Außer Kontrolle - Thread V

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28. Kapitel - Irren ist menschlich

Frank fühlte sich nach dem für ihn ungewohnten, anstrengenden 24-Stunden-Dienst wie gerädert. Er hatte zwar eben noch behauptet, wieder hellwach zu sein, doch das war maßlos übertrieben. Er hätte jedoch um nichts in der Welt jetzt freiwillig den Rückzug angetreten. Toni interessierte ihn von Tag zu Tag mehr, und er war fest dazu entschlossen, die kleine Chance, die sie ihm heute so überraschend angeboten hatte, für sich zu nutzen. Selbst wenn sie einen Freund haben sollte. Im Augenblick war immerhin er mit ihr zusammen und das wollte er so lange wie möglich auskosten. So genoss er jede Sekunde der lausig kalten Fahrt auf dem Motorrad mit Toni auf dem Sozius, die sich mit eingezogenem Kopf eng an seinen Rücken schmiegte, um dem schneidenden Fahrtwind wenigstens ein wenig auszuweichen.

 

Während sie an einer roten Ampel warten mussten, bemerkte Frank plötzlich Nick und einige Andere aus der Clique, die auf der anderen Straßenseite im Wartehäuschen einer Bushaltestelle herumlungerten. Nick schien ihn ebenfalls gesehen zu haben, denn er stieß einen seiner Gefolgsleute mit dem Ellbogen an, bevor er schließlich auf ihn deutete, während er etwas sagte, worüber die Anderen laut lachten. Auch das noch! Frank verwünschte stumm das Timing und ignorierte seine Freunde, was gar nicht so einfach war, denn jetzt fing Nick auch noch an zu winken und rief etwas quer über die Straße zu ihnen herüber. Verdammt, das hatte ihm gerade noch gefehlt, doch es war schwierig die kleine Gruppe einfach zu übersehen.

 

„Du, ich glaube, die meinen dich“, sagte da plötzlich Tonis Stimme dicht an seinem Ohr. Scheiße, sie hatte den Trupp gegenüber auch registriert. War ja klar, alles andere hätte ihn gewundert. Ihr warmer Atem so unvermittelt dicht bei seinem Ohr jagte Frank eine wohlige Gänsehaut über den Rücken, doch es blieb ihm keine Zeit lange darüber nachzudenken. Verdammt, warum musste Nick gerade jetzt auftauchen, wo Toni bei ihm war. Nick war clever. Er konnte leicht zwei und zwei zusammenzählen und Frank hatte schon mehrfach miterleben dürfen, wie cholerisch Nick werden konnte, wenn jemand, wie Nick es nannte, die Clique verriet und dazu zählte seiner Ansicht nach auch nur der kleinste Versuch, sich einen anderen Freundeskreis aufzubauen. Außerdem … da machte Frank sich nichts vor … er war für Nick so eine Art goldene Kuh, die er melkte, wann immer ihm danach zumute war. So jemanden ließ er sicher nicht gerne von der Angel.

 

Die Ampel schaltete auf grün und Frank fällte eine Entscheidung. Er musste Toni unbedingt von Nick und seinen Leuten fernhalten. Schon allein aus dem Grund, weil sonst sein Lügenmärchen gleich zu Beginn ihrer Beziehung wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen wäre. Natürlich war er sich im Klaren darüber, dass es noch gar keine Beziehung zwischen Toni und ihm gab, doch er wusste genau, dass es, wenn er jetzt aufflog, keinerlei Aussichten auf eine nähere Beziehung mehr gäbe. Später, so hoffte Frank, würde er Toni sein Verhalten erklären können und vielleicht konnte sie ihm dann ja sogar verzeihen. Sicher, das war Zukunftsmusik und rein hypothetisch, aber diese minimale Chance würde er sich nicht von Nick kaputtmachen lassen. Er brauchte Zeit. Zeit, damit Toni ihn näher kennenlernen konnte. Ihn, Frank. Nicht den schwarzen Chaoten und Kleinkriminellen, der an ihrem Arbeitsplatz seine Sozialstunden abzuleisten hatte. Wenn er sich in der nächsten Zeit gut verkaufte und keinen Scheiß baute, konnte es vielleicht klappen. Er hatte es in der Hand, das spürte er. Aber er wusste auch, dass er, wenn er etwas erreichen wollte, unbedingt vermeiden musste, dass sich Nick und Toni über den Weg liefen.

 

„Festhalten“, sagte er kurz über die Schulter und gab Gas. Ohne auf die winkende Gruppe auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu achten fuhr Frank weiter. Dabei konnte er Nicks hasserfüllte, stechende Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten, förmlich spüren.

 

*************

 

„Du hast es ja ganz schön weit zur Arbeit“, sagte Frank, als er eine Viertelstunde später in der Schifferschen Einfahrt abstieg und das Motorrad für Toni festhielt, damit sie bequem absteigen konnte.

 

Er hatte Recht mit seiner Bemerkung, denn Toni musste tatsächlich einmal quer durch die Stadt, wenn sie zum Altenheim wollte. Sie wohnte mit ihrer Familie in einer gutbürgerlichen typischen Vorstadtsiedlung. Frank warf einen Blick auf das Haus, das mit Sicherheit auch schon bessere Tage gesehen hatte. Trotzdem wirkte es auf den ersten Blick gemütlich und einladend.

 

„ Tja, hat sich halt so ergeben“, meinte Toni schlicht, während sie seinen Blicken folgte. „Willst du noch mit reinkommen?“, fragte sie unsicher. „Wenn du willst, könntest du mit uns essen.“

 

Frank wollte gerade antworten, als er ein sich rasch näherndes Motorengeräusch hörte. Er drehte sich um und erkannte den verhassten blauen VW-Bus, der gerade schwungvoll in die Einfahrt einbog. Schade, schoss es ihm durch den Kopf. Gelegenheit verpasst. Verdammt, dieser Kerl wurde wirklich langsam lästig. „Ach, weißt du, ich sollte mich wohl besser vom Acker machen“, lautete seine betont lässige Antwort auf Tonis Angebot.

 

Die war wiederum seinen Blicken gefolgt: „Wegen Mike?“, fragte sie anscheinend verständnislos. „Aber warum denn?“

 

Frank konnte nicht gleich antworten, denn er musste seine Maschine aus dem Weg schieben, damit der Bus wie selbstverständlich unter das morsch wirkende, leicht windschiefe Carport rollen konnte. Mike stieg aus und kam auf sie zu.

 

„Hallo“, grüßte er freundlich. „Wie ich sehe hast du ja offensichtlich eine Mitfahrgelegenheit gefunden“, setzte er, an Toni gewandt, hinzu, bevor er Frank die Hand hinhielt. „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Mike.“

 

„Mein älterer Bruder“, fügte Toni mit einem Schmunzeln hinzu, bevor Frank etwas sagen konnte. „Ich habe dir von ihm erzählt.“

 

In Franks Kopf überstürzten sich die Gedanken. Bruder? Hallo? Er hörte immer Bruder. Gott, wie dämlich war das denn? Und Toni wollte ihm von Mike erzählt haben? Ja, klar, das hatte sie, aber hatte sie dabei auch seinen Namen erwähnt? Offenbar schon, auch wenn er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Der lästige Typ mit dem VW-Bus war also ihr Bruder? Umso besser. Frank hieß die Welle der Erleichterung, die ihn ziemlich unvermittelt überkam, willkommen und erwiderte Mikes angenehm festen Händedruck.

 

„Frank. Freut mich.“ Das war die reine Wahrheit. Komisch, so störend er Mike zuvor immer empfunden hatte … plötzlich wirkte der hoch gewachsene junge Mann sogar recht sympathisch auf Frank.

 

„Was ist? Kommt ihr mit rein, oder wollt ihr hier draußen in der Kälte Wurzeln schlagen?“, erkundigte der sich und blickte fragend von seiner Schwester zu Frank.

 

„Ja, was ist nun?“, wollte nun auch Toni wissen. „Mike hat recht. Ich muss ins Warme. Mir ist saukalt.“

 

Frank lächelte und kam sich wegen seiner übereilten Absage von vorhin ein bisschen blöd vor. „Warum eigentlich nicht“, antwortete er. „Etwas zu beißen wär´ bestimmt nicht schlecht.“ Damit folgte er den Geschwistern neugierig ins Haus.

 

*****************

 

Toni schien es ein wenig peinlich zu sein, dass ihr Vater in seinem Rollstuhl mit einer Flasche Bier in der Hand vor dem Fernseher saß. Herr Schiffer reichte Frank die Hand und begrüßte ihn höflich, wendete seine Aufmerksamkeit danach aber direkt wieder dem Bildschirm zu und schien den Gast binnen Sekunden wieder ausgeblendet zu haben.

 

„Komm“, forderte Toni Frank leise auf und packte ihn am Arm. „Lass uns in die Küche gehen. Da ist es gemütlicher.“

 

Damit lag sie genau richtig, wie Frank gleich nach seinem Eintritt feststellte. Er konnte es ja nicht wissen, aber die Küche der Familie Schiffer war seit jeher der Treffpunkt für Freunde und Mitglieder der Familie. Zwar sah es dort immer ein wenig chaotisch aus, seitdem die Geschwister das Regiment quasi alleine führten, doch es war durchaus sehr gemütlich. Toni nahm einen Stapel Blätter von einem Stuhl und legte sie auf dem halbhohen Kühlschrank ab.

 

„Setz dich“, sagte sie zu Frank, bevor sie einen dunkelhaarigen Jungen, der aussah wie eine jüngere Ausgabe von Mike, anblaffte: „Daniel. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht überall deinen Kram herumliegen lassen sollst.“ Ihre Worte hatten zur Folge, dass ihre jüngere Ausgabe, die allerdings glattes Haar hatte und die am Küchentisch offenbar mit Hausaufgaben beschäftigt war, ihrem Bruder die Zunge rausstreckte.

 

„Hey, guck gefälligst genau hin, bevor du meckerst“, verteidigte sich Daniel prompt vehement. „Das sind Klaviernoten! Was soll ich mit Klaviernoten? Die gehören Lukas. – Und du hältst dich gefälligst da raus, klar?“, herrschte er dann noch die jüngere Ausgabe von Toni an.

 

„He, hört auf zu streiten! – Lukas?!“    

 

„Kannst du vergessen“, meinte Daniel trocken. „Der ist oben und schmollt. Er wollte mal wieder ans Klavier, aber Papa hat ihn nicht gelassen.“

 

Toni seufzte. Mike, der gerade in die Küche nachkam, wendete sich an Daniel: „Hey, wie viele Flaschen hat er schon intus?“

 

„Keine Ahnung“, gab sich Daniel vor dem Gast cool und zuckte mit den Schultern. „Fünf? Sechs? Wer weiß das schon? Ich zähl´ da schon lange nicht mehr mit.“

 

Frank saß auf seinem Stuhl und hörte sich das bunte Treiben staunend an. Als er sich dazu entschlossen hatte, Toni Einladung anzunehmen, hatte er sich mental natürlich auch darauf eingestellt, ihre Familie kennenzulernen, aber dass sich das so abspielen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Es überraschte ihn, wie offensiv die Geschwister offensichtlich damit umgingen, dass ihr Vater trank. Nur Toni schien das Ganze offensichtlich etwas anders zu sehen. Sie warf ihm einen geknickten Blick zu, während sie Wasser in einen Kessel füllte.

 

„Sorry, ich hoffe, das macht dir nichts aus. Aber ich dachte … na ja, du kennst das ja“, sagte sie leise.

 

„Oh … ähm … schon okay, mach´ dir keinen Kopf. – Hey, stimmt was nicht?“, fragte er dann seine Nachbarin am Küchentisch, die ihn unverhohlen neugierig anstarrte.

 

„Ich bin Sarah.“

 

„Frank.“

 

Sarah schaute Frank treuherzig an und erzählte: „Weißt du, früher hat Papa nie getrunken. Das tut er erst, seitdem Mama tot ist.“

 

Frank nickte verständnisvoll, wie er hoffte. Er fühlte sich gerade ein bisschen überfordert.

 

„Trinkt dein Papa auch?“

 

„Ähm … ja, das tut er. Und zwar ohne guten Grund“, antwortete Frank nach einem kurzem Zögern. Schon wieder eine Lüge. Zwar nur eine wiederholte, aber trotzdem …

 

Sarah klappte ihr Heft zu und rutsche verschwörerisch näher an Frank heran. „Bist ein Kollege von Toni?“, wollte sie dann wissen.

 

„Ja … ja, ich denke, irgendwie schon.“

 

„Komisch, ich hab´ dich noch nie im Heim gesehen.“

 

„Ich bin auch erst seit kurzem dort“, erklärte Frank.

 

„Sarah, sei nicht so neugierig“, tadelte Toni ihre Schwester. „Pass ja auf“, sagte sie dann zu Frank. „Sarah steckt uns alle in die Tasche. Bevor du dich versiehst, hast du keine Geheimnisse mehr. Sie ist ein echtes Ass in der Beziehung.“

 

Sarah schnitt eine verärgerte Grimasse in Richtung ihrer großen Schwester.

 

„Schon gut“, sagte Frank amüsiert. „Lass sie ruhig.“

 

„Ach, jetzt weiß ich´s. Du bist Tonis `Sozialfall´“, rief Sarah plötzlich aus. „Richtig? – Sag schon, hab´ ich recht?“

 

„Sarah!“ Toni schrie entsetzt auf und warf Frank einen hilflosen, um Verzeihung bittenden Blick zu. „Entschuldige. Kann sein, dass ich dich mal so genannt habe, als ich erzählt habe, dass du zu uns ins Heim zum … arbeiten kommst.“

 

„Interessant.“ Mittlerweile musste Frank sich das Lachen doch schon ziemlich verkneifen.

 

„Und? Findest du Toni nett?“, mischte sich Sarah wieder ein.

 

„So, Schluss! Jetzt reicht es! Kein Wort mehr – Sarah, du hältst jetzt sofort die Klappe!“ Toni war froh, dass sie mit dem Rücken zu den anderen vor der Spüle stand und den Salat wusch. So konnte wenigstens niemand sehen, wie sie plötzlich über und über rot anlief. Sie spürte mehr als deutlich, wie die Hitze über ihren Hals und die Ohren in ihr Gesicht kroch und sich dort wie ein verdammter Flächenbrand ausbreitete.

 

„Kann ich dir irgendwie helfen, Schwesterherz?“, erkundigte sich jetzt zu allem Überfluss Mike in extrem süffisantem Tonfall.

 

Toni hätte ihn dafür erwürgen können. Mikes Stimme war das amüsierte Grinsen förmlich anzuhören.

 

„Nein“, stieß sie hastig hervor. „Ich schaff´ das schon.“ Zu gerne hätte sie Franks Gesicht gesehen, doch sie wagte nicht, sich umzudrehen. Diese verdammte Hitze in ihrem Gesicht hielt sich hartnäckig.

 

„Sicher“, hörte sie mit klopfendem Herzen Franks ruhige Antwort an Sarah. „Oder würdest du jemanden nach Hause fahren, wenn du ihn nicht leiden könntest?“

 

Das sah anscheinend sogar Sarah ein. Sie schwieg für einen kurzen Augenblick. Toni wollte schon insgeheim aufatmen, da brüllte ihre Schwester unvermittelt los:

 

„Lukas! Andi! Mensch, kommt doch mal runter. Toni hat `nen neuen Freund.“

 

Nein! Bitte, das darf doch alles nicht wahr sein, flehte Toni in stummer Verzweiflung, während sie stur nach unten ins Waschbecken starrte. Endlich erbarmte sich ihr älterer Bruder und kam ihr zu Hilfe.

 

„Hey, Frank, wenn du willst könntest du mir vor dem Essen noch schnell dabei helfen, das Zeug aus dem Bus in den Keller zu räumen.“

 

„Gerne, wenn wir noch Zeit haben. Ich will auf gar keinen Fall das Essen verpassen. Mir hängt der Magen auf den Knien. Außerdem weiß ich nicht, ob die kleine Lady hier ihr Verhör schon beendet hat.“ Frank nickte Sarah grinsend zu.

 

Oh ja, und wie sie das hat, dachte Toni grimmig, bevor sie sich energisch zu Wort meldete: „Ihr habt noch jede Menge Zeit. Geht ruhig, ich rufe euch, wenn es soweit ist.“

 

Mike und Frank verließen die Küche und Toni atmete erleichtert auf. Mike war eindeutig weniger gefährlich, als die kleine Pestfliege Sarah. Am liebsten hätte sie sich Sarah einmal kräftig zur Brust genommen, doch sie wusste ganz genau, dass der Schuss nur nach hinten losgehen konnte und Sarah sie dann nachher nur noch mehr blamieren würde.

 

Eine halbe Stunde später saßen alle gemütlich um den riesigen Esstisch in der Küche. Sogar Lukas hatte seinen Schmollwinkel verlassen und war herunter gekommen. Wie immer redeten alle durcheinander und Toni war froh, dass die Stimmung vergleichsweise gut war, auch wenn ihr Vater, wie so oft, nicht viel zur Unterhaltung beitrug. Auch Frank verhielt sich auffällig still und Toni fragte sich unwillkürlich, was er wohl denken mochte. Sie bereute schon fast, ihn zum Bleiben eingeladen zu haben.

 

Frank fühlte sich indessen so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Er genoss das gemütliche Beisammensein mit den Schiffers in vollen Zügen. Es war etwas völlig Neues für ihn, mit so vielen Personen an einem Tisch zu sitzen, und einfach nur dazu zu gehören. Selbst wenn der Speisesaal im Hotel voll war, so saß er doch meistens alleine am Tisch. Im Höchstfall waren seine Eltern dabei, doch selten verlief eine Mahlzeit ungestört. Meist verließ einer der beiden schon während des Essens den Tisch. Oder es wurde nur übers Geschäft geredet. Hier war das anders. Sogar die Zwillinge trugen ihren Teil zur Unterhaltung bei und die anderen hörten ihnen zu. Bei Schiffers herrschte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie er es bislang nur in der Clique erlebt hatte. Und selbst dort hatte es sich in letzter Zeit nicht mehr so richtig einstellen wollen. Frank fühlte sich so wohl bei den Schiffers, dass es schließlich schon fast Abend war, als er sich endlich verabschiedete.

29. Kapitel - Der Lauscher an der Wand...

Als Frank wenig später das Hotel betrat, begegnete er seinen Eltern in der Eingangshalle. Er hob eine Hand, winkte kurz und rief zu ihnen herüber: „Hey, ich bin total kaputt und verschwinde direkt nach oben.“

 

In seinem Zimmer angekommen stellte er jedoch fest, dass seine Geldbörse sich nicht, wie gewohnt, in der Innentasche seiner Jacke befand. Scheiße, dachte er, auch das noch. Er musste sie bei Schiffers verloren haben, denn im Cafe hatte er sie noch gehabt, dessen war er sich sicher. Vermutlich war sie aus der Tasche heraus gerutscht, als er die Jacke achtlos auf den Wust anderer Klamotten an der Garderobe gelegt hatte. So ein Mist, jetzt musste er noch mal los, denn Toni würde er erst am Mittwoch wiedersehen und so lange konnte er nicht auf seine Papiere verzichten. Nicht auszudenken, wenn die Bullen ihn ohne erwischen würden. Frank hatte das dumpfe Gefühl, eine solche Kleinigkeit wäre für Richter Dohmen ein willkommenes Fest. Er war fest davon überzeugt, dass der, ohne mit der Wimper zu zucken, kurzen Prozess mit ihm machen und ihn einlochen würde.

 

Frank stöhnte unterdrückt auf, zog sich wieder an und machte sich frustriert auf den Weg. Auf sein Klingeln hin öffnete Andi ihm die Tür. Oder war es Lukas? Egal, der Junge schaute ihn auf jeden Fall nur kurz an und verschwand dann wie der Blitz wortlos die Treppe hinauf.

 

„Hey, hoffentlich ist bald Ruhe da oben“, ertönte Tonis Stimme streng aus der Küche und Frank musste unwillkürlich grinsen. Offenbar hatte sie sein Klingeln nicht mitbekommen und Andi oder Lukas hatte die Neugier nach unten getrieben, obwohl er sicher schon längst im Bett hätte sein sollen. Deshalb war er wohl auch so flugs wieder verschwunden.

 

Nach einem kurzen Zögern betrat Frank das Haus. Von links erklang aus dem Wohnzimmer leises Schnarchen an sein Ohr. Wahrscheinlich war Herr Schiffer vor dem Fernseher eingeschlafen. Immer noch unschlüssig überlegte Frank, was er tun sollte. Einfach an der Garderobe nach seiner Börse suchen und wenn er sie gefunden hatte, leise wieder verschwinden? Oder besser doch in der Küche, aus der gedämpft die Stimmen von Toni und Mike drangen, Bescheid sagen, warum er noch einmal zurück gekommen war? Er entschied sich für Letzteres und ging entschlossen auf die Küche zu. Im Vorbeigehen griff er sich noch schnell seine Geldbörse, die gut sichtbar auf dem Boden vor der Garderobe lag. Die Küchentür stand einen Spalt offen und gerade als Frank klopfen und eintreten wollte, hörte er Mike sagen:

 

„Toni, ich kann es drehen und wenden, wie ich will. Wir kommen diesen Monat gerade mal so eben über die Runden. Ich will gar nicht an Weihnachten denken.“

 

Mikes Stimme klang tief deprimiert und Frank hielt instinktiv in seiner Bewegung inne. Er hatte den Eindruck, der Zeitpunkt, dort jetzt hineinzuplatzen und das Gespräch der Geschwister zu unterbrechen, wäre extrem ungünstig. Logisch wäre es nun gewesen, sich leise zu entfernen und zu sehen, dass er ungesehen das Haus wieder verlassen konnte, aber das brachte er nicht übers Herz. War es schlicht Neugier oder das echte, ehrliche Interesse von dem der General gesprochen hatte? Er wusste es nicht, auf jeden Fall drückte er sich mit dem Rücken an die Wand, drehte den Kopf soweit es ihm möglich war und spähte vorsichtig durch den Türspalt.

 

Mike saß mit dem Rücken zu ihm am Esstisch und grübelte über einer dicken Kladde, die schräg vor ihm aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Frank vermutete, dass es sich um ein Haushaltsbuch handelte. Von Toni war nichts zu sehen, doch ihre Antwort war deutlich zu verstehen. „Wir brauchen doch nichts und für die Kleinen lassen wir uns eben was einfallen“, tröstete sie ihren Bruder. „Erinnere dich mal: Letztes Jahr war es um diese Zeit doch genauso eng.“ Dem regelmäßigen Zischgeräusch nach zu urteilen, schien Toni zu bügeln.

 

„Aber letztes Jahr hatten wir nicht kurz vor Weihnachten noch eine Autoreparatur. Und Andi und Lukas brauchen schon wieder neue Schuhe. Ehrlich, ich bin echt heilfroh, dass ich bei dem Zusatzjob heute wenigstens die Dachziegel abstauben konnte. Die brauchen wir dringend und wenn wir die auch noch hätten kaufen müssen, hätte das ein weiteres Loch gerissen. Dein neuer Freund will mir übrigens bei den Dacharbeiten helfen. Find´ ich super, wo doch Paul und Dennis keine Zeit haben. Lange abwarten können wir bei der Wetterlage nämlich nicht mehr.“

 

„Frank ist nicht mein neuer Freund“, antwortete Toni bestimmt. „Für einen Freund hätte ich gar keine Zeit, das weißt du. Also bitte, hör´ auf damit.“

 

„Und?“

 

„Was und?“ Tonis Stimme bekam einen ungeduldigen Klang.

 

„Du weißt genau, was ich meine“, antwortete Mike. „Was wäre, wenn du die Zeit hättest?“

 

Vor der Tür spitzte Frank die Ohren. Er verschwendete inzwischen keinen Gedanken mehr daran, die Küche zu betreten.

 

„Du bist unmöglich“, schalt Toni ihren Bruder. „Frank und ich arbeiten zusammen. Noch dazu gezwungenermaßen. Da ist nichts weiter – wenn er seine Stunden abgearbeitet hat, verschwindet er wieder. Punkt. Das ist alles – Ende der Geschichte.“

 

„Wie auch immer“, meinte Mike anscheinend unbeeindruckt. „Er hat mir übrigens beim Abladen von sich aus erzählt, wie er an den Job bei euch gekommen ist. Ich meine, was soll´s? Wenn er sich jetzt fängst, ist doch alles in Ordnung, oder?“

 

„Na ja. Wie gesagt: Irgendwann ist er bei uns fertig und hat wieder mehr Zeit für seine Freunde. Und dann …“ Sie ließ das Ende des Satzes offen.

 

„Du glaubst also, weil er einer von diesen Chaoten ist wird er zwangsläufig rückfällig werden?“

 

„Findest du das so unrealistisch? Mike, du hast doch selbst gesehen, was im EKZ los war. Frank war dabei. Und manchmal … wenn man ihn so reden hört …“

 

„Jetzt, wart´s doch einfach mal ab. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Denk doch mal dran, was Paul zuletzt erzählt hat. Von dem Chaoten, der ihm das Benzin zurückgebracht hat. Man kann sie anscheinend nicht alle über einen Kamm scheren.“

 

Frank hob vor der Tür überrascht die Brauen. Er hatte nicht erwartet, dass Paul den anderen von der Begegnung mit ihm erzählen würde. Aber umso besser für ihn – selbst, wenn niemand der anderen ahnte, dass er es gewesen war. Es konnte nicht schaden, wenn auch einmal etwas Positives über die Gruppe verlautbar wurde.

 

„Was reden wir uns hier eigentlich die Köpfe heiß?“, fragte Toni nun scharf. „Wir haben doch wirklich andere Sorgen, als uns über Franks Zukunft den Kopf zu zerbrechen. Wir werden es sowieso nicht mitbekommen. Glaub mir, der zählt schon die Stunden, bis er bei uns wieder von der Bildfläche verschwinden kann. Mann, Mike, wir hatten `ne anstrengende Schicht und er hat mich nur nach Hause gebracht, so wie Roman es schon zig Mal gemacht hat. Was ist dabei?“

 

„Genau! Er hat dich nur nach Hause gebracht. Deshalb ist er ja sich auch noch bis Abends geblieben – weil die Schicht so anstrengend und er so müde war. – Außerdem … Roman ist schwul“, erinnerte Mike seine Schwester sanft.

 

„Na und“, fauchte Toni. „ Es ist nichts dabei! Im Gegenteil, es ist nur logisch, dass Frank sich gut mit mir stellen will. Ich bin immerhin diejenige, die ihn beurteilen muss. Wahrscheinlich sitzt er gerade irgendwo und amüsiert sich königlich über unsere kümmerlichen Versuche, die Familie zusammenzuhalten.“

 

Wenn du wüsstest, dachte Frank vor der Küchentür und spürte leise Enttäuschung in sich wachsen. Irgendwie hatte er doch gehofft, dass Toni inzwischen einen besseren Eindruck von ihm hatte. Offenbar hatte er sich geirrt.

 

„Wow, was für eine Ansprache“, sagte indes Mike in der Küche. „Ich will dir mal was sagen: Du hast bloß Angst, nichts weiter. Angst, dich auf etwas Neues einzulassen.“

 

„Du hast sie ja nicht mehr alle“, folgte prompt Tonis heftige Reaktion.

 

„Ach ja? Warum räumst du Frank dann keine Chance ein?“

 

„Wer sagt denn, dass ich das nicht tue? Das heißt aber noch lange nicht, dass ich was von ihm will.“

 

„Mag sein. Aber ich glaube nicht, dass du ihm `ne echte Chance gibst. Du gibst dir ja nicht mal mehr selber eine.“

 

„Mike! Verdammt! Jetzt hör aber auf!“ Toni klang inzwischen  richtig sauer.

 

„Doch, so ist es“, bekräftigte Mike. „Wahrscheinlich bin ich sogar mit schuld daran. Ich verlasse mich zu sehr auf dich. Wir alle tun das. Dabei bist du sogar noch jünger als ich. Mensch, Toni, gib´s doch wenigstens jetzt zu – immerhin sind wir unter uns. Niemand hört uns zu. Es wächst uns über den Kopf. Die ganze Chose entgleitet uns mehr und mehr. Auf Papa ist kein Verlass. Wir funktionieren nur noch – und das mittlerweile mehr schlecht als recht. Leben …“ Er lachte auf, doch es klang bitter. „Leben tun wir beide doch schon lange nicht mehr. Das Schlimmste ist: Egal, wie gut wir funktionieren, es wird immer zuwenig sein. Denk mal drüber nach.“

 

„Heißt das, du willst aufgeben?“, fragte Toni nun richtig böse. „Ja? Ist es das, was du mir sagen willst? Na los, sag schon! Raus damit! Sag es!“

 

„Nein.“ Mike seufzte und stand auf, was Frank vor der Tür in Alarmbereitschaft versetzte. „Ich will nicht aufgeben. Ich will nur, dass du einsiehst, dass wir es nicht mehr alleine schaffen. – Wir brauchen Hilfe!“

 

„Ach ja? Und wer, bitte schön, soll uns helfen? Wenn wir zum Jugendamt gehen, werden wir auseinandergerissen – dann war alles umsonst! Ist es das, was du willst? Mike…“ Tonis Stimme klang nun wirklich verzweifelt. „Bitte – das dürfen wir nicht! Wir schaffen das – wir müssen es nur wollen.“

 

Frank war auf dem Sprung und schielte angestrengt zur Eingangstür. Doch noch konnte er sich nicht losreißen.

 

„Ich bin müde.“ Mike klang resigniert. „Lass uns ein anderes Mal weiter reden. Ich muss ins Bett. Du solltest dich besser auch aufs Ohr hauen.“

 

„Gleich“, antwortete Toni. „Ich mach´ das hier nur noch schnell fertig.“

 

„Toni …“

 

„Ehrlich, es ist nicht mehr viel“, warf Toni schnell ein. „Und, Mike, bitte, mach dir nicht so viele Gedanken. Du machst mir damit Angst. Wir schaffen das! Wir dürfen nur nicht aufgeben. Wir dürfen nicht mal daran denken, hörst du?“

 

„Sicher.“ Mike verschwand kurz aus Franks Gesichtsfeld und er hörte, wie sich der Kühlschrank öffnete und gleich darauf wieder schloss, bevor Mikes Schritte sich der Tür näherten.

 

Jetzt wurde es aber Zeit für ihn! Frank huschte lautlos durch den Flur und verschwand nach draußen, unmittelbar bevor Mike aus der Küche kam. Leise schob er seine Maschine aus der Einfahrt bis auf die Straße, bevor er den Motor startete. Nachdem er kurz darauf zum zweiten Mal an diesem Tag nach Hause kam, war trotz seiner bleiernen Müdigkeit an Schlaf nicht mehr zu denken. Die halbe Nacht lag er wach, starrte an die Decke und dachte nach. Das belauschte Gespräch hatte ihn zutiefst aufgewühlt und in ihm wuchs der Wunsch, Toni und ihrer Familie zu helfen. Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er zermarterte sich das Hirn, doch der erhoffte, zündende Gedanke wollte einfach nicht kommen. Es musste doch möglich sein, den Schiffers zu helfen, ohne dass die Familie getrennt wurde. Etwas legales, das war klar, mit halbseidenen Geschichten brauchte er gar nicht erst anzufangen; das konnte nur nach hinten losgehen. Aber hier war es nicht damit getan, dass er nach Ableistung seiner Sozialstunden freiwillig weiter im Heim aushalf – das hatte er sich sowieso schon fest vorgenommen, denn es war der Vorwand schlechthin, wenn er Toni weiter treffen wollte. Nein, wenn er wirklich langfristig etwas erreichen wollte, brauchte er einen Knaller. Eine Idee, die der ganzen Familie half. Nur … war er in seiner derzeitigen Situation überhaupt in der Lage dazu, den Schiffers zu helfen? Franks Gedanken drehten sich im Kreis – was zum Teufel konnte er unternehmen, ohne das irgendjemand auf die Idee kam, dass er im Hintergrund die Fäden gezogen hatte.

 

Schließlich forderte die Müdigkeit ihren Tribut und Frank fiel erschöpft in einen unruhigen Schlaf.

30. Kapitel - Charakterfest oder Dumm?

In den nächsten zwei Wochen lief alles seinen geregelten Gang. Toni und Frank arbeiteten immer besser zusammen und Schwester Maria war sehr zufrieden mit den beiden. Sie sprangen als Team überall dort ein, wo Not am Mann war, und trugen so entscheidend mit dazu bei, den Betrieb im Altenheim reibungslos aufrecht zu erhalten, solange die einzelnen Stationen personell noch unterbesetzt waren.

 

Frank hatte es sich außerdem zur Gewohnheit gemacht nach Dienstschluss im Zimmer des Generals vorbeizuschauen. Hier stand neuerdings ein Schachspiel und die beiden spielten mit Unterbrechungen ihre Partien. Gesprochen wurde hierbei stets wenig, aber die beiden so unterschiedlichen Charaktere genossen die neue Abwechslung in ihren Tagesabläufen, die ihnen offensichtlich gut tat, jeweils auf ihre Art. Der General war längst nicht mehr so brummig seinen Mitmenschen gegenüber und Frank nutzte die längeren Pausen, die zwischen den einzelnen Zügen immer wieder entstanden, zum nachdenken – und dabei ging es nicht nur um jeweils nächsten Schachzug. Die Termine bei seiner Bewährungshelferin nahm er pünktlich wahr und so gab es auch von dieser Seite aus, keinen Grund zu meckern. Bei Franks drittem Besuch in Folge, hielt Barbara Schäfer ihn bei der Verabschiedung mit einem freundlichen Lächeln noch kurz zurück.

 

„Ich habe mit Schwester Maria über dich gesprochen und es wird dich vielleicht freuen, zu hören, dass sie nur Gutes zu berichten wusste. Ich denke, es wird auch Richter Dohmen sehr freuen, von deiner Entwicklung zu hören. Du musst wissen, dass er erhebliche Zweifel hatte, was dich angeht.“

 

Frank verzog das Gesicht. „Finden Sie es nicht selber ein bisschen merkwürdig, von Ihrem Vater immer nur als `Richter Dohmen´ zu sprechen?“ Als sein Gegenüber darauf antworten wollte, hob er abwehrend eine Hand. „Vergessen Sie es, Sie brauchen nicht zu antworten. – Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass Ihr Vater an mir zweifelt. Am liebsten hätte er mir bei meiner Verhandlung ja `lebenslänglich´ verpasst. Tja, Pech für ihn, dass ich niemanden umgebracht hatte.“

 

„Hey, junger Mann, nur die Ruhe. So schlimm, wie du ihn darstellst, ist der Richter nun auch wieder nicht.“

 

„Na ja“, zweifelte Frank und verzog sein Gesicht. „Ich weiß nicht, ich hatte immerhin schon häufiger mit ihm zu tun.“

 

„Ich auch. Wie du eben ja ganz richtig festgestellt hast, ist er mein Vater“, erinnerte Frau Schäfer ihren Schützling sanft.

 

„Ich weiß ja“, stöhnte Frank auf. „Und? Was erwarten Sie jetzt von mir?“

 

„Nichts. Außer, dass du dich weiterhin an die Auflagen hältst.“

 

„In meinem eigenen Interesse, nehme ich an.“

 

„Ganz richtig. In deinem eigenen Interesse.“

 

Frank zog eine Grimasse. „Ich werde da sein, keine Angst.“

 

„Davon gehe ich aus“, antwortete Barbara Schäfer vielsagend.

 

„Kann ich jetzt gehen?“

 

„Sicher. Wir sind für heute fertig. Hast du noch was Bestimmtes vor?“

 

„Muss ich darauf antworten?“

 

„Nein, natürlich nicht. War nur eine Frage.“

 

Frank stand auf. „Dann verweigere ich die Aussage“, sagte er mit einem schiefen Grinsen und wich gekonnt den prüfenden Blicken seiner Bewährungshelferin aus, indem er aufstand und sich schnell der Tür zuwandte.

 

„Frank?“

 

Unwillig drehte er sich noch mal um: „Was denn noch?“

 

„Du solltest dich in Zukunft von deiner Clique fernhalten. Es wäre fatal, wenn du wieder unangenehm auffällst. Ich darf doch annehmen, dass dir das klar ist?“

 

„Natürlich. Worauf wollen Sie hinaus?“

 

„Es gab da an dem Jubiläumswochenende einen ziemlichen Aufruhr im EKZ.“

                              

„So? Und wer sagt, dass ich was damit zu tun hatte?“, fragte Frank provozierend und wappnete sich innerlich für die Antwort. Er ahnte bereits, dass sie ihm nicht gefallen würde. Was hatte er übersehen?

 

„Ich“, kam scharf die Antwort. „Ich war zufällig dort und habe dich gesehen.“

 

Scheiße! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. „So?“ Was Besseres fiel ihm absolut nicht ein.

 

„Ja, so! Ich habe mich daraufhin direkt an die Security-Abteilung gewendet, mich ausgewiesen und konnte sie dazu bewegen, dass ich mir die Bänder aus den Überwachungskameras anschauen konnte.“ Frau Schäfer machte eine Kunstpause und beobachtete ihren Mandanten sehr genau. Frank stand an der Tür, die Klinke bereits in der Hand und blickte sie wie vom Donner gerührt an. An die Überwachungskameras hatte er offensichtlich bislang keinen Gedanken verschwendet und jetzt hatte er Angst. Sie wartete noch ein paar Sekunden und beschloss dann, ihn zu erlösen. „Du hast Glück“, fuhr sie leise fort. „Du warst auf keinem der Bänder eindeutig zu erkennen. Ich konnte den Männern daraufhin glaubhaft versichern, dass ich mich leider geirrt hätte.“

 

Frank ließ hörbar seinen angehaltenen Atem entweichen. „Und? Dem Papa schon alles brav berichtet?“, rutschte es ihm dann heraus. „Sorry“, setzte er gleich darauf hinzu. „Ich bin ein Idiot. – Dabei sollte ich wohl eher Danke sagen.“

 

Frau Schäfer ging auf die offene Provokation und Franks folgende Entschuldigung nicht näher ein. „Wir beide wissen natürlich, dass ich mich nicht geirrt habe und ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, warum ich so reagiert habe, aber ich habe bei dir so ein Gefühl …“

 

„Ein … Gefühl?“ Frank kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Wie, bitte schön, soll ich das denn verstehen?“

 

„Ein Gefühl, dass bei dir noch nicht Hopfen und Malz verloren ist, wenn du verstehst was ich meine. Und nachdem ich jetzt mit Schwester Maria gesprochen habe … hm, ich wollte dir zuerst gar nichts davon sagen, es wirft schließlich letztlich auch kein besonders gutes Licht auf mich und meine Arbeit, aber Frank … bitte …“ Die Stimme von Barbara Schäfer klang jetzt sehr eindringlich. „… diese Typen, mit denen du da zusammen warst … Glaubst du wirklich, die stehen im Ernstfall auf deiner Seite? Du hast es doch schon einmal erlebt, oder? Wenn du bei deiner Verhandlung …“

 

„Hey!“ Frank kam zurück zum Schreibtisch, stützte sich mit beiden Händen ab und beugte sich so weit nach vorne, dass ihm eine Haarsträhne ins Gesicht fiel. „Ich bin Ihnen wirklich dankbar für das, was Sie da im EKZ für mich getan haben. Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben, wenn ich Ihnen versichere, dass ich dort nichts geklaut habe. Und was den Wachmann angeht … den habe ich nur niedergeschlagen, weil …“ Seine Augen irrten kurz ziellos durch den Raum, bevor er sich schließlich aufrichtete, sich die Haare nach hinten strich und seinen Blick wieder auf Barbara Schäfer richtete. „Das ist eine andere Geschichte“, sprach er dann leise nach einer Pause weiter. „Richten Sie Ihrem Vater einen schönen Gruß von mir aus“, sagte er und bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. „Er wird keine Namen von mir bekommen, klar? Ich bin kein Zinker. – Und was den Vorfall im EKZ anbelangt … machen Sie daraus, was sie wollen. Ich habe mir da nichts vorzuwerfen.“ Er wandte sich um. „Wir sehen uns nächste Woche.“ Laut und vernehmlich fiel gleich darauf die Tür hinter ihm ins Schloss.

31. Kapitel - Der Bruch

Nach dem Besuch bei seiner Bewährungshelferin hatte Frank lange nachgedacht. Natürlich wusste er, dass Frau Schäfer recht hatte und doch fuhr er an diesem Abend erstmals seit längerer Zeit wieder raus zur alten Fabrik. Da es schon spät war, hoffte er, Nick bei seinem Besuch aus dem Weg gehen zu können. Um diese Zeit trieb er sich für gewöhnlich schon mit dem harten Kern der Truppe, zu dem er bis vor kurzem selber noch gehört hatte, in der Stadt herum, um Geld aufzutreiben. Allerdings blieben die Mädchen manchmal in der Fabrik zurück und Frank wollte unbedingt noch einmal nach Trixie sehen. Er fand sie halbwegs betrunken und völlig stoned auf einer der feuchten verschimmelten Matratzen. Unwillkürlich schüttelte es ihn, doch er überwand seinen Ekel, ging vor Trixie in die Hocke und hielt ihr ein Päckchen hin.

 

„Hey! Hier, nimm. Ich hab´ dir was mitgebracht. Hab´ ich unserem Koch abgeluchst. Hühnchen. Ist wirklich gut.“

 

Mit glasigen Augen schaute Trixie zu ihm auf. „Frank“, brachte sie mit Mühe heraus, bevor ein heftiger Hustenanfall ihren zierlichen Körper durchschüttelte und jedes weitere Wort schon im Keim erstickte.

 

„Nun nimm schon. Du musst was essen. Es ist sogar noch ein bisschen warm.“

 

Trixie schüttelte den Kopf: „Ich kann nicht. Kommt gleich wieder hoch.“

 

„Du musst dich zwingen. Komm schon, probier es wenigstens.“ Frank drückte dem Mädchen das in Alufolie verpackte Essen in die Hand, doch Trixie verzog angewidert das Gesicht und legte das Päckchen achtlos beiseite.

 

„Hast du Geld?“

 

Frank wühlte in seinen Hosentaschen und beförderte einen Zwanzig-Euroschein zu Tage. „Hier.“ Er hielt Trixie den Schein hin, die gierig danach griff und den Schein hektisch in ihren Ausschnitt stopfte. „Aber nicht für Stoff, hörst du?“, verlangte er wider besserem Wissens.

 

„Nick lässt sich den Stoff neuerdings bezahlen“, antwortete Trixie mit zitternder Stimme.

 

„Was?“ Frank hatte sich zwar schon so etwas gedacht, doch die Gewissheit schockierte ihn dennoch. „Ich denke, es wird geteilt, was da ist?“

 

„Nicht mehr. Wenn wir beim Betteln nicht genug zusammenkriegen, müssen wir dafür `arbeiten´. Ehrlich, das kann ich nur zugedröhnt ertragen. Gestern musste ich so einem alten, fetten Schwein in seinem Wagen hinter dem Bahnhof einen … du weißt schon. Ohne Kondom. Der Kerl stank total nach Schweiß und als er sich nicht mehr zurückhalten konnte, musste ich kotzen. Da hat er mich …“ Mit Tränen in den Augen hielt Trixie inne und wies auf ihr Gesicht.

 

Frank, dem ihr blaues Auge schon vorher aufgefallen war, verstand, was sie ihm sagen wollte und war völlig entsetzt. „Verdammt! Du musst hier raus. Komm mit mir.“

 

„Wo soll ich denn hin? In euer feines Hotel vielleicht?“

 

„Ich weiß es nicht … erstmal ja. Ich könnte dich durch den Hintereingang in mein Zimmer schleusen. Das klappt bestimmt und später finden wir dann schon was anderes.“

 

Trixie wurde vom nächsten Hustenanfall durchgeschüttelt und Frank holte eine der schmutzigen Decken für sie von der Nachbarmatratze.

 

„Danke.“ Frierend wickelte Trixie sich in den dünnen Wollstoff.

 

„Trixie, bitte. Sei doch vernünftig. Du bist krank. Wenn du nicht aufpasst, holst du dir hier noch `ne Lungenentzündung.“

 

„Wird schon wieder“, keuchte Trixie. „Ist nur `ne kleine Erkältung. Ich kann nicht mit dir mit kommen. Versteh´ doch – sie werden mich zurückbringen. Es geht einfach nicht. – Aber du musst keine Angst haben. Nick will mir nachher was mitbringen. Aus der Apotheke. Er sorgt immer noch gut für uns. “

 

„Trixie …“ Frank konnte nicht fassen, was er da hörte. „Scheiße, du weißt ja nicht mehr, was du redest!“

 

„Genau, ich sorge für meine Leute. Ich tue mein Bestes“, erklang da plötzlich hinter Franks Rücken eine schneidende Stimme. „Und das ist nicht immer einfach, das kannst du mir glauben – besonders wenn die Querulanten überall lauern.“

 

Frank richtete sich betont langsam auf und drehte sich um – alle seine Sinne in Alarmbereitschaft. „Hey, Nick.“

 

„Frank. Welch seltener Gast in unserer bescheidenen Behausung.“

 

Frank ließ sich durch Nicks aufgesetzte Freundlichkeit nicht täuschen und blieb wachsam. Wie viel von dem Gespräch mit Trixie hatte Nick mitbekommen? Wie lange stand er schon hinter ihnen und belauschte sie? „Warst du in der Apotheke? Hast du Trixie was mitgebracht?“, fragte er scharf und ließ Nick keine Sekunde aus den Augen.

 

„Klar doch.“ Nick ging neben Trixie in die Knie und setzte ihr eine Flasche an den Mund. „Die Apotheke hatte leider schon zu, Schatz. Aber ich habe dich nicht vergessen. Hier trink das“, befahl er mit eiskalter Stimme. „Das wärmt von innen.“ Dabei kippte er den Inhalt der Flasche so schnell, dass Trixie kaum zum Schlucken kam. Die klare, klebrige Flüssigkeit rann ihr rechts und links aus den Mundwinkeln und verteilte sich fleckig und feucht auf ihrem dünnen Sweat-Shirt. Sie verschluckte sich heftig, doch Nick ließ nicht von ihr ab, sondern schüttete einfach stur weiter. Mit der freien Hand hielt er Trixies Kopf so fest, dass sie sich nicht abwenden konnte. Hustend und keuchend versuchte das Mädchen freizukommen, doch gegen Nick hatte sie keine Chance.

 

Frank konnte das Drama schließlich nicht länger mit ansehen und ging rigoros dazwischen. Er packte Nick an der Schulter, riss ihn zurück, während er gleichzeitig nach der Flasche griff. Dabei fiel sein Blick auf das Etikett. „Verdammt!“, brüllte er gleich darauf außer sich vor Wut und schleuderte die Flasche an die nächste Wand, wo sie krachend zerbrach. „Sie braucht keinen Wodka! Sie braucht Medikamente! Einen Arzt, zum Teufel!“ Er versetzte Nick einen Stoß vor die Brust, der seinen ehemaligen Freund zwei Schritte zurücktaumeln ließ. „Willst du, dass sie hier verreckt, du Idiot? Ja? Ist es das, was du willst? Trixie hat hohes Fieber. Sie ist am Ende!“ Er deutete auf das Mädchen, das kraftlos auf der Matratze zusammengesunken war und leise röchelnd vor sich hinwimmerte. „Siehst du das denn nicht!“ Er drehte sich um und richtete seine Worte an die Umstehenden. „Seht ihr denn nicht, was er anrichtet? Verdammte Scheiße, das kann es doch nicht sein! Was werdet ihr tun, wenn sie euch hier stirbt? Vielleicht denkt ihr mal darüber nach – dann habt ihr nämlich ein Problem, ihr Vollpfosten!“

 

Atemlose Stille herrschte nach Franks Ausbruch. Nach ein paar Sekunden, die allen Anwesenden jedoch wie Minuten vorkamen, ging Nick schließlich drohend mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen auf Frank zu.

 

„Ich wüsste nicht, was dich das noch angeht“, sagte er gefährlich leise. „Du kennst uns ja noch nicht mal mehr, wenn du uns auf der Straße begegnest. Hast uns wohl nicht mehr nötig, was?“

 

Anerkennendes Gemurmel wurde laut und Frank erkannte, dass es Nick wieder einmal erfolgreich gelungen war, den Spieß umzudrehen. Jetzt war es an ihm, Nick zu besänftigen, sonst befand er sich in einer gefährlichen Situation, denn selbst die aus der Gruppe, die bei seiner Ansprache zunächst nachdenklich gewirkt hatten, musterten ihn nun unverhohlen wieder feindselig.

 

„Es ging nicht“, sagte er daher schnell; hauptsächlich an die Anderen gerichtet. „Natürlich habe ich euch gesehen, aber ich hatte keine Zeit. Meine Kollegin und ich mussten zu einem Termin und wir waren schon spät dran“, log er. „Ich habe euch doch gesagt, wie ich zurzeit unter Beobachtung stehe – ich wollte einfach nicht zu spät kommen.“

 

„Oho, die kleine Rothaarige ist also eine Kollegin“, höhnte Nick. „Es hat Trixie das Herz gebrochen, euch so zusammen zu sehen, das kann ich dir sagen. Eng aneinandergeschmiegt in trauter Zweisamkeit. Danach hat sie sich mal wieder total abgeschossen.“

 

„Da ist nichts“, antwortete Frank kurz. „Ich muss die Tussi nur bei Laune halten, das ist alles.“

 

„So, so, und wo warst du in den vergangenen Wochen?“

 

„Sozialstunden. Ich musste arbeiten.“

 

„An den Wochenenden?“

 

„Ja, auch an den Wochenenden“, fauchte Frank nicht ganz der Wahrheit entsprechend. Am vergangenen Wochenende hatte er einfach nur in seinem Zimmer relaxed und, oh Wunder, gelernt. Doch das war etwas, das Nick ja nicht unbedingt wissen musste. „Was dagegen? Je mehr Stunden ich dort abreiße, desto schneller ist es vorbei.“

 

„Mit dieser Kleinen … wie sagtest du noch heißt sie?“

 

„Ich habe gar nichts gesagt. Lass sie aus dem Spiel“, verlangte Frank.

 

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

 

„Okay“, meinte Nick dann plötzlich aufgeräumt und legte sogar seinen Arm um Franks Schultern. Er wirkte wie ausgewechselt, doch Frank durchschaute sein Spiel. Nick wollte damit seinen Gefolgsleuten demonstrieren, dass alles wieder in Ordnung war. Frank kannte das schon; hatte es schon oft genug im Zusammenhang mit Anderen miterlebt, doch er blieb auf der Hut. „Reden wir über etwas anderes“, sprach Nick weiter. „Wie ist es denn eigentlich so in diesem Heim?“

 

„Was meinst du?“, fragte Frank misstrauisch.

 

„Na ja, was treiben die Greise denn so den ganzen Tag? Verspielen ihre Kohle beim Bingo und tragen ihren Schmuck spazieren, oder was?“

 

Frank ging ein Licht auf: „Alter, ich werde da kein Ding drehen, dass das klar ist.“

 

„Nein, du natürlich nicht. Ein paar Tipps würden uns schon genügen. Den Rest machen wir dann. Da muss doch `ne Menge zu holen sein. Hey, unter anderem auch Medikamente für Trixie, schon mal daran gedacht“

 

Frank winkte entschieden ab. „Schlag dir das aus dem Kopf. Die Bullen kämen doch sofort auf mich.“

 

„Wir besorgen dir natürlich vorher ein bombensicheres Alibi.“

 

Frank schüttelte den Kopf. „Vergiss es! Nichts zu machen! Der Richter hat mich auf dem Kieker. Meine Bewährungshelferin ist seine Tochter. Mann, ich stehe zurzeit unter Rundumbewachung und ich werde denen garantiert keinen Grund liefern, mich einzulochen. Würdest du das wohl bitte endlich kapieren?“

 

„In dem Fall, mein Lieber, solltest du gut aufpassen, dass du denen auch keinen Grund lieferst, an uns ranzukommen.“

 

„Du weißt, dass ich dichthalte.“

 

„Das würde ich dir auch raten. Weißt du, es gibt da sehr viele feuergefährliche Dinge in so einem Altenheim.“ Wieder wollte Nick kumpelhaft seinen Arm um Franks Schultern legen, doch der duckte sich schnell weg und achtete auf einen Sicherheitsabstand.

 

„Du bist ja völlig irre! Willst du mir drohen, oder was?“, schnauzte er wütend und als Nick ihn nur vielsagend anschaute, setzte er hinzu: „Ihr könnt mich mal. Lasst mich einfach in Ruhe, okay?!“ Damit ging er raus zu seiner Maschine und saß auf. Wie der Blitz war Nick an seiner Seite.

 

„Hey, Stopp! So einfach kommst du nicht davon. Du bist uns was schuldig.“

 

„`Nen Scheißdreck bin ich! Nimm deine Drecksfinger weg!“ Frank blickte über die Schulter nach hinten zurück. „Trixie? Was ist?“

 

Das Mädchen bemerkte Nicks drohenden Blick und schüttelte den Kopf. Die Erfahrung in der Gruppe hatte sie gelehrt, dass es besser war, sich nicht mit Nick anzulegen.

 

„Gut, wie du willst.“ Er startete die Maschine und legte den Gang ein, als Nicks Hand sich auf den Lenker legte.

 

„Ein guter Rat zum Abschluss“, zischte er so leise, dass die anderen ihn nicht hören konnten. „Pass auf dein Rotkäppchen auf…“

 

Frank hob den Mittelfinger. „Leck mich.“ Er stieß Nick so rüde beiseite, dass der ins Straucheln geriet und fuhr los, als wäre der Teufel hinter ihm her.

 

„Lass dich bloß nie wieder hier sehen“, hörte er noch Nicks hasserfülltes Geschrei hinter sich, bevor er um die Ecke bog und das Gelände verließ. „Ich mach´ dich fertig, du Arschloch! Verlass dich drauf!“

 

**********

 

Nach einer schlaflosen Nacht, in der Frank sich pausenlos hin und her gewälzt hatte, fasste er den Entschluss, dass er etwas unternehmen musste. Der unvermeidliche Bruch mit Nick war da. Es war vorhersehbar gewesen und einerseits war er froh darüber, doch wenn er an Nicks letzte Worte dachte, wurde ihm flau in der Magengegend. Würde Nick es tatsächlich wagen, sich wegen ihm an Toni zu rächen? Und was war mit dem Altenheim? Wie er es auch drehte und wendete: Nick war imstande und fähig dazu, ihn in allergrößte Schwierigkeiten zu bringen. Frank tröstete sich schließlich mit einer Weisheit, die ihm seine Mutter eingetrichtert hatte: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Nur … wenn er jetzt gar nichts unternahm, würde er sich später unter Umständen die größten Vorwürfe machen.

 

Also schwänzte er am nächsten Morgen die Schule und fuhr früh am Morgen raus zur Fabrik. Alle schliefen noch und so konnte er sich ungesehen bis zu Nicks Matratze schleichen. Der fuhr alarmiert auf, als sich plötzlich und unerwartet Franks Hand auf seine Schulter legte.

 

„Du?“, fragte er misstrauisch. „Was willst du? Dich entschuldigen? Vergiss es! Es ist zu spät!“

 

„Oh, nein“, zischte Frank böse. „Das wirst du nicht mehr erleben. Ich will dich warnen. Falls irgendetwas passieren sollte, egal was, ich schwöre, dann lass ich euch hochgehen.“

 

„Was sollte denn passieren“, gab Nick sich unschuldig.

 

„Ich weiß nicht. Nur für den Fall, wenn. Verstehst du, dann geht ihr alle, und du voran, in den Bau.“

 

„Du aber auch.“ Nick grinste verschlagen. „Schon mal darüber nachgedacht?“

 

„Das ist es mir wert.“

 

„Du meine Güte“, spottete Nick. „Du jagst mir ja richtig Angst ein.“ Dann schlug seine Stimme um und wurde eiskalt. „Hör zu, Muttersöhnchen, hör mir gut zu: Ich hab´ es verdammt ernst gemeint, als ich sagte, dass du dich hier nicht mehr blicken lassen sollst. Mach, dass du wegkommst. An so einem wie dir machen wir uns nicht mal mehr die Finger dreckig.“

 

„Na, prima, mehr verlange ich nicht.“ Frank stand auf und ging mit langen Schritten zurück zu seiner Maschine. „Lasst mich einfach in Ruhe“, sagte er ruhig über die Schulter. „Dann ist alles in bester Ordnung.“

 

Nick starrte ihm hasserfüllt hinterher. „Du wirst dich noch wundern, Drecksack“, murmelte er leise vor sich hin. „Das war ein Riesenfehler! So springt niemand mit mir um.“

 

Trixie, die, mit dem Gesicht zur Wand, neben ihm auf der Matratze lag, rührte sich nicht. Es war besser, wenn Nick nicht bemerkte, dass sie wach war. In letzter Zeit jagte er ihr wirklich Angst ein.

32. Kapitel - Eine überraschende Aufgabe

„Wie siehst du denn aus?“, fragte Toni erschrocken, als Frank am Nachmittag in der Teeküche zum Dienst erschien. „Bist du krank?“

 

„Nö … schlecht geschlafen“, knurrte Frank einsilbig.

 

„Hey, das behaupte ich auch immer, wenn ich mir mal wieder die Nacht um die Ohren geschlagen habe“, zog Roman Frank auf und klopfte Frank lachend auf die Schulter. „Komm schon, kannst es ruhig zugeben. Wir sind doch unter uns.“

 

„Denk von mir aus, was du willst“, antwortete Frank knapp.

 

„Oh, oh, das war wohl richtig hart. Toni, du tust mir leid. An dem wirst du heute nicht viel Freude haben“, prophezeite Roman vollkommen unbeeindruckt.

 

Verwundert registrierte Toni, dass ihr die Vorstellung, dass Roman womöglich recht mit seiner Vermutung haben könnte, einen leichten Stich gab. Prüfend musterte sie Frank. „Oder bist du doch krank? Hör mal, wenn es dir nicht gut geht, dann …“

 

„Du meine Güte“, fuhr Frank ungehalten auf. „Bist du meine Mutter, oder was?“

 

Toni zuckte zurück, als hätte sie einen Schlag erhalten. „Nein, ich dachte doch nur …“

 

„Ich bin in Ordnung, okay“, schnitt Frank Toni das Wort ab und wechselte dann abrupt das Thema. „Was liegt an?“

 

„Wir sollen uns bei Schwester Maria melden. Sofort.“ Toni verließ den Raum, ohne auf Frank zu warten.

 

„Was zur Hölle hat sie denn nun schon wieder?“, fragte Frank Roman.

 

Der grinste breit und zuckte lässig mit den Schultern: „Keine Ahnung. Vielleicht hätte sie ja auch gerne …“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „ … schlecht geschlafen.“

 

„Idiot!“ Frank griff nach einem Küchenhandtuch und warf es Roman an den Kopf.

 

„Hey, was soll das? Du hast gefragt“, verteidigte der sich gespielt empört. „Ich an deiner Stelle würd´ mich jetzt lieber auf die Socken machen. Toni wartet nicht gerne und Schwester Maria schon mal gar nicht.“

 

„Bin schon weg.“

 

Erst auf dem langen Flur des Verwaltungstraktes holte Frank Toni ein. „Hey, warum wartest du nicht auf mich?“

 

„Weil Schwester Maria wartet“, antwortete Toni kurz.

 

„Weiß ich doch, aber vor ein paar Minuten wolltest du mich noch heimschicken und jetzt willst du nicht mal auf mich warten.“ Frank packte Toni am Arm und hielt sie zurück. „Was ist los mit dir? Hab´ ich was falsch gemacht?“

 

Tonis Augen blitzen, als sie antwortete: „Bild´ dir mal bloß nichts ein. Ich dachte, du bist vielleicht krank, das ist alles. Du bist es nicht, umso besser, also lass uns arbeiten.“

 

Toni wollte weiter, doch Frank, der immer noch ihren Arm hielt, blieb stur auf der Stelle stehen, so dass ihr nichts anderes übrig blieb, als dies auch zu tun. Offensichtlich angefressen blickte sie zu Boden. „Komm schon, was ist los?“, verlangte er zu wissen. „Du hast doch was.“

 

„Es ist nichts.“ Stur studierte Toni die Bodenfliesen. Sie wusste selber, dass sie sich kindisch verhielt, aber das auch noch vor ihm zuzugeben, war wirklich zuviel verlangt.

 

„Hey, ich … ich hab´ mir nicht die Nacht um die Ohren geschlagen, falls es darum gehen sollte“, sagte Frank nun leise.

 

„Was verstehst du an `Bild´ dir bloß nichts ein´, nicht?“, fauchte Toni. „Außerdem: Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Du kannst in deiner Freizeit tun und lassen, was du willst.“

 

„Ich weiß, aber ich wollte einfach, dass du es weißt.“

 

„Okay, nun weiß ich es. Können wir jetzt vielleicht arbeiten?“

 

„Gut, wie du willst.“ Kopfschüttelnd gab Frank Toni frei und folgte ihr. Kurz darauf betraten die beiden Schwester Marias Büro.

 

„Da seid ihr ja“, wurden sie freundlich empfangen. „Ich warte schon…“ In diesem Augenblick bemerkte Schwester Maria die offensichtlich gespannte Stimmung, hielt inne und blickte prüfend von einem zum anderen. „Ist alles in Ordnung?“

 

„Klar“, antwortete Toni eine Spur zu schnell.

 

„Alles bestens“, stimmte Frank ihr eilends zu.

 

„Gut“, meinte Schwester Maria gedehnt und anscheinend nicht ganz überzeugt. „Es geht um Folgendes: Personell ist ja jetzt alles wieder im Lot und da habe ich mir etwas ganz Besonderes für euch ausgedacht. Ich übertrage euch hiermit die Verantwortung für unsere diesjährige Weihnachtsfeier. Ihr werdet euch von A bis Z um alles kümmern. In den letzten Jahren war das immer ein wenig lieblos, weil ja niemand so richtig Zeit für die Vorbereitungen erübrigen konnte, aber …“ Ihre gütigen Augen hinter der Brille strahlten. „ … jetzt haben wir ja euch. Ich werde die Dienstpläne so einrichten, dass ihr von euren normalen Arbeiten etwas entlastet werdet, und im Gegenzug werdet ihr die so gewonnene Zeit dafür nutzen, dass es eine richtig schöne Feier wird.“

 

„Nein!“ Tonis spontane Weigerung kam fast einem Aufschrei gleich. „Das geht nicht! Bitte! Das kann ich nicht!“

 

Frank bemerkte überrascht, wie entsetzt Toni klang. Was sollte das denn? Eine solche Feier konnte doch wohl jeder auf die Beine stellen. Da war doch nichts dabei.

 

„Ihr werdet das schon machen“, entschied Schwester Maria bestimmt. „Hier …“ Sie reichte einen Schlüssel über den Tisch und da Toni keinerlei Anstalten machte, ihn entgegen zu nehmen, trat Frank, immer noch leicht verwirrt, einen Schritt vor und nahm den Schlüssel an sich.

 

„Wofür ist der?“

 

„Es gibt im Keller eine Art Abstellraum. Dort werden unter anderem auch Dekorationen aller Art aufbewahren. Toni weiß Bescheid. Schaut euch dort um, und nehmt euch, was ihr braucht. Außerdem haben wir beim diesjährigen Sommerfest für die Angehörigen durch Spenden zusätzlich ein hübsches Sümmchen zusammen bekommen.“ Dieses Mal reichte sie einen Umschlag an Frank weiter. „Ich verlasse mich auf euch. Von dem Geld müssen allerdings auch die Lebensmittel und Getränke finanziert werden. Wir feiern, wie immer, am dritten Sonntag im Dezember im Speisesaal mit den Angehörigen. So, das war es für heute. Macht euch an die Arbeit. Bis der nächste Dienstplan steht, seid ihr von allen anderen Arbeiten befreit. Das gilt natürlich nicht für die Schule.“ Bei diesen Worten warf sie Frank einen strengen Blick zu, der diesen lediglich mit einem angedeuteten Schmunzeln quittierte. „Ich bin ehrlich schon sehr gespannt darauf, was ihr euch einfallen lassen werdet.“

 

„Aber …“, versuchte Toni noch einen schwachen Vorstoß. Sie wirkte immer noch völlig schockiert. „Bitte, Schwester Maria …“

 

„Ich habe viel zu tun. Und ihr jetzt auch, denke ich. Die Zeit bis zur Feier wird wie im Fluge vergehen und schließlich steht uns Frank ja auch nicht für immer zur Verfügung.“

 

Das war unmissverständlich. Frank berührte Toni leicht am Arm. „Komm schon. Lass uns gehen.“

 

„Ich komm´ ja schon“, fauchte sie und folgte ihm. Doch kaum hatte sie das Büro verlassen lehnte sie sich draußen auf dem Flur mit dem Rücken gegen die Wand. „Das darf nicht wahr sein“, flüsterte sie dabei leise vor sich hin. „Verdammt, wie kann sie mir das nur antun?“

 

Das wurde ja immer rätselhafter. „Hey, jetzt komm mal wieder runter. Ist doch mal was anderes. Ich bin mir sicher, dass wir das hinkriegen.“

 

„Du vielleicht“, antwortete Toni tonlos. „Ich gewiss nicht.“

 

„Und warum nicht? Wegen mir?“

 

„Wegen dir?“ Ihre Blicke trafen sich und Toni fühlte sich unwillkürlich von Frank in die Defensive gedrängt. „Ach, Quatsch, das hat nichts mit dir zu tun. Du bist nicht der Dreh- und Angelpunkt der Welt“, giftete sie ihn ungerechterweise an.

 

„So! Jetzt reicht es!“ Langsam wurde Frank sauer. Er packte Toni an der Hand und zerrte sie hinter sich her in Richtung Speisesaal, der um diese Uhrzeit meist verlassen war. So auch jetzt. Er drückte sie auf einen Stuhl und war überrascht, wie widerspruchslos Toni alles mit sich geschehen ließ. Frank griff nach einem zweiten Stuhl und setzte sich Toni direkt gegenüber. Dann beugte er sich mit dem Oberkörper vor und blickte sie prüfend an. „Okay“, sagte er dann ruhig und bemühte sich, neutral und nicht vorwurfsvoll zu klingen. „Und jetzt möchte ich, dass du mir erzählst, was los ist. Warum stellt eine simple Weihnachtsfeier so ein Problem für dich dar?“

 

„Ganz einfach.“ Tonis Augen wichen seinem Blick aus und irrten orientierungslos durch den Raum. „Ich hasse Weihnachten“, gestand sie schließlich kaum verständlich.

 

„Was?“ Frank riss überrascht die Augen auf. Diese Antwort hatte er am allerwenigsten erwartet. „Bullshit! Niemand hasst Weihnachten. Nicht mal ich.“

 

„Ich schon.“

 

„Okay … Und … welchen Grund gibt´s dafür?“, erkundigte er sich vorsichtig. „Und bitte … versuch ja nicht erst, mir zu erzählen, dass es keinen Grund gibt.“

 

Toni holte tief Luft. „Der Unfall meiner Eltern. Es geschah eine Woche vor Weihnachten. Meine Mutter hatte meinen Vater übers Wochenende in Berlin besucht. Er hatte dort eine Konzertreihe in der Philharmonie. Drei Tage in Folge. Aber sie wollten unbedingt pünktlich zu meinem Geburtstag zurück sein. Nur deshalb haben sie sich mitten in der Nacht nach dem letzten Konzert noch ins Auto gesetzt und auf den Weg gemacht. Auf dem Heimweg ist es dann passiert.“

 

Toni, die sich sonst nach außen immer so stark und unerschütterlich gab, wirkte plötzlich völlig hilflos und saß wie ein Häufchen Elend zusammengesunken kreidebleich auf ihrem Stuhl. Intuitiv griff Frank nach ihrer Hand und war froh, dass sie sich ihm nicht entzog. Er spürte die Wärme, die von Tonis Hand ausging, doch er spürte auch, wie sie zitterte.

 

„Hmm… ich nehm´ mal an, Schwester Maria weiß davon?“, erkundigte er sich schließlich behutsam, denn er wollte jetzt nichts Falsches sagen.

 

Toni nickte unglücklich und schniefte. „Klar, natürlich weiß sie davon.“

 

„Jetzt beruhige dich erstmal“, sagte Frank sanft und verstärkte seinen Händedruck. „Okay?“

 

Wieder nickte Toni.

 

„Na, dann …“

 

„Was dann?“ In Tonis Blick lag Misstrauen.

 

Frank lächelte dem Mädchen ermutigend zu. Er hoffte zumindest, dass sein etwas hilfloses Grinsen ermutigend bei Toni ankam. „Dann müssen wir uns eben erst recht Mühe geben. Die alten Leutchen können schließlich nichts dafür. Hey, für sie könnte schließlich jedes Weihnachten ihr letztes sein. Denk mal drüber nach.“

 

Seine letzten Worte zauberten Toni ein schiefes Lächeln ins Gesicht. „Wirst du jetzt nicht ein bisschen melodramatisch?“, fragte sie leise.

 

„Wie auch immer“, gab sich Frank nach außen hin ungerührt. „Wir schaffen das schon. Wirst sehen, das wird alles ganz easy.“

 

„Easy?“

 

„Ja.“ Noch einmal drückte er sanft Tonis Hand. „Easy“, wiederholte er bekräftigend. „Oder wie auch immer du es nennen willst. Wir werfen uns schick in Schale, denken uns ein bisschen Programm aus und bereiten den alten Leutchen ein Weihnachtsfest, an das sie noch lange denken werden.“

 

„Bei dir klingt das alles ganz einfach“, sagte Toni verunsichert.

 

„Sag ich doch! Aber du wirst es sehen: Es ist einfach“, bekräftigte Frank. „Du musst dich nur darauf einlassen.“

 

„Und du … du wirfst dich dann auch schick in Schale?“

 

„Na ja … wenn alle, dann muss ich auch, oder?“

 

„Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie macht mir der Gedanke gerade Angst.“

 

„Das braucht es nicht.“ Frank grinste, stand auf und da er Toni immer noch an der Hand hielt, zog er sie gleich mit vom Stuhl. Brust an Brust standen sie sich plötzlich sehr dicht gegenüber. Er hielt nach wie vor ihre Hand und Toni blickte irritiert und durcheinander zu ihm auf. Ihr Herz klopfte plötzlich so laut, dass sie sich Gedanken machte, Frank könne es womöglich hören.

 

Auch Frank war durch die unerwartete Nähe verwirrt und räusperte sich laut: „Lass dich überraschen, okay?“, sagte er rau. „Können wir?“

 

„Können wir was?“

 

„Na, runter in den Keller – was sonst?“ Er ließ den Schlüssel vor ihren Augen klimpern, während er gleichzeitig ganz nebenbei ihre Hand wieder freigab und etwas Abstand zwischen sich und Toni brachte. „Oder hast du vielleicht Angst vor Mäusen?“

 

Toni rang sich ein gequältes Lächeln ab und Frank grinste aufmunternd.

 

„Na bitte, geht doch. Dann mal los: Zeig mir den Untergrund.“

 

„Wenn´s denn sein muss.“

 

„Oh ja! Es muss.“

33. Kapitel - Überbordende Gefühle

In den nächsten eineinhalb Stunden wühlte Toni sich tapfer gemeinsam mit Frank durch Unmengen Kisten, die im Laufe der Zeit einfach kreuz und quer in dem großen Kellerraum abgestellt worden waren. Dabei versuchte sie Franks prüfende Seitenblicke, die sie während der Arbeit immer wieder trafen, geflissentlich zu ignorieren. Irgendwann gelang ihr das jedoch einfach nicht mehr und sie blickte entnervt hoch.

 

„Was ist? Warum schaust du die ganze Zeit zu mir rüber?“

 

„Nichts, ich frage mich nur… Ist es sehr schlimm für dich?“

 

Franks Stimme klang eher besorgt, als ironisch. Noch schlimmer! Mit Ironie hätte Toni umgehen können. „Geht schon“, antwortete sie ausweichend und kramte etwas hektisch weiter in einem Karton.

 

„Ehrlich? Ich meine, ich bin kein Klotz. Wenn du eine Pause brauchst, dann sag es einfach. Das ist okay. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst.“

 

Wie an einer Schnur gezogen, fuhr Toni hoch und zu ihm herum. „Sorry, Frank, aber ich glaube nicht, dass du das kannst.“

 

„Okay“, lenkte er ein. „Das war blöd. Ich seh´s ein. Aber es liegt an dir, das zu ändern.“

 

„Was?“

 

„Na ja, ich finde nur, du solltest vielleicht mal darüber reden. Womöglich wird´s dann ja leichter für dich. Für dich und den Rest der Familie.“

 

„Mit dir?“ Toni verzog andeutungsweise das Gesicht. „Du willst mich aber jetzt nicht analysieren, oder?“

 

Franks Gesicht verschloss sich. „Sicher nicht. Du hast recht, sorry. Ich eigne mich wirklich nicht zum Therapeuten. Tut mir leid.“

 

„So war´s nicht gemeint“, sagte Toni leise. „Vielleicht hast du ja sogar recht, nur …“ Sie stockte.

 

„Nur … was?“

 

„Es … es fällt mir einfach schwer.“ Toni seufzte tief. Gedankenverloren ließ sie eine Lamettagirlande durch ihre Finger gleiten. „Ich hab´ Weihnachten ja nicht immer gehasst. Früher war es mein Lieblingsfest, aber der Unfall hat alles auf den Kopf gestellt. Wir stellen zwar noch einen Tannenbaum auf und so weiter … schon wegen der Kleinen, aber der Rest ist eine Katastrophe. Die Kleinen bekommen ihre Geschenke, ausschließlich praktische Geschenke am Rande bemerkt, mein Vater gibt sich schon am Nachmittag die Kante und irgendwann räumen Mike und ich dann das ganze Chaos auf. So sieht sie aus, die ganz persönliche Schiffer´sche Weihnachtsfeier. Toll, was? Ich will mich gewiss nicht beklagen, aber so was hier …“ Sie deutete auf die Kartons. „ … muss ich mir wirklich nicht noch zusätzlich geben. Kannst du dir vorstellen, wie frustrierend das ist?“

 

„Ich versteh´ dich ja … doch, das tue ich“, unterbrach Frank Tonis Widerspruch schon im Ansatz. „Trotzdem … schau mal, ich würde mich auch nicht gerade als Weihnachtsfreak bezeichnen, aber hier kann doch keiner was für unseren ganz persönlichen Frust. Vielleicht könntest du … es ja einfach als Job ansehen. Versuch´s doch einfach mal. Es gehört zur Arbeit. – wie so vieles Andere auch. – Sag mal …“ Frank hielt einen Karton mit grell pinkfarbenen Kugeln in der einen Hand und neongrünes Lametta in der anderen Hand hoch. „Wer hat das eigentlich sonst immer gemacht? Ich meine, die Organisation für die Feier und das alles? Ich meine, das hier … das ist doch …“ Er wedelte ein wenig hilflos mit dem Lametta in der Luft herum und seine Züge drückten Verwirrung aus.

 

Toni schaute ihn an und plötzlich musste sie herzhaft lachen. Unvermittelt platzte sie heraus und lachte und lachte und lachte. Vor wenigen Sekunden war sie noch tieftraurig, beinahe verzweifelt gewesen und jetzt das! Frank blickte sie gleichermaßen überrascht wie fasziniert an. Das war eine völlig andere Toni, die er da vor sich sah. Sie sprühte förmlich vor Leben und ihre Augen blitzten übermütig. Wow, was für eine Verwandlung! Es ging ihm durch und durch.

 

„Im letzten Jahr hat Roman sich um alles gekümmert“, prustete sie. „War ziemlich schrill. Na ja, du kennst ihn ja inzwischen.“

 

Tonis Ausbruch wirkte ansteckend auf Frank und er ließ alles fallen, was er in den Händen hielt. Lachend und mit ausgestreckter Hand ging er auf Toni zu, „Ich schwöre, wir werden es besser machen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Na los, schlag schon ein oder muss ich dich dazu zwingen. Im Ernst, das meiste von dem Zeug hier ist indiskutabel – da kriegt man ja Augenkrebs.“

 

Immer noch glucksend schlug Toni ein. „Bist du eigentlich immer so penetrant?“

 

„Ganz sicher nicht“, beteuerte Frank und hielt ihre Hand einen Augenblick länger fest, als nötig. „Nur, wenn ich das Gefühl habe, es lohnt sich“, setzte er leise hinzu. Bevor die Situation schließlich peinlich werden konnte, gab er sie zu Tonis Erleichterung wieder frei, als sei nichts gewesen. „Na los, an die Arbeit. Es gibt viel zu tun.“

 

****************

 

Nach einer Weile bemerkte Toni zu ihrer Verwunderung, dass sie sich von Franks Elan anstecken ließ. Sie packten alle Kartons aus, breiteten die Sachen auf dem Boden aus und sortierten dann systematisch alles wieder ein. Einen Karton für den Speisesaal, einen für die Flure, einen für die Eingangshalle, einen für die Sachen, die sie als nicht brauchbar erachteten, und so weiter. Allerdings hatten sie innerhalb kurzer Zeit bereits 3 Kartons, deren Inhalt unter „nicht brauchbar“ fiel.

 

„Es nützt alles nichts“, seufzte Frank schließlich, richtete sich auf und streckte den Rücken durch. „Wir werden noch so Einiges dazukaufen müssen, wenn wir die Sache vernünftig aufziehen wollen.“

 

„Ja?“, fragte Toni zweifelnd und ließ ihre Blicke über die Kartons schweifen.

 

„Sicher. Wir haben viel zu wenig Baumschmuck und der Rest ist auch nicht gerade üppig. Zumindest das, was verwendbar ist.“

 

„Aber das ist doch `ne Menge Zeug“, wandte Toni ein.

 

„Für 3 Bäume – ich bitte dich. Ich dachte, wir stellen in der Halle und im Aufenthaltsraum auch einen auf. Außerdem finde ich, wir sollten die Feier im Aufenthaltsraum ausrichten. Wir müssten dann zwar die Getränke und das Essen rüberschaffen, aber dort ist es definitiv gemütlicher. Was denkst du?“

 

Toni zuckte mit den Schultern. „Teuer“, sagte sie trocken. „Alleine schon der Baumschmuck für 3 Bäume.“

 

„Das kriegen wir schon irgendwie gebügelt – immerhin haben wir ja die Spenden und … mal sehen“, setzte er nachdenklich hinzu. „Vielleicht kann ich ja was organisieren.“ Er dachte dabei an die schier unerschöpflichen Vorräte seiner Eltern für das Hotel. Das wurde nie alles gebraucht. Und jedes Jahr kaufte seine Mutter „neuen Kram“, wie sein Vater die Dekoartikel mittlerweile leicht verzweifelt bezeichnete, dazu.

 

„Lass mal lieber. Mit Klauen handelst du dir nur neuen Ärger ein“, sagte Toni.

 

„Ich hab´ nicht vor, irgendetwas zu klauen. Ehrlich“, setzte Frank hinzu, als er Tonis zweifelnden Blick bemerkte. „Wie sieht´s aus? Gehen wir Freitagnachmittag einkaufen? Bis dahin weiß ich dann auch, ob und was genau ich organisieren kann.“

 

„Wir sollten das besser vorher mit Schwester Maria besprechen“, meinte Toni.

 

„Na, dann los“, sagte Frank und griff sich einen der Kartons. „Lass uns direkt was mit hochnehmen. Dann können wir schon mal anfangen. Der Advent steht vor der Tür.“

 

Wie Frank erwartet hatte, hatte Schwester Maria keine Einwände gegen ihren Plan.

 

„Okay“, sagte Toni immer noch leicht widerstrebend, nachdem sie das Büro der Heimleiterin wieder verlassen hatten. „Dann also Freitag. Und du willst wirklich ins EKZ zum Einkaufen? Hältst du das für clever?“

 

„Warum denn nicht? Kein Problem, ich habe nirgendwo Hausverbot“, antwortete Frank ungerührt. „Ich hol´ dich dann um drei Uhr zu Hause ab, in Ordnung? Dann könnte ich auch gleich mit Mike wegen eurem Dach sprechen.“

 

„Ähm, nein. Mir wäre es lieber, wir treffen uns im EKZ. Mike ist um diese Zeit sowieso noch nicht zu Hause. Ich geb´ dir seine Handy-Nummer. Du kannst ihn dann ja anrufen, wenn du Zeit hast.“

 

Die beiden hatten sich in den Speisesaal zurückgezogen und saßen dort bei einer Tasse Tee zusammen an einem der Tische. Frank war mit Feuereifer dabei, eine Liste mit Dingen zusammenzustellen, die seiner Meinung nach, noch benötigt wurden. Er freute sich tatsächlich auf die kommenden Aufgaben, insbesondere da sich ihm hier die Möglichkeit bot, auch außerhalb des Heimes Zeit mit Toni zu verbringen. Er war gern mit ihr zusammen. Sie ging ihm zweifellos mehr und mehr unter die Haut, auch wenn sie ihn mitunter fürchterlich nerven konnte. Frank hatte versucht, sich dagegen zu wehren, doch er kam nicht gegen seine Gefühle an. Toni berührte Saiten in ihm, die er lange, sehr lange unter Verschluss gehalten hatte und dies auch eigentlich weiter hatte tun wollen. Es genoss es, mit ihr zu arbeiten und ertappte sich sogar gelegentlich bei Überlegungen, wie er auch seine knapp bemessene Freizeit mit ihr verbringen könnte, ohne dass irgendjemand auf die Idee käme, dass da mehr dahinterstecken könnte. War das überhaupt der Fall? Steckte mehr dahinter? Er wusste es selber nicht so genau, aber Fakt war, dass Toni ihm einfach gut tat. Ihre atemberaubende Klarheit, Bescheidenheit und Ehrlichkeit, trotz allem, was sie um die Ohren hatte, ließen ihn zum ersten Mal seit langer Zeit wieder positiv in die Zukunft blicken.

 

Das mit der Ehrlichkeit war allerdings ein wunder Punkt. Er wusste, wie viel Wert Toni auf absolute Ehrlichkeit legte und seine Lügen standen zwischen ihnen. Wenn er das nicht bald klarstellte, konnte es ihn ihre Freundschaft kosten. Er musste unbedingt mit ihr reden. Bald! Frank versuchte sich einzureden, dass er nur noch auf den richtigen Moment wartete. Dabei war ihm Eins durchaus klar: Toni durfte die Wahrheit auf gar keinen Fall von jemand Anderem erfahren. Doch die Gefahr bestand, und sie wurde mit jedem Tag größer, dessen war er sich sehr bewusst.

 

„Hey, alles klar?“

 

Tonis Worte rissen Frank aus seinen Überlegungen und er blickte hoch: „Ja, alles klar – ich musste nur gerade an etwas denken. – Okay, dann also um drei vor dem Haupteingang des EKZ. – Schau mal …“ Er drehte seinen Block so, dass Toni mitlesen konnte. „Und? Was denkst du?“, fragte er gespannt.

 

Toni zog die Stirn in Falten. „Ich denke, dass unsere Mittel nicht unbegrenzt sind.“ Sie tippte mit dem Finger auf die Seite. „Das ganze Zeug kriegen wir nie für die paar Kröten, soviel ist sicher.“

 

„Sei doch nicht immer so pessimistisch. Ich sagte doch schon, dass ich einen Teil der Sachen sicherlich organisieren kann.“

 

„Ich will aber nicht, dass du wieder Scheiße baust“, rutschte es Toni heraus.

 

„Hey.“ Er beugte sich vor, legte ihr einen Finger unters Kinn und schaute ihr direkt in die Augen. „Es ist doch immer wieder erfrischend festzustellen, was für eine hohe Meinung du von mir hast. Dabei dachte ich, dass du mich langsam etwas besser kennen solltest. Oder?“ Tonis Unterstellung hatte ihn zuvor schon verletzt, und als sie sie jetzt wiederholt hatte, versetzte es ihm einen Stich, doch das wollte er sich auf keinen Fall anmerken lassen. „Oder?“, wiederholte er drängend.

 

„Ja, doch. Schon gut. Tut mir leid.“ Toni versuchte seinen Blicken auszuweichen, doch Frank ließ sie nicht von der Angel. So leicht wollte er sie nicht davonkommen lassen. Dieses Mal nicht!

 

„Man könnte fast glauben, du machst dir Sorgen um mich.“

 

Toni drehte sich abrupt zur Seite und griff nach ihrer Teetasse. „Quatsch“, sagte sie eine Spur zu schnell. „Ich will bloß nicht, dass es Ärger gibt. Wie du schon sagtest: Wir sollten in erster Linie an die alten Leute denken.“

 

„Das tue ich“, sagte Frank ernst. „Ich verspreche dir, es wird `ne Top-Feier werden. Eine, die man nicht so schnell vergisst. Lass mich mal machen.“

 

„Übertreib es nicht“, antwortete Toni schroffer als sie es beabsichtigt hatte. „Mach halblang, oder ist etwa schon wieder `ne Beurteilung fällig?“

 

Rums, das saß. Erst die blöden Bemerkungen von eben und jetzt das! Gut gemacht, Toni, schalt sie sich selber. Er will dir doch nur helfen, du dumme Kuh. Es war Frank deutlich anzumerken, dass sie ihn dieses Mal mehr als nur verärgert hatte. Klasse! Das hatte sie wirklich prima hingekriegt. Hoffentlich ließ er sie jetzt nicht im Stich. Alleine konnte sie diese dämliche Feier bestimmt nicht stemmen. Dazu benötigte sie unbedingt seine Hilfe.

 

„Okay, dann … treffen wir uns also Freitag um drei?“, fragte sie unsicher. Zu blöd, eine Entschuldigung wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen.

 

„Gebongt“, antwortete er kurz und schnappte sich einen der Kartons. „Ich werde da sein. Falls du mich brauchen solltest, ich fange schon mal in der Eingangshalle an. Wir haben noch eine Stunde bis Feierabend. Du kannst dich ja inzwischen schon mal hier austoben. – Wir sehen uns ja dann am Freitag.“

 

Ohne ihre Zustimmung abzuwarten verließ Frank den Raum. Offensichtlich war das seine Art, ihr klarzumachen, dass er eine Pause von ihr brauchte und irgendwie konnte Toni ihn ja sogar verstehen. „Scheiße“, sagte sie frustriert. „So war das doch gar nicht gemeint.“

34. Kapitel - Einkaufsbummel

Als Toni am Freitag um kurz nach drei Uhr am verabredeten Treffpunkt ankam wartete Frank schon vor dem Eingang des EKZ auf sie.

 

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich ein wenig außer Atem. „Der Bus hatte Verspätung.“

 

„Kein Problem“, reagierte Frank relativ kurz angebunden. „Ich verzinke niemanden. Frag Richter Dohmen.“

 

„Wie bitte?“

 

„Na ja, das hier ist schließlich Arbeitszeit. Aber keine Angst, von mir erfährt Schwester Maria kein Wort über deine Verspätung.“

 

Toni seufzte innerlich. Das fing ja gut an. Frank war offensichtlich immer noch sauer auf sie. Sie waren sich seit seinem Abgang aus dem Speisesaal nicht mehr begegnet. Vermutlich war es klüger, sie ritt jetzt nicht darauf herum. Stattdessen fasste sie sich mutig ein Herz und antwortete lächelnd: „Oh, okay, Danke. Hast du die Liste?“

 

„Klar. Hast du das Geld?“

 

„Sicher.“ Toni klopfte auf ihre Umhängetasche und positionierte sich vor einer Tafel, auf der alle Geschäfte mit genauen Ortsangaben aufgelistet waren. „Wo fangen wir an?“

 

Frank zuckte mit den Achseln. „Mir egal. Wo du willst.“

 

„Nein, heute bist du der Experte. Ich gebe mich vertrauensvoll in deine Hände.“ Das war ein Friedensangebot, Toni konnte nur hoffen, dass Frank es auch als solches verstand. „Okay?“

 

Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und registrierte, dass sie ihn unsicher musterte. Seit ihrer Meinungsverschiedenheit hatte er sich zig Mal eingetrichtert, dass es für Toni wahrscheinlich sogar besser war, wenn sie sich nicht zu nahe kämen. Nicht noch näher! Er wollte sie auf gar keinen Fall in seine Probleme mit hineinziehen. Außerdem kam er so nicht in die Verlegenheit, noch mehr Lügen erfinden zu müssen. Später, wenn alles geklärt war, konnte er ja immer noch versuchen, die Situation zu ändern. Aber bis dahin wäre etwas mehr Distanz sicher das Beste für sie beide. Doch wie er sie da so verunsichert neben sich stehen sah, schmolzen seine guten Vorsätze wie Butter in der Sonne. Er mochte es, wenn sie ihr Haar offen trug, lediglich von einem breiten Haarband aus der Stirn zurückgehalten. Der scharfe Novemberwind, der an diesem Tag pfiff, hatte ihre Naturlocken noch mehr zerzaust, als sie es normalerweise schon waren. Sie trug Röhrenjeans, gefütterte knöchelhohe Sneakers und eine dicke, blaue Winterjacke. Dazu hatte sie sich den unvermeidlichen bunten Wollschal so oft um den Hals gewickelt, dass ihr Kopf direkt auf den Schultern zu sitzen schien. Die Kälte hatte ihr Nase und Wangen so rot gefärbt, dass sie mit ihrer Haarfarbe zu konkurrieren schienen. Verdammt, er konnte ihr einfach nicht länger böse sein. Sie wirkte so süß und verletzlich, dass sich bei ihm unweigerlich der Beschützerinstinkt regte. Um ein Haar hätte Frank ihr seinen Arm um die Schultern gelegt. Nur mit Mühe gelang es ihm, den überraschend stark aufgekommenen Impuls zu unterdrücken. Stattdessen lächelte er lediglich kurz und stopfte seine Hände in die Jackentaschen. Sicher war sicher.

 

„Hey, das sind ja ganz neue Töne. Na los, komm, lass uns reingehen. Dort ist es wärmer.“

 

„In Ordnung“, murmelte Toni und folgte Frank, der beinahe fluchtartig mit langen Schritten voranstiefelte und dabei gleichzeitig seine Liste aus der Innentasche seiner Lederjacke hervorfingerte.

 

„Bin ich dir zu schnell?“, fragte er über die Schulter.

 

„Ein bisschen vielleicht“, antwortete Toni, der es tatsächlich schwerfiel, mit ihm Schritt zu halten.

 

„Mann, dann gib doch Laut“, knurrte Frank, blieb stehen und wartete, bis Toni zu ihm aufgeschlossen hatte. „Alles okay?“, erkundigte er sich dann, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte.

 

„Du bist immer noch sauer auf mich, oder?“, platzte Toni heraus.

 

„Sauer?“ Frank zog gekonnt eine Augenbraue nach oben, obwohl er genau wusste, was Toni meinte. Doch er wollte es sich nicht entgehen lassen, ihr offensichtlich schlechtes Gewissen noch einen Moment lang auszukosten.

 

„Ja, du weißt schon“, druckste sie herum. „Wegen dem, was ich neulich zu dir gesagt habe. Wegen der Beurteilung und so.“ Immer noch verunsichert blickte sie zu ihm auf. „Mir ist bewusst, dass das nicht sonderlich fair war.“

 

„Das war es allerdings nicht“, meinte er trocken.

 

„Es tut mir leid“, sagte Toni leise.

 

„Oh, wow! Und du glaubst, damit ist es getan?“

 

„Na jaaa, ich hoffe schon ...“

 

Frank strich sich beiläufig die Haare aus dem Gesicht, während er innerlich den Augenblick genoss. „Es war ganz schön heftig und auch unfair, aber ich bin nicht nachtragend. Weißt du, ich denke, ich hab´ dir bislang keinen Grund gegeben, an mir zu zweifeln. Du weißt, wie wichtig mir meine Bewährung ist, aber ich glaube nicht, dass ich es nötig habe, dir wegen guter Beurteilungen in den … du weißt schon, zu kriechen. Ich bin ich und diese Kiste hier, die macht mir tatsächlich Spaß. Ich gebe zu, das überrascht mich selber, aber wenn es schon so ist, warum sollte ich nicht das Beste daraus machen wollen? Und wenn dabei noch `ne gute Beurteilung raus springen sollte, dann werde ich sicher nicht `Nein´ zu dir sagen, sondern sie annehmen wie ein Mann.“

 

Bei seinen letzten Worten hatte sich ein Schmunzeln auf Franks Gesicht ausgebreitet und Toni atmete erleichtert aus. „Ich schaff´ das nicht ohne deine Hilfe“, gestand sie ihm leise. „Unmöglich.“

 

„Blödsinn! Natürlich würdest du das auch ohne mich schaffen – ich bin davon überzeugt, du schaffst alles, wenn du nur willst. Aber ich bin froh, dass ich dir dabei helfen kann und ich finde, wir sollten wir es endlich angehen, meinst du nicht auch? – Komm schon…“

 

**********

 

In den nächsten zwei Stunden klapperten Toni und Frank alle Geschäfte ab, die Weihnachtsartikel anboten. Sie verglichen Preise, steckten ihre Köpfe wieder und wieder in Frank Liste, machten sich Notizen, diskutierten und beschlossen Einkäufe, nur um sie im nächsten Geschäft gleich wieder zu verwerfen. Sie stritten scherzhaft über bestimmte Artikel, die Frank, nur um Toni zu ärgern, vorgab unbedingt kaufen zu müssen und lachten herzhaft über die Vorstellung eine Auswahl Artikel in Regenbogenfarben vielleicht doch mit den Sachen, die Roman im letzten Jahr besorgt hatte, zu kombinieren.

 

Frank bemerkte dankbar und erfreut, dass Toni inzwischen voll bei der Sache war. Das Einkaufen schien ihr mittlerweile sogar Spaß zu machen. Ihre Augen strahlten und sie brachte eigene Ideen und Vorschläge in die Planung mit ein. Am liebsten wäre er noch ewig weiter mit ihr durch die Geschäfte gezogen, doch langsam wurde es Zeit, sich zu entscheiden. Schließlich wollte er die Einkäufe noch im Heim abliefern und außerdem hatte er vorher noch etwas vor, wovon Toni bislang noch nichts ahnte. Vor einem italienischen Restaurant blieb er stehen.

 

„Mann, ich hab´ Kohldampf bis unter beide Arme.“

 

Toni schaute ihn erstaunt an: „Du willst essen gehen? Jetzt?“

 

„Ist das so absurd? Sicher, das hier ist Arbeitszeit, aber ich finde, wir haben uns eine Pause redlich verdient. Und, ja, ich esse tatsächlich gelegentlich. Du nicht?“

 

„Klar, aber doch nicht hier. Das Geld ist für Weihnachtseinkäufe gedacht. Und privat kann ich es mir im Moment nicht leisten. Nee, ich esse nachher eine Kleinigkeit zu Hause.“

 

„Ich lad´ dich ein“, warf Frank schnell ein, denn er spürte, dass Toni durchaus interessiert war. Die Chance konnte er sich einfach nicht entgehen lassen. „Keine Angst, ich hab´ Geld. Ich konnte letzte Woche `nen kleinen Extra-Job an Land ziehen. War ganz gut bezahlt. Alles legal.“ Schon wieder eine Lüge, aber das war ihm im Moment egal. Der Zweck heiligte die Mittel … das versuchte er sich zumindest einzureden, um sein aufkommendes schlechtes Gewissen zu beruhigen.

 

„Na ja“, sagte Toni, die hoffte, dass man ihr die Freude über die unerwartete Einladung nicht zu sehr ansah. „Etwas essen könnte ich ja schon, aber …“

 

„Komm schon“, drängte Frank. „Wir gehen, während wir auf das Essen warten, alles noch mal in Ruhe durch und treffen unsere endgültige Auswahl. Nach dem Essen besorgen wir dann die Sachen. So ist es noch nicht einmal geklaute Zeit.“

 

„Also gut“, gab Tony nach.  „Meinetwegen. Wir könnten uns ja `ne Pizza teilen.“

 

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