzwischen hatte er schon ganz gut gelernt, die junge Frau an seiner Seite einzuschätzen und so wusste er ziemlich genau, worauf sie mit ihrer Feststellung hinauswollte. Sein Lächeln bekam etwas entschuldigendes, als er sagte: „Sorry, ich weiß, ich hätte besser auf dich aufpassen sollen. Es war ein Fehler, dich dort alleine zurück zu lassen – wenn ich bei dir geblieben wäre, wäre das…“ Er wies mit dem Kopf nickend auf ihre Beine. „…vermutlich nicht passiert.“

 

Nikki widerstand erfolgreich dem Impuls, ihre Hand zurückzuziehen, denn merkwürdigerweise empfand sie die Berührung als sehr angenehm. „Quatsch! Ich brauche keinen Aufpasser! Ich bin daran gewöhnt, auf mich selber achtzugeben, und das funktioniert normalerweise ganz gut.“

 

„Schon klar. Aber hey, das war keine normale Situation, von daher…“ Er ließ das Ende des Satzes offen und spielte gedankenverloren mit Nikki´s Fingerspitzen, die aus dem Verband herausschauten, bis diese ihre Hand nun doch sachte zurückzog und vorsichtig neben ihrem Körper auf der Bettdecke ablegte.

 

„Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen – das wäre wahrscheinlich so oder so geschehen. Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort…“ Sie machte eine Pause und setzte leise – mehr zu sich selber – hinzu: „…wie so oft in letzter Zeit.“

 

Andreas gab sich einen Ruck. „Auf jeden Fall tut´s mir leid – auch dass ich so blöd reagiert habe, aber es ging alles so furchtbar schnell. Als ich dich schreien hörte…Mann, ich hab´ mich so was von tierisch erschrocken. Ich dachte…“

 

„Schon gut. Vergessen Sie´s. Erzählen Sie mir lieber, was vorgefallen ist nachdem ich...nun ja, Sie wissen schon…“

 

„Du meinst, nachdem du dich geistig verabschiedet hattest?“ Andreas lächelte Nikki´s erbosten Blick einfach weg. „Eigentlich gibt´s da nicht viel zu erzählen. Du hast so laut geschrien, dass die Rettungsmannschaften dich bis nach draußen gehört haben. Im Grunde genommen hast also du unsere Rettung in die Wege geleitet. Ich hörte nur ihre Klopfzeichen und sie kurz darauf auch meine. Na ja, dann brauchte es natürlich noch eine Weile, bis sie zu uns durchgedrungen waren, aber danach ging alles sehr schnell. Ein RTW stand schon bereit, ich durfte zum Komplettcheck und du kamst nach der Ankunft hier auf direktem Weg in den OP. Mann, das hat vielleicht gedauert. Insgesamt habe ich – losgelöst von meinen ganzen Untersuchungen – noch fast 2 Stunden warten müssen, bis sie dich endlich hier auf´s Zimmer gebracht haben. Ich glaube, mit meiner ewigen Fragerei habe ich die Stationsschwester an den Rand der Verzweiflung getrieben.“ Er grinste breit. „Ehrlich, du kannst mir glauben, ich bin inzwischen fast durchgedreht. Ich bin nämlich kein besonders geduldiger Mensch.“

 

Nikki lächelte andeutungsweise, obwohl sie ihre nächste Frage durchaus ein wenig ängstlich stellte. „Und? Wissen Sie, was mit mir los ist? Was ist…mit meinen Beinen?“

 

„Die Stationsschwester hat mir nur verraten, dass ich mir keine Sorgen machen muss.“ Er verzog kurz ärgerlich sein Gesicht. „Die Frau hat ihre Prinzipien und schließlich bin ich kein Verwandter. Sie meinte nur, es würde zwar etwas dauern, aber das käme wieder in Ordnung. Aber im RTW hab´ ich von den Sanitätern aufgeschnappt, dass das linke Schienbein wohl kompliziert gebrochen ist. Rechts scheinst du etwas mehr Glück gehabt zu haben. Ansonsten Prellungen, Schürf- und Schnittwunden, aber das wussten wir ja schon vorher.“

 

„Man hat uns im gleichen RTW transportiert?“, hakte Nikki verwundert nach.

 

„Jepp!“ Andreas grinste breit bei der Erinnerung an die Szene, die sich gleich nach ihrer Bergung vor dem EKZ abgespielt hatte. „Als man dich auf der Trage raus gebracht hat, bist du kurz zu dir gekommen und hast einen derartigen Terz veranstaltet, dass die Sanitäter schließlich einfach das taten, was du wolltest. War wohl einfacher – ich nehme an, die wollten dich so schnell wie möglich wieder loswerden.“

 

„Oh…ich…daran kann ich mich gar nicht erinnern.“ Nikki war dieser Teil des Berichtes offensichtlich peinlich. Sie sollte verlangt haben, dass Andreas bei ihr blieb? Kaum vorstellbar.

 

„Das kann ich mir denken. Hat schon was praktisches, nicht wahr?“ Wieder setzte er sein lausbubenhaftes Grinsen auf und Nikki wünschte sich, er möge das doch endlich abstellen, denn es irritierte sie über die Maßen. „Als sie dich dann endlich im RTW hatten, haben sie dich mit irgendwas abgeschossen, damit sie wenigstens die Erstbehandlung in Ruhe durchführen konnten.“

 

„Und Sie? Warum sind Sie noch hier? Es geht Ihnen doch soweit gut, oder?“

 

„Klassischer Themenwechsel, Kompliment, echt gekonnt! Aber okay…wie du willst. Du weißt doch sicher, wie Ärzte sind. Sie wollen mich noch über Nacht hierbehalten – Zur Beobachtung, um eine Gehirnerschütterung ausschließen zu können. – Sag mal, willst du nicht endlich mit dem blöden Siezen aufhören?“, fragte er dann ganz direkt.

 

Nikki zuckte mit den Achseln. „Von mir aus…Hey, ich glaube, ich sollte mich noch bei Ihnen…bei dir bedanken“, sagte sie dann leise.

 

„Na bitte, geht doch! Und du musst gar nichts, dass das mal klar ist. Ich hingegen…“ Andreas griff in seine Hosentasche und ließ dann einen kleinen Schlüsselanhänger vor Nikki´s Augen auf und ab klimpern. „…muss dir jetzt endlich noch was zurückgeben.“

 

Nikki riss erstaunt die Augen auf. „Ja aber, wie kommen Sie...ich meine, woher hast du meine Wohnungsschlüssel?“

 

„Du hast sie verloren und ich habe sie gefunden – so einfach ist das!“ Er lächelte, als er Nikki´s offensichtliche Verwirrung registrierte. Täuschte er sich, oder wurde die junge Frau im Bett tatsächlich rot – sie würde es vermutlich auf die schlechte Beleuchtung schieben, aber es sah trotzdem ganz danach aus. Andreas nahm sich die Freiheit, diesen Augenblick kurz zu genießen und redete erst nach einer kleinen Pause weiter: „Die sind dir in meinem Geschäft aus der Tasche gefallen, als du etwas darin suchtest – na ja, sagen wir, ich dachte zumindest zuerst, dass du etwas suchen würdest. Ich wollte sie dir eigentlich nur wiedergeben, aber dann bist du plötzlich abgehauen als sei der Teufel in Person hinter dir her. Nun…ich sagte dir ja schon zu Anfang, ich fand das irgendwie spannend, also bin ich dir gefolgt.“

 

„Das ist…echt schräg.“ Nikki wurde plötzlich ganz flau im Magen, als sie ihren Irrtum realisierte. Da hatte sie sich wohl wieder einmal um Kopf und Kragen geredet. Na, super! „Dann bist du also gar kein...“ Sie stockte.

 

„Detektiv?“ Andreas grinste jetzt über das ganze Gesicht. „Sprich´s ruhig aus. Nein, bin ich nicht. Mir gehört der Music-Store. Alles, was mit Musik zu tun hat, hat mich schon immer interessiert. Also hab´ ich mich vor zwei Jahren getraut und den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Du hast den Laden ja gesehen: Anlagen, Instrumente, Noten, CD´s, Kopfhörer…eben alles, was irgendwie mit Musik zu tun hat. Außerdem gebe ich noch Gitarren- und Klavierstunden. Aber nur als Zubrot – nur Musikschule ist nichts für mich. Die erste Zeit war nicht leicht, aber inzwischen läuft es eigentlich ganz gut“, erzählte er nicht ohne Stolz in der Stimme. „Aber diese verdammten Ladendiebstähle setzen mir mehr und mehr zu. Die Leute klauen einfach alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Das summiert sich ganz schön und die Versicherungen kommen nicht dafür auf.“ Er lachte bitter auf. „Selbst wenn sie das würden…ich denke, dann wären die Prämien wohl unbezahlbar.“

 

„Großer Gott!“ Nikki stöhnte gequält auf: „Echt, das kann auch nur mir passieren. Und jetzt? Was hast du vor? Wirst du mich anzeigen?“

 

Kapitel 8 - EPILOG

Es gelang Nikki nur schlecht, ihre Angst vor der Antwort zu verbergen, doch zu ihrer grenzenlosen Erleichterung schüttelte Andreas den Kopf.

 

„Ich denke nicht. Was sollte das bringen? Geholfen wäre damit letztlich keinem von uns. Außerdem bin ich dir was schuldig – Du hättest mich schließlich auch einfach da unten liegen lassen können.“ Er wurde ernst: „Nein, im Ernst, ich möchte dir einen Vorschlag machen: Warum arbeitest du nicht für mich anstatt gegen mich? Ich meine, mir werden die CD´s, DVD´s und Vinyl-Scheiben unter der Nase weggeklaut und du… na ja, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du weißt doch wie so was läuft. Ich bin sicher, du kennst da einige Tricks. Ist doch so, oder?“

 

Nikki schwieg peinlich berührt und starrte stumm an die Decke.

 

„Dachte ich´s mir doch. – Denk mal nach, das wäre der perfekte Deal. Bei dir käme doch Niemand auf die Idee, dass sich hinter so einem Outfit und so einem Auftreten in Wahrheit der Ladendetektiv verbirgt.“

 

Die junge Frau war überwältigt. Nach all´ ihren vergeblichen Versuchen in den letzten Monaten trotz ihrer blöden Vorstrafe eine ehrliche Arbeit zu finden, fiel ihr nun ein Jobangebot quasi in den Schoß. Und das nach diesem Chaos. Es sah fast danach aus, als hätte sie heute in doppelter Hinsicht Glück im Unglück.

 

„Na los, gib´ dir einen Ruck“, drängte Andreas, der ihr Schweigen falsch deutete. „Es ist ganz einfach: Du musst nur `Ja´ sagen.“ Ihm schoss plötzlich ein sehr unliebsamer Gedanke durch den Kopf. „Du bist bereits vergeben – ich meine, du hast schon einen Job?“

 

„Nein!“ Nikki stieß die Antwort förmlich hervor. „Nein, ich…ich bin arbeitslos“, gestand sie dann zögernd. „Schon länger. Aber…du…du hast keinen Laden mehr – es ist alles kaputt.“

 

„Hmm, da ist allerdings was dran.“ Andreas lehnte sich zurück, streckte seine langen Beine aus und strich die Haare nach hinten. „He, ich bekomme sicher Geld von den Versicherungen. Ich werde einen neuen Laden anmieten und mache einfach da weiter, wo ich aufgehört habe. Meine Schüler werden bestimmt auch zu dem neuen Geschäft kommen und der Rest wird sich schon finden. Also? Was ist? Bist du dabei?“

 

„Das klingt alles so einfach bei dir.“ Nikki konnte ihre Chance immer noch nicht fassen und äußerte ihre Zweifel. „Ich meine, hast du denn überhaupt keine Angst, ich könnte dich in irgendwas reinreißen? Du kennst mich doch gar nicht.“

 

„Jetzt mach aber mal halblang, ich sehe das völlig anders! Nach all dem, was wir heute zusammen durchgemacht haben, kenne ich dich, glaube, ich besser als du denkst. Und was deine Angst angeht: Ich werde dir helfen. Okay? Gemeinsam kriegen wir das schon hin.“

 

„Ich habe keine Angst“, warf Nikki ein.

 

„Natürlich nicht, wie konnte ich das nur vergessen. Aber umso besser! Dann steht unserem Deal ja nichts mehr im Weg.“ Andreas lachte herzhaft und wieder einmal fiel Nikki auf, dass sein Lachen, immer wenn er es einsetzte, auch seine Augen erreichte. Dann wurde er wieder ernst. „Allzu viel zahlen kann ich aber nicht. Zumindest nicht am Anfang.“

 

„Oh, ich bin sicher, da werden wir uns einig“, warf Nikki schnell ein.

 

„Was das ein >Ja<?“

 

„Ja! – Ja klar! Danke!“ Trotz ihrer Schmerzen strahlte Nikki über das ganze Gesicht. „Ach, übrigens: Ich heiße Nicole – Nicole Berger – aber so lange ich denken kann, nennen mich alle nur Nikki.“

 

„Ich weiß“ Andreas schmunzelte. „Aber wenn du nichts dagegen hast, werde ich dich Nicole nennen.“

 

„Was? Wieso?“

 

„Nun, ich denke, wenn du lieber Nikki genannt werden wolltest, hättest du dich mir auch als Nikki vorgestellt, oder nicht? – Nicole…ich finde, das passt viel besser zu dir.“

 

„Das meinte ich nicht.“ Nikki blickte Andreas streng ins Gesicht. „Woher wusstest du meinen Namen?“

 

Jetzt war es an Andreas, etwas verlegen zu reagieren. „Nun…ich wusste, die Sanitäter würden mich nach deinem Namen fragen und…ganz ehrlich, ich hatte keine Ahnung, wie ich denen erklären sollte, dass wir stundenlang zusammen unterwegs waren, ich aber nicht einmal wusste, wie du heißt. Ich fand das ganz schön peinlich. Also habe ich, während sie sich von draußen zu uns durchgearbeitet haben, in deiner Handtasche nach deinem Pass gesucht.“

 

Die junge Frau reagierte beschämt und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

 

„Sauer?“

 

„Nein. Schon okay. Es ist nur…du hast dabei doch sicher nicht nur den Pass gefunden, oder?“

 

„Nein. Aber es gab da nichts, was ich mir nicht vorher schon denken konnte. Du brauchst dir also keinen Kopf zu machen.“ Er grinste schief. „Die einzige Überraschung war, dass es sich um eine Florian Silbereisen CD handelte. Hallooo?“ Er kniepte Nikki zu. „Ich bitte dich: Florian Silbereisen? Klaust du nur um des Stehlens willen? Brauchst du den Kick? Oder was sollte das?“

 

„Die sollte ein Geburtstagsgeschenk für meine Oma werden. Ich bin zurzeit ziemlich abgebrannt und da…“ Nikki zuckte mit den Achseln: „…meine Oma steht total auf diesen Typen.“ Dann beschloss sie, ihre Karten endgültig auf den Tisch zu legen. Besser, Andreas überlegte es sich jetzt anders, als später. Jetzt würde sie es noch verkraften können, aber später? Nein, die Enttäuschung wollte sie sich nicht antun. „Eines solltest du noch wissen: Ich hab´ da eine dumme Vorstrafe in meiner Akte und bin sozusagen noch auf Bewährung“, setzte sie stockend hinzu. „Es tut mir leid. Ehrlich, ich könnte verstehen, wenn du jetzt einen Rückzieher machst.“

 

„Hast du jemanden tot geschlagen? Oder eine Bank überfallen?“

 

„Nein!“, fuhr Nikki ihn erbost an. „Ich habe damals…“

 

Eine Handbewegung von Andreas stoppte ihren Mitteilungsdrang. „Lass es – ich will es gar nicht wissen. Später vielleicht, okay? Für den Augenblick reicht mir das, was ich von dir weiß. Übrigens: Auch wenn ich schon wusste wie du heißt; ich bin sehr froh, dass du mir deinen Namen doch noch freiwillig verraten hast.“

 

Nikki huschte ein schüchternes Lächeln über das Gesicht, doch gerade als sie antworten wollte, steckte die Krankenschwester ihren Kopf zur Tür herein:

 

„Sie sind ja immer noch hier“, stellte sie mit einem tadelnden Blick auf Andreas fest. „War nicht die Rede von fünf Minuten? Die Patientin ist frisch operiert – sie braucht Ruhe.“

 

„Kommen Sie, ich bitte Sie, es geht ihr doch gut.“ Andreas ließ seinen Charme spielen und lächelte die Schwester strahlend an.

 

„Ja, genau!“ Nikki nickte eifrig. „Er frischt gerade mein Gedächtnis auf – diese Lücken machen mich noch wahnsinnig.“

 

„Junge Frau, Sie haben heute mit viel Glück eine verheerende Gasexplosion überlebt. Da muss man sich nicht an jedes Detail erinnern können. Seien Sie einfach nur dankbar.“

 

„Gasexplosion?“ Nikki blickte Andreas fragend an.

 

Der nickte bestätigend. „Ja, die komplette Heizungsanlage ist in die Luft gegangen. Es soll mehrere Lecks in den Leitungen gegeben haben – hab´ ich zumindest gehört. Da reicht dann irgendwann ein Funke und >Bumms<. Außerdem soll beim Bau des Zentrums kräftig beim Material gespart worden sein. Letztlich ging diese Pfuscherei auf Kosten der Statik – es kam wohl eins zum anderen. Und als die Heizungsanlage hochging, ist der ganze Komplex wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Ich vermute mal, die Sachverständigen und Gutachter werden in den nächsten Wochen `ne Menge zu tun haben. Immerhin hat es Tote und eine Menge Verletzter gegeben. Wenn das Ganze früher am Tag passiert wäre, hätte es wohl noch deutlich mehr Opfer gegeben. Was die Feuer angeht: Da hatte ich übrigens recht – die Feuerwehr war sehr schnell vor Ort und konnte löschen, daher konnten die Flammen nicht bis in die unteren Regionen durchdringen. Wir hatten großes Glück.“

 

Die Krankenschwester schüttelte mit einem nachgiebigen Lächeln den Kopf und verabschiedete sich mit einem strengen: „Wenn ich bei meinem nächsten Rundgang wieder in diesem Zimmer vorbeikomme, will ich Sie hier nicht mehr sehen. Klar?“

 

„Sonnenklar“, antworteten Nikki und Andreas wie aus einem Mund. Nachdem sich die Tür hinter der verständnisvollen Frau geschlossen hatte, mussten beide lachen, wobei Nikki allerdings gleichzeitig schmerzhaft ihr Gesicht verzog.

 

„Hey, alles klar?“, erkundigte Andreas sich besorgt, als er ihr zusammenzucken bemerkte. „Du hast Schmerzen – soll ich sie zurückholen?“

 

„Nein, um Gottes Willen“, kicherte Nikki. „Seit wann heiße ich denn wieder >Hey<?“

 

„Sorry, du hast recht. Nicole!“ Andreas griff in seine Hosentasche und zauberte eine Visitenkarte hervor, die er auf Nikki´s Nachtkasten ablegte. Dann streckte er seine Hand aus. „Ich bin sicher, wir beide werden prima zusammenarbeiten, du wirst sehen. Also abgemacht: Du meldest dich bei mir wenn du wieder gesund bist. Okay?“

 

„Du kannst dich darauf verlassen!“ Fest erwiderte Nikki Andreas´ Händedruck. Mit einem Mal sah die Zukunft für sie wieder richtig vielversprechend aus. Plötzlich schoss jedoch ein Gedanke durch ihren Kopf, der sie unversehens wieder zaudern ließ.

 

„Was ist los?“, erkundigte sich Andreas, der ihr Zögern bemerkt hatte. „Raus mit der Sprache. Drücken gilt nicht“, setzte er mit einem kleinen Lächeln hinzu.

 

„Es ist nur…ich…ich muss sicher eine Weile im Krankenhaus bleiben.“

 

„Das ist mir schon klar“, antwortete Andreas. „Soll ich vielleicht inzwischen deine Katze versorgen? Oder die Pflanzen?“ Er stellte die Frage scheinbar leichthin, doch er wartete gespannt auf Nikki´s Antwort.

 

„Wie? Ach, Quatsch. Nein, ich meine nur, es wird sicher eine Weile dauern bis ich wieder fit bin“, antwortete Nikki und blickte Andreas offen ins Gesicht. Vielleicht kannst oder willst du ja nicht so lange warten.“

 

„Mach dir keine Sorgen. Der Laden ist zerstört – bis ich soweit bin, dass ich ihn wiedereröffnen kann, wird es sicher auch `ne Weile dauern. Wahrscheinlich werde ich mich sowieso nach einem neuen Ladenlokal umsehen müssen. Bis dahin werde ich mich mit den Versicherungen rumschlagen und…“ Er stockte und wirkte plötzlich seltsam unsicher.

 

„Und was?“, fragte Nikki gespannt. „Komm schon, raus mit der Sprache. Drücken gilt nicht.“

 

„Nun ja…ich hab´ mich nur gefragt – ich meine, wenn du nichts dagegen hast, könnte ich dich ja vielleicht hin und wieder mal besuchen kommen. Um mich nach deinen Fortschritten zu erkundigen…Womöglich hast du ja sogar ein paar Tipps für mich, die beim Wiederaufbau oder bei der Einrichtung eines neuen Ladens schon beachtenswert wären…“

 

Seine offensichtliche Unsicherheit wirkte auf Nikki seltsam befreiend und so fiel es ihr nicht schwer, Andreas´ Angebot aus vollem Herzen anzunehmen. „Ganz ehrlich, ich würde mich sehr freuen, wenn du dich hin und wieder mal sehen lässt.“

 

Ein erleichtertes Lächeln umspielte Andreas´ Lippen, als er sich erhob und zu Nikki herunterbeugte. Ehe die junge Frau wusste wie ihr geschah spürte sie einen flüchtigen Kuss auf ihrer Stirn und gleich danach legte sich seine Hand warm auf ihre rechte Gesichtshälfte. Andreas Daumen streichelte leicht ihre Haut, während er seinen Mund sehr dicht neben Nikki´s Ohr brachte und flüsterte: „Ich bin sehr froh, dass du dort unten bei mir warst. Du brauchst nicht zu antworten – ich wollte nur, dass du das weißt…okay?“ Er richtete sich wieder auf und blickte ihr ernst in die Augen.

 

„Oh…okay…“ Nikki fühlte sich leicht überrumpelt. Ihre Stimme klang rau, als sie schließlich leise antwortete. „Ich bin auch froh, dass du da warst.“

 

„Na, dann.“ Andreas richtete sich auf und wandte sich zum Gehen. „Ich werde dann mal besser gehen, bevor sie wiederkommt und mich rausschmeißt. Aber wir sehen uns. Schon bald. Das ist ein Versprechen.“

 

 

                                                        Ende

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