AUSSER KONTROLLE

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1. Kapitel: Frank

Hartnäckiges Klopfen an seiner Zimmertür holte Frank aus dem Schlaf. Er richtete sich abrupt auf, warf einen hektischen Blick auf seinen Wecker und sank mit einem Stöhnen zurück in die Kissen.

 

„Schon gut, schon gut, ich bin ja wach“, knurrte er unwillig in Richtung Tür. Doch er machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Eher das Gegenteil war der Fall. Der dunkelhaarige junge Mann mit dem, nach Meinung seiner Eltern, immer etwas zu langem Haar und dem selbst im Winter geradezu unverschämt dunklen Teint streckte seinen durchtrainierten, sehnigen Körper noch einmal ausgiebig und gähnte herzhaft und laut.

 

Wieder klopfte es laut gegen seine Tür, die sich gleich darauf öffnete. Eine zierliche schwarzhaarige Frau betrat das Zimmer und Frank verzog überrascht das Gesicht. Wow, seine Mutter gab sich höchstpersönlich die Ehre.

 

„Frank, nun komm schon, du musst aufstehen. Heute ist deine Verhandlung und wenn du dieses Mal wieder zu spät im Gericht erscheinst…“

 

Seine Mutter ließ das Ende des Satzes offen, aber Frank hatte sie auch so verstanden. Super, bis gerade eben hatte er den Gedanken an seine neuerliche Gerichtsverhandlung noch erfolgreich aus seinen Gedanken verdrängen können. Damit war es jetzt natürlich vorbei. Missmutig setzte er sich auf. „Mann, Mama, ich weiß, was ich zu tun habe. Glaub mir, niemand weiß das besser, als ich. Ich werde schon nicht zu spät vor dem Scharfrichter erscheinen. Keine Sorge.“

 

„Dann würde ich mich an deiner Stelle aber etwas beeilen, mein Lieber.“ Seine Mutter ging rüber zum Fenster und zog mit einem kräftigen Ruck die schweren, dunklen Vorhänge zur Seite.

 

„Hey“, beschwerte sich ihr Sohn prompt empört. „Muss das sein, du weißt doch, wie lichtempfindlich ich bin.“

 

„Du bist nicht lichtempfindlich, mein Sohn, du bist verkatert“, bekam er ungerührt zur Antwort. „Wie so oft in der letzten Zeit.“ Seine Mutter seufzte tief. „Wohin soll das nur führen? Du macht dir alles kaputt. Wenn du das nur endlich einsehen würdest.“

 

Na, und wenn schon, dachte Frank. Laut sagte er: „Mama, mach dir keine Gedanken. Papa wird´s schon richten. Wie immer.“

 

„Stell dir das dieses Mal bloß nicht so einfach vor. Du stehst dieses Mal immerhin als Wiederholungstäter vor Gericht.“

 

„Beim letzten Mal wurde ich freigesprochen“, widersprach Frank trotzig.

 

„Ja, das stimmt wohl – aber an dir lag das bestimmt nicht. Frank, nimm das nicht auf die leichte Schulter. Markus sagt auch …“ Wie immer, wenn Ricarda Baumann nervös war, wurde ihr leichter, italienischer Akzent stärker und so, wie seine Mutter sich anhörte war sie gerade ganz eindeutig ziemlich nervös. Doch sie wusste, dass sie mit weiteren Vorwürfen nichts erreichen würde, als biss sie sich auf die Zunge und blickte lediglich sorgenvoll auf ihren einzigen Sohn.

 

Der Anflug eines schlechten Gewissens regte sich in Franks Kopf, den er allerdings gekonnt ignorierte. Dafür ließ er zu, dass sich sein Zorn immer mehr durchsetzte. Was sollte das? Sonst interessierte seine Eltern doch auch nicht, was er so trieb. Musste seine Mutter ausgerechnet jetzt auf ihm rumhacken. Herrgott noch mal, er war schließlich gerade erst wach geworden!

 

„Es ist mir echt scheißegal, was Dr. Markus Becker dazu zu sagen hat“, reagierte er daher ungewohnt heftig. „Er ist mein Anwalt und seine einzige Aufgabe ist es, mich da rauszupauken. Alles andere geht ihn nichts an. Außerdem, wie ich meinen Herrn Vater kenne hat der doch bestimmt längst seine Beziehungen spielen lassen und genau die richtigen Hebel in Bewegung gesetzt. Becker ist doch nur Fassade. Du wirst sehen, alles wird gut. Es wird kein trüber Schatten auf eure ach so heile Fassade fallen.“ Frank stieg, nur mit Boxershorts bekleidet, gemächlich aus dem Bett und wollte sich ins angrenzende Bad verkrümeln, bevor das Gespräch noch unangenehmer wurde. Doch seine Mutter, immerhin einen Kopf kleiner als er, stoppte ihn, indem sie ihn ruckartig am Arm zurückhielt. „Was denn noch?“, brummte er ablehnend und vermied den direkten Blickkontakt. „Du siehst doch, dass ich auf bin. Und nüchtern. Du kannst also beruhigt zurück an die Arbeit gehen.“

 

„Frank“, drängte seine Mutter. „Bitte.“

 

„Hey, ich hab´ schließlich niemanden umgebracht. Sie werden mir schon nicht den Kopf abreißen. Außerdem hab´ ich doch ein tolles zuhause. Einen gefestigten Background nennt man so etwas, glaube ich. Meine Eltern sind angesehene Bürger dieser Stadt. Wenn das kein gesichertes soziales Umfeld ist, was dann? Was soll mir da schon groß passieren?“

 

„Ich weiß auch nicht. Ich habe einfach kein gutes Gefühl. Ich denke, du irrst.“ Ricarda Baumann betrachtete ihren Sohn traurig.

 

„Gott, du siehst aus, als müsstest du mich gleich beerdigen. Ich bin doch noch immer auf die Füße gefallen, oder vielleicht nicht?“ Innerlich fühlte Frank sich allerdings längst nicht so selbstsicher, wie er sich nach außen gab. Vor dieser Verhandlung war ihm schon mulmig zumute. So sehr er sich auch darum bemüht hatte: Dieses Mal war es ihm nicht gelungen, das Gefühl leichtfertig abzustreifen. Er hatte schlecht geschlafen und dieser blöde Gerichtstermin lag ihm wie ein Klotz im Magen. Das würde er aber vor seiner Mutter auf gar keinen Fall zugeben. Trotzdem, irgendwie tat sie ihm leid und so nahm er sie kurz in den Arm. „Hey, mach dir keine Sorgen. Das wird schon.“

 

„Du meine Güte“, entfuhr es seiner Mutter. „Seit wann hast du das denn?“ Entsetzt starrte sie auf die kleine tätowierte Kobra, die in der für eine Kobra typischen Drohgebärde den Oberarm ihres Sohnes schmückte.

 

Abrupt schob Frank seine Mutter wieder und von sich und verzog verärgert sein Gesicht. „Oh, das? Das hab´ ich schon über ein halbes Jahr.“ Die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich muss unter die Dusche. Kümmere du dich um deine Gäste. Mit deren Macken und Besonderheiten kennst du dich eindeutig besser aus.“ Seine Stimme troff vor Ironie. Mit einem lauten Knall ließ er die Badezimmertür hinter sich zuknallen. Er wusste genau, dass er seine Mutter gerade verletzt hatte, doch er redete sich ein, dass es ihm nichts ausmachte. Schließlich war er im Recht. Seine Eltern führten ein fast durchwegs gut belegtes Hotel. Ihrer aller Existenz, wie sein Vater nicht müde wurde zu erwähnen. Da blieb die Zeit für Privates oftmals auf der Strecke. Ihnen war ja noch nicht einmal aufgefallen, dass Frank ihnen mehr und mehr entglitten war. Erst als er, aufgrund seiner mangelhaften Leistungen, das Abi nicht schaffte und das letzte Schuljahr wiederholen musste, fiel seinen Eltern die Veränderung auf. Doch da war es schon zu spät gewesen. Viele seiner damaligen Freunde gingen zur Uni oder begannen eine Ausbildung. Frank verlor alle Kontakte und die wenigen verbliebenen brach er freiwillig ab. Stattdessen schloss er sich einer Clique Obdachloser an, die in einer alten, stillgelegten Fabrik am Stadtrand hausten. Er trieb sich nächtelang herum und schwänzte weiterhin oft die Schule. Na und, schließlich war er achtzehn. Niemand konnte ihn mehr dazu zwingen, zur Schule zu gehen. Im Hotel, wo die Familie das komplette oberste Stockwerk bewohnte, hielt er sich nur noch selten auf. Wenn er sich schon einmal zu den Mahlzeiten im Speisesaal einfand, gab es garantiert umgehend Stress, wenn er mit seinem Vater zusammentraf. Also reduzierte er seine dortigen Besuche auf ein Minimum.

 

Dann wurde er zum ersten Mal verhaftet. Er war bei einem Tankstelleneinbruch dabei gewesen. Man hatte ihn quasi mit der Hand in der Kasse hops genommen, doch sein Anwalt hatte es damals noch gerade eben so drehen können, dass er mit einem blauen Auge und einer strengen Ermahnung davon gekommen war. Da die anderen alle geflohen waren hatte Becker argumentiert, dass Frank nur zufällig dort vorbeigekommen und gerade dabei gewesen war, das Geld aus der Kasse zu sichern, bevor er die Polizei rufen wollte. Da es keine Zeugen gegeben hatte, hatte der Richter `im Zweifel für den Angeklagten´ gelten lassen müssen. Allerdings hatte er schon damals starke Zweifel an Franks Unschuld gehabt und der Mann hatte dies auch deutlich durchblicken lassen. Nur den verdammt guten Beziehungen seines Vaters und Beckers Redegewandtheit hatte er es damals zu verdanken, dass er freigesprochen wurde. Und genau darauf verließ Frank sich auch jetzt. Außerdem wusste er ziemlich genau, dass seine Eltern ihn noch lange nicht aufgegeben hatten.

 

An diesem Morgen musste er nun also bereits das zweite Mal vor Gericht erscheinen. Rausreden war wohl dieses Mal nicht drin, denn man hatte ihn auf frischer Tat beim Knacken eines Luxusautos erwischt. Mit dem Werkzeug in der Hand. Aber selbst wenn es tatsächlich zu einer Vorstrafe kommen sollte, was war das schon? Das könnte er locker verkraften. Die konnten ihm gar nichts. Alles, was er tun musste, war dichtzuhalten, dann würden seine Kumpels weiter zu ihm halten. Und das war ihm im Moment das Wichtigste überhaupt.

 

Heiß prasselte das Wasser auf Franks durchtrainierten Körper. Früher einmal war er einer der besten Schwimmer seiner Schule gewesen. Auf dem Sprung in eine Fördergruppe des Nationalteams. Es hatte fast so ausgesehen, als läge eine große Sportlerkarriere vor ihm. Seine Zeit war ausgefüllt gewesen mit Schule, Training, Wettkämpfen… Gott, das Alles schien inzwischen eine Ewigkeit her zu sein. Kinderkram! Frank stellte die Dusche ab, schüttelte sich kräftig das Wasser aus den Haaren und griff nach einem Handtuch. Nachdem er sich abgetrocknet hatte besah er sich prüfend im vom Wasserdampf beschlagenen Spiegel.

 

„Tja, da musst du jetzt wohl durch, Alter“, sagte er zu seinem Spiegelbild, so als wolle er sich Mut machen. „Reine Formsache und dann bricht eine neue Ära an.“ In der vergangenen Nacht, als er sich schlaflos im Bett herumgewälzt hatte, war ihm klar geworden, dass sich etwas in seinem Leben verändern musste. Was genau wusste er zwar noch nicht, aber darüber konnte er sich später immer noch Gedanken machen. Zuerst einmal musste er diese verdammte Verhandlung überstehen.

 

Entschlossen stieg Frank in seine geliebte schwarze Lederkluft und strich sich das tiefschwarz gefärbte Haar mit viel Gel nach hinten. Er griff wie gewohnt nach seinem silbernen Adlerohrring, zögerte kurz, überlegte es sich dann aber anders und legte den Indianerschmuck zurück auf die Kommode. Siegessicher grinste er seinem Spiegelbild zu.

 

„Nicht übertreiben, alter Knabe. Du willst schließlich einen guten Eindruck machen.“ Mit langen Schritten verließ er zügig sein Zimmer und ging zum Aufzug, der ihn hinunter in die Eingangshalle des Hotels brachte. In die Wohnung der Familie gelangte man nur, wenn man einen speziellen Schlüssel zum Aufzug besaß, aber den hatten eben leider viele. Die Baumanns waren so gut wie nie alleine in ihrem durchaus gemütlichen Privatbereich. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatten ausgesuchte Angestellte die Erlaubnis Franks Eltern in ihrem Refugium zu stören. Und diese Erlaubnis wurde weidlich ausgenutzt.

 

Der Gast ist König. Frank kam dieser Standardsatz seines Vaters schon aus den Ohren raus. Er hatte im Laufe der Jahre den Eindruck gewonnen, dass seine Eltern sich durchaus gerne stören ließen. Urlaub kam für die Familie nicht in Frage. Für Frank natürlich schon. Jedes Jahr wurde er mit einer anderen Jugendgruppe verschickt. Oder in ein Trainingslager. Zugegeben, es waren immer tolle Angebote gewesen. Er hatte Skifahren, Segeln, Surfen und Tauchen gelernt und noch vieles mehr. Seine Eltern hatten keine Kosten und Mühen gescheut, um den einzigen Sohn bei Laune zu halten. Nur, irgendwann hatte dieses Supersystem einfach nicht mehr funktioniert.

 

Mit federndem Schritt verließ Frank den Aufzug und ging in den Speisesaal. Um diese Zeit waren seine Eltern meistens dort anzutreffen, um während des Frühstücks den weiteren Tagesablauf zu besprechen. Es erstaunte Frank immer wieder, dass sie dabei die Zeit fanden, auch noch zu frühstücken. Wie erwartet fand er die beiden an dem für die Familie reservierten Stammtisch, der sich in der Nähe der Eingangstür befand.

 

„Ich verschwinde. Sehen wir uns nachher?“

 

„Natürlich, was denkst du denn?“ Wolfgang Baumann warf seinem Sohn einen kritischen Blick zu und verzog leicht angewidert sein Gesicht. „Sag mal, du wirst doch nicht etwa so vor Gericht erscheinen wollen?“

 

„Doch“, antwortete Frank bestimmt. „Ganz genau So.“

 

„Aber…“

 

Frank warf einen schnellen Blick auf seine Uhr und fiel seinem Vater ins Wort. „Ich muss los. Becker will mich vor der Verhandlung noch kurz sprechen. Bis später.“ Er hob kurz verabschiedend eine Hand und machte, dass er wegkam. In der Tiefgarage des Hotels startete er mit lautem Getöse seine Maschine und brauste kurz darauf, deutlich zu schnell, aus der Auffahrt.


2. Kapitel: Antonia

„Toni, verdammt, wo bleibst du denn? Ich hab´ keine Lust, wegen deiner Trödelei zu spät zu kommen.“

 

„Hab´ dich nicht so. Ich komme ja schon.“

 

Im Obergeschoss fiel eine Tür ins Schloss und gleich darauf kam Antonia, von allen, die sie kannten nur kurz Toni genannt, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Holztreppe des alten, kleinen Häuschens heruntergesprungen. Unten im Flur wurde sie schon ungeduldig von Michael, ihrem zwei Jahre älteren Bruder, erwartet. Das schlanke, zierliche Mädchen mit den langen, ungebändigten roten Kringellocken grinste ihren Bruder aus grünen Augen frech an.

 

„Hey, was ist denn nun? Ich denke, du hast es eilig?“

 

Michael verdrehte ergeben die Augen. „Papa“, rief er statt einer Antwort in Richtung Küche. „Toni und ich müssen jetzt los. Du siehst zu, dass die Kleinen pünktlich zur Schule kommen, ja?“

 

„Ja, ja, macht euch keine Sorgen“, kam die Antwort aus der Küche. „Ich habe alles im Griff.“

 

Toni griff nach ihrer Jacke und schob ihren Bruder mit sanfter Gewalt zur Tür raus. „Er klingt so verdächtig fröhlich“, sagte sie dabei leise. „Hat er etwa schon wieder …?“ Sie ließ das Ende des Satzes offen. Mike verstand sie auch so.

 

„Er braucht einfach dringend eine neue Aufgabe. Dann hört das von alleine wieder auf“, gab der sich zuversichtlich, doch so richtig überzeugt von seinen Worten klang er nicht.

 

„Ich weiß nicht“, zweifelte auch Toni. „Außerdem, wer nimmt schon einen Musiker im Rollstuhl? Wenn Papa so weitersäuft geht doch noch alles vor die Hunde. Irgendwann kriegt die Tussi vom Jugendamt das mal mit, wenn sie wieder wegen der Kleinen vorbeischaut. Und dann holt sie sie weg und wir haben uns völlig umsonst so angestrengt.“ Ihre Stimme zitterte leicht und ihre Augen, die gerade eben noch so frech geblitzt hatten, bekamen einen traurigen Ausdruck.

 

Auf dem Weg zum Wagen legte Mike tröstend den Arm um seine Schwester. „Mach dir keine Gedanken“, versuchte er sie wider besseres Wissen zu trösten. „Das werden wir nicht zulassen. Und jetzt komm endlich. Wir müssen los.“

 

Die Fahrt in die Stadt verlief schweigsam, da die Geschwister tief in Gedanken versunken waren. Toni grübelte darüber nach, wie lange ihr Leben wohl noch auf diese rasante Art und Weise an ihr vorüberrauschen würde. Es glich zurzeit einer nicht enden wollenden Achterbahnfahrt. Es gab jede Menge Höhen und Tiefen, doch in der letzten Zeit hatte sie das Gefühl als gäbe es nur noch Nackenschläge.

 

          Seit fast zwei Jahren ging das nun schon so und ein Ende schien nicht in Sicht. Ihre Eltern waren damals auf dem Rückweg von einem Konzert auf eisglatter Landstraße verunglückt waren. Drei Tage vor Weihnachten hatten sie die halbe Nacht eingeklemmt in ihrem Wagen auf Hilfe gewartet, bis sie endlich gefunden worden waren. Für ihre Mutter war es damals schon zu spät gewesen. Sie war aufgrund ihrer schweren inneren Verletzungen verblutet. Tonis Vater, der seit dem Unfall im Rollstuhl saß, trug nachweislich keine Schuld an dem Unfall. Angetrunkene Jugendliche hatten sich überschätzt, den Wagen ihrer Eltern geschnitten und dabei gerammt. In dem anderen Fahrzeug waren alle ums Leben gekommen. Der einzige Überlebende des grauenhaften Unfalls war der berühmte Konzertpianist Heinrich Schiffer gewesen und der war seitdem nicht mehr derselbe. Er vergrub sich im Haus, trank mehr als ihm gut tat und verließ sich blind auf seine beiden ältesten Kinder. Früher war er nur selten daheim gewesen. Ein Termin hatte den nächsten gejagt und einmal im Jahr war er für mehrere Wochen – manchmal sogar Monate – auf Tournee. Nur in den Sommerferien hatte er sich immer Zeit für seine Familie genommen und alle Anfragen für Termine und Auftritte rigoros abgeblockt.

 

Toni lächelte versonnen vor sich hin. Als Kind hatte sie die großen Ferien geliebt. Da waren sie immer alle zusammen unterwegs gewesen. Die ganze Familie. Sie hatten viel von der Welt gesehen und manchmal hatten sie sogar spontane Konzerte in den Fußgängerzonen großer Städte gegeben, was immer ein Riesenspaß für alle war – besonders weil ihr berühmter Vater bei diesen Gelegenheiten zumeist nicht erkannt wurde. Ihre temperamentvolle und eigentlich immer gut gelaunte irische Mutter, die seinerzeit ihre eigene Karriere zugunsten der Familie aufgegeben hatte, führte bei diesen Auftritten die Regie und hatte mühelos alle Familienmitglieder mit ihrer Lebensfreude und ihrem Spaß an der Musik mitgerissen. Tonis Lächeln wurde wehmütig, während sie gedanklich in der Vergangenheit versank. Die Ehe ihrer Eltern war bis zum ihrem jähen und brutalen Ende sehr glücklich gewesen. Ungewöhnlich, aber glücklich. Toni und ihre Geschwister hatten bis zu dem Unfall, der ihre heile Welt mit einem Schlag zerstört hatte, eine sehr schöne Kindheit und Jugend erlebt. Doch seitdem lief nichts mehr so, wie es sein sollte! Ihr Vater war ein anderer Mensch geworden und Toni gewann manchmal den Eindruck, dass sie und ihre Schwester Sarah besonders darunter zu leiden hatten – vielleicht ja, weil sie beide das typisch irische Aussehen ihrer Mutter geerbt hatten und ihren Vater alleine dadurch stets an seinen Verlust erinnerten.

 

Mike stand kurz vor dem Abitur als der Unfall geschah. Die Schule hatte er zwar noch beendet, aber an ein Musikstudium – wie ursprünglich geplant – war nicht mehr zu denken. Sie benötigten dringend Geld, denn die wenigen Rücklagen ihrer Eltern waren schnell aufgebraucht gewesen Tonis Bruder hatte sich daraufhin eine Stelle auf dem Bau gesucht, damit sie wenigstens regelmäßige Einkünfte vorweisen konnten, wenn das Jugendamt mal wieder eine unangemeldete Routinekontrolle machte. Aufgrund des langen Krankenhausaufenthaltes und der anschließenden Reha-Maßnahmen, waren Toni und ihre jüngeren Geschwister damals vorübergehend in die Obhut des Jugendamtes gekommen. Es schien das kleinere Übel zu sein, denn so hatten sie wenigstens zusammen bleiben können, da Mike zu dieser Zeit bereits volljährig gewesen war. Allerdings hatte man ihm damals nicht die volle Verantwortung für fünf minderjährige Geschwister übertragen wollen. Als schließlich nach Monaten feststand, dass Herr Schiffer nie wieder richtig gesund werden würde, und man ihn nach Hause entließ, wurden sie die Leute vom Amt fatalerweise nicht mehr los.

 

Das Jugendamt war ein Problem, Geld das andere. Mikes Verdienst reichte vorne und hinten nicht und auch die Halbwaisenrenten hielten sie nicht über Wasser. Irgendwann hatte Toni schließlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen und – als sie ihre zehn Pflichtjahre hinter sich gebracht hatte – ebenfalls die Schule abgebrochen. Seitdem arbeitete sie in dem Alten- und Pflegeheim, in dem sie vorher schon hin und wieder gejobbt hatte.

 

Damals hatte ihre Großmutter noch dort gelebt, doch die war im letzten Sommer gestorben. Toni war damals dankbar, dass man ihr auch danach die Möglichkeit gegeben hatte, weiterhin dort zu arbeiten. Und nicht nur sie, auch die Schwestern und die Bewohner des Heims waren froh gewesen, dass Toni ihnen auch nach dem Tod ihrer Großmutter erhalten blieb. Niemand hatte Fragen gestellt oder nach ihren Qualifikationen verlangt. Natürlich war allen klar, dass Toni die entsprechende Ausbildung fehlte, doch da sie ihre Arbeit stets gut und gewissenhaft erledigte, war sie peu á peu fest in das bestehende Team hineingewachsen. Es hatte sich einfach so ergeben. Gute Pflegekräfte wurden schließlich immer händeringend gesucht. Es war ein harter, manchmal auch ein nervenaufreibender Job, der zudem relativ schlecht bezahlt wurde, aber Toni machte er Spaß. Sie half gerne und die Dankbarkeit der Bewohner bestätigte sie in ihrem Tun. Der Leiterin des Heims war selbstverständlich klar gewesen, dass da etwas gewaltig schief lief, doch sie hatte, auch weil sie Mitleid hatte und wusste, dass Tonis Familie das Geld dringend brauchte, keine schlafenden Hunde wecken wollen. Wo kein Kläger, da kein Richter und irgendwann hatte Toni einfach dazu gehört.

 

Dann war der Tag gekommen, als ihnen plötzlich die Anzeige gegen Toni ins Haus geflattert war. Irgendjemand hatte anonym an der richtigen Stelle moniert, dass Toni in dem Heim Arbeiten verrichtete, für die sie nicht ausgebildet war. Sie hatte die Schuld sofort auf sich genommen, denn sie wollte auf keinen Fall, dass das Heim auch noch Ärger bekam. Also hatte sie ausgesagt, dass sie auf eigene Verantwortung gehandelt habe und die Heimleitung nichts von ihren Eigenmächtigkeiten während der Arbeit gewusst habe. Oberschwester Maria war zwar damit nicht einverstanden gewesen, doch Toni war es gelungen, sie davon zu überzeugen, dass es sich hier nur um eine winzige Notlüge handelte und der `Chef der Nonnen´ in diesem speziellen Fall mit Sicherheit nichts dagegen einzuwenden habe.

 

Toni seufzte tief. Sie betete, dass der Richter Verständnis für ihre Situation aufbrachte. Wenn nicht, sah es echt düster aus. Weihnachten kam mit Riesenschritten näher und selbst wenn ihre Geschwister keine großen Geschenke bekamen, neue Klamotten und Schuhe brauchten sie auf jeden Fall. Die Zwillinge wuchsen zurzeit, dass es nur so krachte. Verdammt, sie durfte auf keinen Fall ihren Job verlieren. Mike und sie hatten es bis jetzt noch immer irgendwie geschafft, die Familie über die Runden zu bringen, aber wenn sie ihre Arbeit verlöre, würde das das Schiff unwiderruflich zum Kentern bringen, das war klar. Mike machte schon Überstunden ohne Ende – mehr war einfach nicht drin. Gott sei Dank war ein alter Freund der Familie Anwalt und hatte sich sofort dazu bereit erklärt, sie zu unterstützen. Toni quetschte unbewusst ihre Daumen in der Handfläche. Es musste ganz einfach gut ausgehen. Sie konnten doch unmöglich immer nur Pech haben.

 

Mike war ebenso tief in Gedanken versunken, wie seine Schwester. Er machte sich allerdings weniger Sorgen um die Weihnachtsgeschenke, als vielmehr um die Hypothekenzahlungen für das Haus. Er wusste, dass die Banken da keinen Spaß verstanden. Er konnte sich ausrechnen, was passieren würde, wenn sie mit den Raten in Rückstand geraten würden. Vielleicht sollte er die Band aufgeben. Aber wozu? Er hing an der Band und immerhin spülten die gelegentlichen Auftritte auch etwas zusätzliches Geld in die Kasse. Damit durfte er natürlich nicht fest rechnen, aber trotzdem. Er war Musiker mit Leib und Seele, wie seine Eltern, und wenn er schon nicht Musik studieren konnte, dann wollte er wenigstens seine Band behalten. In letzter Zeit fürchtete er allerdings manchmal, dass ihm die Verantwortung über den Kopf wuchs. Auf seinen Vater war leider kein Verlass. Das Unglück hatte alle seine Kraftreserven aufgebraucht. Selbst vor dem Unfall waren seine Eltern schon immer etwas wirklichkeitsfremd gewesen. Künstler eben. Durch und durch. Sie lebten von einem Tag in den nächsten. Es war ja auch nie ein Problem gewesen. Geld war immer genügend vorhanden. Sein Vater hatte zeitweise Unsummen verdient. Allerdings wurde das Geld auch mit vollen Händen ausgegeben. Seine Eltern hatten immer nur im `Heute´ gelebt und nie an das `Morgen´ gedacht. Nach dem Unfall hatte sich dann herausgestellt, dass es so gut wie keine finanziellen Reserven gab, was sich mit der Zeit nun als eine mittelprächtige Katastrophe herausstellte.

 

Der junge Mann seufzte ebenfalls leise. Er gab wirklich sein Bestes und doch wurde er nie das Gefühl los, permanent auf zu dünnem Eis zu wandeln. Er hatte keine Ahnung, wie lange das noch gut gehen würde. Aktuell sah es auf jeden Fall wirklich schlecht aus. Aber es half ja nichts, er musste sich zusammenreißen und weitermachen – schon wegen seiner Geschwister.

 

Kurz darauf parkte er den alten Lieferwagen, der nun auch schon zwei Monate TÜV überfällig war, am Straßenrand. Er warf einen Blick auf seine Uhr und meinte lakonisch:

 

„Na, wenigstens einer von uns kommt pünktlich. Mein Vorarbeiter wird begeistert sein.“

 

„Tut mir leid. Sekunde, ich hole nur schnell mein Rad hinten raus. Dann bist du entlassen. Wir sehen uns ja dann heute Abend.“

 

„Hey, ruf kurz an, wenn es vorbei ist, okay? Ich drück dir die Daumen.“

 

„Wird schon schiefgehen“, antwortete Toni betont zuversichtlich. Sie öffnete die Wagentür und wollte aussteigen, als ihr Bruder sie am Arm zurückhielt.

 

„Mach dir nicht so viele Gedanken. So wie du heute aussiehst wickelst du den Richter mit links um den Finger.“

 

Toni schnitt eine Grimasse. „Hoffentlich hast du Recht.“ Sie schlug die Tür von außen zu und ging eilig um den Wagen herum, um ihr Rad hinten aus dem Laderaum zu holen.

 

Genau in diesem Augenblick schoss ein Motorrad an dem Lieferwagen vorbei und raste durch eine große Matschpfütze am Straßenrand. Toni schrie erschrocken auf, als die Breitseite Wasser, vermischt mit Schlamm, sie beinahe voll erwischte. Instinktiv ließ sie ihr Fahrrad fallen und brachte sich mit einem gewagten Sprung zur Seite in Sicherheit.

 

„Gottverfluchter Penner!“, schrie sie wutentbrannt dem Fahrer hinterher, den es zunächst überhaupt nicht zu kümmern schien, was er da gerade angerichtet hatte.

 

Zu Tonis Überraschung wurde die Maschine jedoch ein Stück weiter tatsächlich abgebremst. Der Fahrer drehte sich zu Toni um.

 

„Mann, kannst du nicht aufpassen, du Vollidiot?“, wütete Toni der dunkel gekleideten Gestalt entgegen. Der schwarze Helm ließ sie den Fahrer nicht erkennen. „Jetzt schau, wie ich aussehe.“

 

Der Fahrer des Motorrades musterte sie kurz von oben bis unten, was jedoch nur durch die Kopfbewegung zu deuten war. Schließlich brummte er undeutlich hinter seinem Helm: „Wenn du sonst keine Sorgen hast.“

 

Als Toni daraufhin Anstalten machte, auf ihn zuzukommen, schüttelte er nur kurz den Kopf, drehte sich wieder um und raste davon. Toni blieb fassungslos über so viel Dreistigkeit zurück und starrte dem Rowdy hinterher, während sie vor lauter Wut mit ihrem einen Fuß aus Versehen noch einmal genau in die tiefste Stelle der Pfütze stampfte, was ihr abermals einen lauten Fluch entlockte.

 

3. Kapitel: Wie immer zu spät

Frank bekam nur sehr undeutlich mit, dass das Mädchen, das er unbeabsichtigt nass gespritzt hatte, ihm in ihrer Wut noch einige wilde Flüche hinterherschickte. Es tat ihm zwar leid, dass dieses, wie er am Rande bemerkte, offensichtlich sehr hübsche, rothaarige Mädchen jetzt wegen ihm wie ein begossener Pudel dastand, doch ein schneller Seitenblick auf die Uhr im Turm des alten Gerichtsgebäudes hatte ihm gezeigt, dass ihm für eine Entschuldigung keine Zeit mehr blieb.

 

Sein Anwalt hatte ihn für spätestens 9.00 Uhr bestellt und dabei auf Pünktlichkeit gedrängt. Jetzt war es bereits eine Viertelstunde später und er hatte noch nicht mal einen Parkplatz. Wohl bemerkt, einen wo er seine Maschine auch tatsächlich abstellen durfte. Einen kurzen Moment lang überlegte Frank, seine Kiste einfach vor dem Haupteingang des Gerichtsgebäudes zu parken, doch diese Variante erschien selbst ihm zu dreist, und so suchte er weiter. Franks Verhandlung sollte um 10.00 Uhr beginnen, doch er wusste, dass Becker davor noch einen Termin mit einem anderen Klienten hatte. Verdammt, wenn er wenigstens eine Ahnung hätte, warum Becker ihn so unbedingt noch vor der Verhandlung sprechen wollte. Er hatte es sehr dringend gemacht und das wiederum machte Frank ziemlich nervös, denn der langjährige Freund seines Vaters neigte normalerweise nicht zu Übertreibungen.

 

Einige Minuten später betrat Frank vollkommen abgehetzt das Gerichtsgebäude. Nachdem er ungeduldig die Sicherheitskontrollen hatte über sich ergehen lassen, stürmte er, seinen Helm in der Armbeuge und immer zwei Stufen auf einmal nehmend, durch das Treppenhaus hinauf in den dritten Stock. Atemlos bog er schließlich in den langen Gang ein, in dem sich, wie er bereits wusste, sowohl der Verhandlungsraum, wie auch das Besprechungszimmer, in dem er mit Becker verabredet war, befanden.

 

Schon von weitem erkannte er die hochgewachsene, schlanke Gestalt seines Anwalts, der sich vor dem Verhandlungssaal offenbar mit jemandem unterhielt. In diesem Augenblick veränderte Becker seine Position ein wenig und Frank erkannte Beckers Gesprächspartner. Mist, schoss es ihm durch den Kopf. Schnell huschte er sich in eine der tiefen Fensternischen des alten Gebäudes und hoffte, dass ihn die kleine Gruppe in ca. 20 Metern Entfernung noch nicht bemerkt hatte. Becker unterhielt sich angeregt mit dem rothaarigen Mädchen von vorhin. Auch das noch. Die hatte ihm jetzt wirklich gerade noch gefehlt. Auf Vorwürfe und Schimpftiraden konnte er im Augenblick getrost verzichten.

 

Vorsichtig lugte Frank um die Ecke. Da, jetzt schickte Becker das Mädchen in den Saal hinein, blickte nervös auf seine Uhr und ließ den Blick den Gang entlang schweifen. Erleichtert löste sich Frank aus seiner Ecke und trabte locker auf seinen Anwalt zu.

 

„Morgen“, begrüßte er den Studienfreund seines Vaters mit einem breiten Grinsen. „Da bin ich. Was liegt an?“

 

„Frank! Wo zum Teufel hast du gesteckt?“, fauchte Becker wütend statt einer Begrüßung. „Ich hatte 9.00 Uhr gesagt.“

 

Frank zuckte gleichmütig mit den Achseln. „Hey, nun halten Sie mal den Ball flach – jetzt bin ich ja da. Also? Warum wollten Sie mich so dringend vor der Verhandlung noch mal sprechen? Ist doch alles klar, oder?“

 

„Nicht so ganz.“ Becker fuhr sich durch die Haare. „Frank, hör zu, es tut mir leid, aber ich habe jetzt keine Zeit mehr für dich. Du hättest einmal in deinem Leben pünktlich sein sollen.“

 

„Die kleine rothaarige, was?“ Frank grinste vielsagend. „Ist sie auch Ihre Klientin? Was hat sie denn ausgefressen? Sie sieht so harmlos aus.“

 

„Nichts, im Vergleich zu dir. Außerdem geht es dich nichts an. Du solltest dich lieber um deinen eigenen Kram kümmern.“ Becker schüttelte genervt den Kopf und wandte sich zur Tür des Verhandlungsraumes.

 

„Meine Güte, warum sind Sie denn bloß so sauer?“

 

Becker drehte sich, die Türklinke bereits in der Hand, noch einmal zu Frank um und schaute ihm ernst ins Gesicht. „Warum ich sauer bin? Okay, wenn du es unbedingt wissen willst: Weißt du, wer heute den Vorsitz bei deiner Verhandlung hat? Nein? Dann werde ich es dir verraten. Richter Dohmen. Und nachdem was ich gehört habe, hat er alles daran gesetzt, exakt diesen Vorsitz zu bekommen. Dreimal darfst du raten, warum.“

 

Frank zuckte fast unmerklich zusammen.

 

„Wie ich sehe, ist dir der Name noch ein Begriff.“

 

„Klar, na und?“

 

„Na und? Sag mal, bist du mittlerweile von allen guten Geistern verlassen? Der Mann hat sich fest vorgenommen, heute ein Exempel zu statuieren und glaub´ mir, es wird ihm ein Fest sein. Du solltest dir eine verdammt gute Strategie einfallen lassen. Die wirst du nämlich gleich da drinnen brauchen. Und genau diese Strategie wollte ich heute Morgen mit dir besprechen. Tja, Pech gehabt. Geh ins Besprechungszimmer und warte dort auf mich. Vielleicht bleiben uns ja nachher noch ein paar Minuten, bevor es losgeht. Wenn nicht…“ Er machte eine vielsagende Pause, während der er Frank intensiv musterte. „…nun, dann kann ich dir nur viel Glück wünschen. Obwohl ich mir gerade, ehrlich gesagt, nicht mehr sicher bin, dass du noch Glück verdienst.“ Ohne eine Antwort abzuwarten verschwand Becker im Gerichtssaal und schloss die Tür von innen.

 

Frank stand für kurze Zeit wie vom Donner gerührt im Gang. Als weiter hinten im Gang eine Tür ins Schloss fiel, kam es ihm wie ein Kanonenschlag vor und er zuckte abermals unwillkürlich zusammen. Wie ein geprügelter Hund schlich er schließlich ins Besprechungszimmer und ließ sich dort schwer auf einen der blanken, abgenutzten Plastikstühle fallen. Mann, das durfte doch alles nicht wahr sein. Ausgerechnet Richter Dohmen! Der Mann hatte ihm schon bei seiner ersten Verhandlung kein einziges Wort geglaubt. Was konnte er dem schon erzählen, um seine Schuld abzuschwächen? Der Alte war zwar sein Feind, aber zweifellos war der alte Knochen ziemlich ausgeschlafen. Da machte er sich nichts vor.

 

Er seufzte tief und strich sich mit einer müden Handbewegung durch die Haare. Er hatte ein Riesenproblem und er war sich dessen absolut bewusst. Er hatte nur nicht den geringsten Schimmer, wie er das Problem angehen sollte; geschweige denn, wie eine eventuelle Lösung aussehen konnte. Niedergeschlagen hockte Frank vornüber gebeugt auf seinem Stuhl und beobachtete die Zeiger der alten Wanduhr, die langsam und unwiderruflich auf 10.00 Uhr vorrückten. Scheiße!

 

„Herr Baumann? Frank Baumann?“

 

Frank schrak zusammen. Sein Kopf schnellte hoch und er blickte zur Tür. Dort stand ein junger Gerichtsdiener und blickte ihn fragend an.

 

„Sind Sie Frank Baumann?“

 

„Ja, bin ich.“ Leugnen hatte wohl wenig Zweck, schoss es ihm gleichzeitig durch den Kopf.

 

„Bitte kommen Sie mit. Sie sind gleich an der Reihe. Ähm, ich meine natürlich Ihre Verhandlung.“

 

„Ja, ja, natürlich.“ Etwas mühsam, wie es schien, erhob sich Frank von dem unbequemen Stuhl. „Ich komme.“ Während er dem Gerichtsdiener zum Verhandlungsraum folgte, überlegte er einen kurzen Augenblick lang ernsthaft, sich einfach zu verdünnisieren. Es war bestimmt nicht schwer, durch das Treppenhaus zu entwischen. Der untersetzte, stämmige Mann würde ihm wohl kaum folgen können. Doch Frank verwarf den Gedanken sofort wieder. Es machte keinen Sinn. Sie würden ihn ja doch kriegen. Wenn nicht jetzt, dann eben später und das würde seine Lage mit Sicherheit nur noch verschlimmern.

 

Becker stand mit dem rothaarigen Mädchen vor dem Saal. Trotz seiner inneren Unruhe fiel Frank auf, dass sie lächelte und irgendwie erleichtert wirkte. Becker reichte ihr gerade eine Hand zum Abschied, drückte mit der anderen kurz ihre Schulter und nickte ihr aufmunternd zu. Das Mädchen antwortete etwas und ging danach in Begleitung einer … Was? Wie bitte? Doch, tatsächlich, sie ging in Begleitung einer Nonne in Richtung Aufzug. Plötzlich drehte sie sich jedoch unvermittelt noch einmal um. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und Frank hielt unbewusst die Luft an. Keine Szene. Bitte mach jetzt keine Szene, bat er inständig, ohne ein Wort zu sagen. Doch offensichtlich erkannte sie in ihm nicht denjenigen, der sie eben draußen vor dem Gebäude von Kopf bis Fuß eingesaut hatte. Die Spuren, die seine Unachtsamkeit hinterlassen hatten, waren noch deutlich auf ihrem hellen, wadenlangen Rock zu erkennen. Frank atmete erleichtert auf, als das Mädchen Becker zum Abschied lediglich kurz zuwinkte, bevor sie gemeinsam mit dem Pinguin, so nannte er Nonnen insgeheim immer, im Aufzug, der zwischenzeitlich seine Ankunft mit einem leisen `Pling´ angekündigt hatte, verschwand.

 

„Frank? Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“ Becker schaute den Sohn seines besten Freundes, der, wie er wusste, im Grunde genommen kein schlechter Kerl war, ziemlich sauer an.

 

Zischend ließ Frank den angehaltenen Atem entweichen, bevor er antwortete: „Was? Entschuldigen Sie, tut mir leid.“

 

„Mensch, Junge, wo bist du denn mit deinen Gedanken? Es geht los. Wir sind dran. Bist du bereit?“

 

„Nicht wirklich.“ Frank verzog sein Gesicht in der bangen Erwartung dessen, was ihn erwartete. „Aber was bleibt mir anderes übrig?“

 

„Okay, dann los. Wagen wir uns in die Höhle des Löwen“, versuchte Becker einen lahmen Scherz. „Tu mir bloß einen Gefallen, hörst du? Versuch wenigstens, höflich zu bleiben. `Ne große Lippe ist hier fehl am Platz, verstanden?“

 

„Ja, ja, schon klar. Bringen wir es hinter uns. Ich hab´ heute noch was anderes vor“, murmelte Frank leise. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, nahm die Schultern nach hinten und betrat vor seinem Anwalt den Saal. Äußerlich wirkte er sehr cool und relaxed, als er mit langen Schritten hinüber zur Anklagebank schlenderte und sich lässig auf den Stuhl des Angeklagten plumpsen ließ. Danach beobachtete er anscheinend völlig unbeteiligt, wie immer mehr Besucher in den Saal strömten.

 

4. Kapitel: Die Verhandlung

Kopfschüttelnd betrachtete Dr. Markus Becker seinen jungen Mandanten. Es war ihm ein Rätsel, warum Frank sich so verhielt. Er hatte ihn aufwachsen sehen und er wusste, dass seine Eltern ihr einziges Kind liebten und alles für ihn tun würden. Trotzdem war Frank vor einer Weile völlig abgedriftet. Niemand konnte mehr zu ihm durchdringen. Er war verschlossen, in sich gekehrt und baute Mist. Wieder und wieder. Becker war sich nicht einmal sicher, ob Frank bewusst war, wie tief er dieses Mal in der Tinte saß.

 

Nachdem jeder im Gerichtssaal seinen Platz eingenommen hatte eröffnete Richter Dohmen die Verhandlung.

 

„Du solltest dich vielleicht schuldig bekennen“, raunte Becker seinem Schützling zu, während der Richter noch die Personalien des Angeklagten feststellte und die Anklageschrift vorlas.

 

Franks Kopf fuhr herum und er starrte Becker entgeistert an. „Was? Ich bin doch nicht verrückt. Was soll der Scheiß?“

 

„Darüber wollte ich ja mit dir reden“, zischte Becker leise. „Der Richter steht anscheinend auf dem Standpunkt, dass …“

 

„Wenn Sie beide Ihre Besprechung beendet haben, könnten wir vielleicht endlich mit der Verhandlung beginnen“, fiel Richter Dohmen Becker ungehalten ins Wort. Der setzte sich sofort wieder gerade hin.

 

„Natürlich, Euer Ehren. Ich bitte um Verzeihung.“

 

Der Richter nickte gnädig und blätterte in seiner Akte. „Es geht also hier um versuchten Autodiebstahl. Dr. Becker, Ihr Mandant plädiert also tatsächlich auf `nicht schuldig´, wie ich sehe.“ Er machte eine bedeutsame Pause und hob den Kopf. „Ist das richtig? Ich meine, die Polizeibeamten haben ihn mit dem Handwerkszeug direkt neben dem Wagen erwischt. Er war im Begriff dies zu benutzen.“

 

Bevor Becker antworten konnte, erhob sich Frank schnell von seinem Platz und kam ihm zuvor.

 

„Ja, Richter … äh … ich meine natürlich Euer Ehren. Das ist vollkommen richtig. Ich war dort und ich hatte das … Zeug in der Hand. Schon klar, dass das für Außenstehende so aussehen mochte. Aber es handelt sich hier um ein Missverständnis. Ein dummes Missverständnis, nichts weiter.“

 

„So, so. Ein Missverständnis also?“ Richter Dohmen schob seine Brille hoch und blickte Frank durchdringend in die Augen. „Junger Mann, kann es sein, dass wir uns hier in diesem Gebäude schon einmal begegnet sind?“

 

„Ja, aber das wissen Sie sehr genau. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich heute hier bin.“

 

„Damit wollen Sie wahrscheinlich sagen, dass die letzte Anklage gegen Sie auf genauso einem dummen Missverständnis, wie Sie es nennen, beruhte. Sehe ich das richtig.“

 

„So ist es.“ Frank nickte heftig mit dem Kopf. Bis jetzt lief es doch eigentlich ganz gut. Dieses Gefühl gab ihm Zuversicht und er wurde mutiger. „Ich war unschuldig und Sie haben mich freigesprochen.“

 

„Ja, schon komisch.“ Der Richter nickte und blätterte wieder in seinen Unterlagen. Dann hob er den Kopf und sah Frank dieses Mal so eindringlich an, dass dem ganz anders zumute wurde. „Eines möchte ich hier noch festhalten. Damals hatte ich keine Wahl. Ich musste Sie freisprechen. Die Beweislage war nicht eindeutig. Das heißt aber nicht, dass ich Sie für unschuldig hielt.“

 

„Aber, …“

 

„Der Richter brachte Frank mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Lassen Sie es gut sein, Herr Baumann. Wir sind heute nicht hier, um über alte Zeiten zu plaudern. Vielleicht sollten Sie uns jetzt einfach mal erzählen, wie es zu diesem neuerlichen … Missverständnis kommen konnte.“

 

„Gerne“, erwiderte Frank und ignorierte Beckers warnenden Rippenstoß. „Ich war auf dem Weg nach Hause. Da bemerkte ich zufällig, wie sich jemand an dem Wagen zu schaffen machte. Ich wollte eingreifen, doch als ich näher kam, bemerkte der Typ mich, ließ sein Werkzeug fallen und haute ab. Ich hob´ es auf und…nun ja, plötzlich tauchte da dieser Streifenwagen auf, die Beamten sprangen heraus und beschuldigten mich.“

 

„Können Sie uns vielleicht eine Beschreibung von diesem …hm … Typ geben?“, hakte Richter Dohmen nach.

 

„Nein, leider nicht. Ich wünschte, ich könnte es. Ehrlich. Aber es war stockdunkel und der Mann war dunkel gekleidet.“

 

„Aha, es war also ein Mann. Dessen sind Sie sich sicher?“

 

„Nun ja, ich würde sagen, ja. Die Gestalt war auf jeden Fall groß und kräftig.“

 

„Na, sehen Sie, jetzt liefern Sie uns plötzlich doch eine vage Beschreibung. Ich dachte, Sie hätten nichts erkennen können.“

 

„Ähm, Moment…da habe ich von seinem Gesicht gesprochen. Das konnte ich nämlich nicht erkennen. Er trug ein Basecap – tief in die Stirn gezogen.“ Er registrierte das resignierte Kopfschütteln von Dr. Becker zu seiner Linken und spürte eine leichte Unsicherheit in sich aufkeimen, was er sich äußerlich allerdings nicht anmerken ließ.

 

„Sehen Sie, wieder ein neues Detail…“ Richter Dohmen rückte seine Brille zurecht und las kurz etwas in der Akte nach, bevor er weiter sprach. „Nun gut, lassen wir das. Was haben Sie unternommen, nachdem diese ominöse Gestalt geflüchtet war?“

 

„Ich ging rüber zum Wagen und wollte nachsehen, ob alles in Ordnung war, oder ob ich besser die Polizei rufen sollte. Wie ich schon sagte: Ich hatte gerade das Werkzeug aufgehoben und war noch dabei, die Tür zu kontrollieren, als diese übereifrige Streife auftauchte. Die beiden Beamten haben gar nicht erst gefragt, was los ist, sondern sie beschuldigten mich sofort, den Wagen stehlen zu wollen.“

 

„Was natürlich nicht der Fall war?“

 

„Natürlich nicht“, widersprach Frank gekonnt entrüstet. So langsam fing das Ganze an, ihm Spaß zu machen. „Euer Ehren, ich besitze ein Auto und ein Motorrad. Warum sollte ich also ein Auto klauen wollen?“

 

„Diese Frage zu beantworten, gehört Gott sei Dank nicht zu meinen Aufgaben. Ich bin kein Psychologe. Ich muss hier nur klären, ob Sie schuldig sind, oder nicht. Gut, wir haben Sie gehört – lassen wir nun die Anklage zu Wort kommen.“ Richter Dohmen lächelte Frank übertrieben freundlich zu. „Ehrlich gesagt, ich fürchte, dies wird eine unangenehme Überraschung für Sie. Setzen Sie sich.“

 

Die letzten Worte des Richters hatten jede Freundlichkeit verloren. Er bellte Frank den Befehl förmlich entgegen und der gehorchte völlig überrumpelt ohne Widerspruch. In diesem Augenblick gab es eine kurze Unterbrechung, als Franks Eltern den Saal betraten und der Richter den Baumanns per Handzeichen zu verstehen gab, sich schnell zu setzen. Zu spät, wie immer, schoss es Frank durch den Kopf. Doch er bekam keine Zeit, sich in seine Verbitterung hineinzusteigern, denn plötzlich ging alles Schlag auf Schlag. Franks Geschichte fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es stellte sich heraus, dass die Anklage bei einer neuerlichen Befragung der Anwohner, die Richter Dohmen kurz vor der Verhandlung noch höchstpersönlich bei der Staatsanwaltschaft durchgesetzt hatte, tatsächlich noch einen Augenzeugen gefunden hatte, der Frank von der gegenüber liegenden Straßenseite aus seiner Wohnung heraus die ganze Zeit über beobachtet hatte. Kurz nachdem er die Geschehnisse auf der Straße beobachtet hatte, war der Mann mit einem leichten Herzinfarkt zusammengebrochen und hatte einige Wochen in einem Krankenhaus zubringen müssen. Er hatte seine Beobachtungen schon fast vergessen, bis die Beamten vor kurzem an seiner Tür klingelten. Damit war Franks Geschichte keinen Pfifferling mehr wert. Franks Vater raufte sich verzweifelt die Haare, während seiner Mutter Tränen in die Augen stiegen. Allen war klar, was das für Konsequenzen nach sich ziehen musste.

 

„Was sind Sie eigentlich für ein Anwalt?“, zischte Frank Dr. Becker außer sich vor Wut zu. „Das hätten Sie doch wissen müssen, verdammt.“

 

„Ich hatte in den letzten Tagen einen Termin nach dem anderen, dadurch hat mich diese Information leider erst verspätet erreicht. Daraufhin wollte ich mich ja heute Morgen unbedingt noch mit dir treffen. Ich wollte es dir sagen, und dann mit dir gemeinsam eine Strategie besprechen. Aber du warst ja mal wieder zu spät.“

 

„Dann…ach, Scheiße, dann hätten Sie mich eben bremsen müssen.“

 

„Das hab´ ich ja versucht, aber du hast mich ja ignoriert“, erinnerte der Anwalt Frank lapidar.

 

„Herr Baumann, möchten Sie vielleicht noch etwas sagen?“, fragte Richter Dohmen mit schneidender Stimme. „Sie dürfen gerne offen zu den neuen Fakten Stellung nehmen. Lassen Sie uns an Ihren Gedanken teilhaben.“

 

Frank biss sich auf die Unterlippe und schüttelte stumm den Kopf. Die Verhandlung ging weiter, wobei es im Grunde nicht mehr viel zu sagen gab. Die Fakten sprachen für sich, obwohl Frank sich nach wie vor strikt weigerte, seine Schuld zuzugeben. So hatte Dr. Becker letztlich keine Wahl. Er konnte sich nur noch in Schadensbegrenzung versuchen. In seinem Schlussplädoyer wies er daher wiederholt darauf hin, dass sein Mandant keine Vorstrafen hatte und ein absolut intaktes Elternhaus in einem guten, gesicherten sozialen Umfeld.

 

„Jeder Jugendliche macht irgendwann mal einen Fehler. Man sollte das nicht überbewerten. Es war ein dummer Jungenstreich. Natürlich will mein Mandant das nicht zugeben. Warum? Weil er sich schämt. Eine ganz natürliche Reaktion auf einen Fehler. Das dürfte doch beinahe jeder hier im Saal kennen. Denken Sie gut darüber nach, ob man einem jungen Menschen wegen eines einmaligen dummen Vergehens wirklich die Zukunft verbauen sollte. Und ich fürchte, das wäre das Ergebnis, wenn es hier zu einer Verurteilung kommen sollte. Jeder weiß doch, dass es heutzutage mit einer Vorstrafe so gut wie unmöglich ist, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bekommen. Ich kenne den Angeklagten seit Jahren und bin mir absolut sicher, dass er aus dieser Sache gelernt hat. Ich finde, deswegen sollte er auch eine faire Chance erhalten.“

 

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück und es wurde still im Saal. Frank, der ahnte, dass er dieses Mal nicht so glimpflich davon kommen würde, saß hypernervös neben Dr. Becker und knetete seine Hände. Schließlich atmete er einmal tief durch und beugte sich hinüber zu Dr. Becker.

 

„Was glauben Sie, wird er tun?“, fragte er seinen Anwalt so leise, dass er kaum zu verstehen war.

 

„Ich weiß es nicht“, bekam er ebenso leise zur Antwort.

 

„Aber es sieht nicht gut aus, oder?“

 

Becker verzog säuerlich sein Gesicht. „Warten wir´s ab. Nach der Show, die du hier eben abgezogen hast, rechne ich mit allem!“

 

5. Kapitel: Trübe Zukunftsaussichten / Franks Urteil

Trübe Zukunftsaussichten

 

Gemeinsam mit Schwester Maria hatte Toni nach ihrer Verhandlung das Gerichtsgebäude verlassen. Schweigsam und nachdenklich versuchte sie das soeben erlebte zu verarbeiten. In ihrem Kopf drehte sich alles. Davon einmal abgesehen, dass ihr der Auftritt vor Gericht unendlich peinlich gewesen war, war sie mit einem blauen Auge davongekommen. Aber wie sollte sie bloß die nahe Zukunft überstehen? Es würde mehr als stressig werden, das war klar. Der Richter hatte ihr auferlegt, alle Prüfungen, die ihr für ihre Arbeit ihm Pflegedienst fehlten, nachzuholen und die entsprechenden Nachweise dem Gericht nachzureichen. Bis dahin durfte sie nur Kleinigkeiten und Handlangerarbeiten verrichten. Das bedeutete, dass sie neben ihrer normalen Arbeitszeit jede Menge zusätzlicher Kurse besuchen musste. Da sie sowohl die Praxis, als auch die Theorie sehr gut beherrschte, hatte Toni keine Angst, durchzufallen, nur woher sollte sie die Zeit nehmen? Auch ihr Tag hatte schließlich nur 24 Stunden. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte – es schien ihr unmöglich.

 

Schwester Maria schien zu ahnen, was in Toni vorging. Sie lächelte und tätschelte beruhigend ihren Arm. „Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Das kriegen wir schon hin. Wir geben dich doch nicht kampflos her. Uns wird da schon was einfallen.“

 

Toni lächelte leicht verkrampft. „Ich werde mich gleich morgen in der Schule anmelden. Vielleicht kann ich ja aufgrund meiner Vorkenntnisse ein paar verkürzte Crahkurse machen“, hoffte sie.

 

„Wird schon werden“, meinte Schwester Maria ungebrochen zuversichtlich. „Ich werde mich noch heute darum kümmern, dass wir eine zusätzliche Hilfskraft bekommen. Komm, jetzt denk mal an etwas anderes. Fährst du auch mit dem Bus?“

 

„Nein, ich bin mit dem Rad da. – Vielen Dank, Schwester Maria. Für alles. Ich komme später noch vorbei.“

 

„Nichts da“, widersprach die resolute Nonne. „Du hast den Rest des Tages frei.“

 

„Aber …“

 

„Bezahlt, versteht sich. Mach dir einen schönen Tag. Geh´ bummeln. Sieh einfach mal zu, dass du auf andere Gedanken kommst. Du hast das ganze Wochenende gearbeitet. Du hast dir ein paar freie Stunden verdient.“

 

„Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

 

„Keine Ursache“, lächelte Schwester Maria. „Morgen sehen wir uns dann in alter Frische wieder. Ach, bevor du in die Stadt fährst, solltest du dich vielleicht umziehen.“ Sie wies auf Tonis Rock. „Wie ist denn das passiert?“

 

„Ach, da ist eben so ein hirnverbrannter Sch … ähm, Blödmann mit seiner Kiste genau neben mir durch eine Matschpfütze gerast. Der Idiot hat sich noch nicht mal entschuldigt.“

 

„Kiste?“ Die Nonne guckte für einen Moment lang verwirrt, bevor sie verstand. „Ach so, du meinst ein Motorrad. Mädchen, an deiner Ausdrucksweise musst du unbedingt noch arbeiten“, tadelte Schwester Maria Toni vorwurfsvoll. „Nun, denn, da kommt mein Bus. Mach dir einen schönen Tag. Bis morgen.“ Schwester Maria stieg in den Bus und winkte zum Abschied.

 

 

Franks Urteil

 

Nachdem der Richter den Saal verlassen hatte, erschien Frank die nächste Viertelstunde schier endlos. Nervös knetete er mit gesenktem Kopf seine Hände im Schoß und kaute schweigend auf seiner Unterlippe herum. Als sich endlich die Tür, die das Richterzimmer mit dem Saal verband, wieder öffnete, zuckte er erschrocken zusammen.

 

„Herr Baumann, bitte stehen Sie auf.“

 

Mit weichen Knien erhob sich Frank. Alle Coolness war längst aus seinem Auftreten verschwunden. Ein Blick in die Augen des Richters reichte und er wusste, was ihn erwartete. Mit versteinerter Miene hörte er sich seinen Schuldspruch, die Strafe und die Urteilsbegründung des Richters an.

 

Sechs Monate Haft. Diese wurden allerdings für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Dazu 160 Sozialstunden, mindestens zweimal pro Woche in einer Einrichtung, die später noch festgelegt werden sollte. Regelmäßige Meldungen bei einem Bewährungshelfer gehörten selbstverständlich auch zu Franks zukünftigem Terminplan. Sollte er irgendeiner dieser Verpflichtungen nicht nachkommen, oder sich während der nächsten zwei Jahre auch nur den kleinsten Fehltritt leisten, wurde die Bewährung aufgehoben und er würde unwiderruflich für sechs Monate in den Bau wandern. In der Urteilsbegründung hob Richter Dohmen noch einmal mehr als deutlich hervor, dass er Frank beileibe nicht für das Unschuldslamm hielt, als das sein Anwalt ihn versucht hatte, ihn darzustellen.

 

„Ich habe vor fünf Monaten einen schwerwiegenden Fehler begangen“, schloss er schließlich. „Wenn ich Sie bei unserer ersten Begegnung schon bestraft hätte, wäre es womöglich gar nicht erst zu diesem Wiedersehen gekommen. Ich hätte damals die Verhandlung vertagen und mich um eine bessere Beweislage kümmern sollen. Das ich dies nicht getan habe, ist ein klares Versäumnis. Stattdessen habe ich mich wider besseres Wissen weich kochen lassen, obwohl mir seinerzeit schon klar war, dass Sie meine eindringlichen Warnungen nicht beherzigen würden. Allerdings gäbe es vielleicht doch noch eine Möglichkeit, das Strafmaß herabzusetzen.“

 

Interessiert blickte Frank auf. „Ein Deal?“

 

Der Richter lächelte andeutungsweise: „Wenn Sie es so nennen wollen.“

 

„Wie sieht der aus?“

 

„Namen. Ich möchte, dass Sie mir Namen nennen. Mir ist klar, dass Sie nicht alleine operieren und ich weiß auch, dass Drogen im Spiel sind. Leugnen ist zwecklos – es gab Rückstände an Ihrer Kleidung, die Sie an dem besagten Abend trugen. Zu wenig, um Sie deswegen zu belangen, aber sie lassen sich nicht wegdiskutieren.“

 

„Drogen?“ Der junge Mann auf der Anklagebank lachte auf, doch es klang gekünstelt. „Mit Drogen hab´ ich nichts am Hut. Und wenn ich mich richtig erinnere, stand nichts von Drogen in der Anklageschrift.“

 

Richter Dohmen nickte: „Ganz richtig – darum ging es hier heute nicht. Also, hören Sie zu, wenn Sie Ihre Strafe reduzieren wollen, dann möchte ich…“

 

Frank winkte ab. „Vergessen Sie´s. Außerdem würde ich damit ja praktisch zugeben, tatsächlich schuldig zu sein.“

 

„Ist das nicht das kleinere Übel? Überlegen Sie es sich.“

 

Frank ignorierte Beckers aufforderndes Nicken und antwortete schnell: „Ich kann Ihnen keine Namen nennen, weil ich keine Namen kenne. Und ich weiß auch nichts von irgendwelchen Drogen. War das jetzt deutlich genug?“

 

„Herr Baumann, das ist unwiderruflich Ihre letzte Chance. Ergreifen Sie sie.“ Richter Dohmen machte eine Pause, bevor er weiter sprach. „Wissen Sie eigentlich, was für ein Glück Sie hatten, dass Sie zum Tatzeitpunkt das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten? Eins garantiere ich Ihnen: Sollten Sie sich noch einmal etwas zuschulden kommen lassen, werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass nicht nur Ihre Bewährung aufgehoben wird, sondern auch dass Sie nach Erwachsenenrecht behandelt werden. Das wird dann anders für Sie aussehen, das verspreche ich Ihnen.“

 

„Ach ja, warum?“, rutschte es Frank unbedacht heraus. „Weil ich keine verkorkste Jugend hatte? Keinen Missbrauch oder noch Schlimmeres erleben musste? Diese Typen kommen doch alle mit einem blauen Auge davon. Sie konnten mich schon beim ersten Mal nicht ausstehen und jetzt …“

 

„Schweigen Sie!“, donnerte Richter Dohmen in den Saal. „Sie reden sich um Kopf und Kragen, ist Ihnen das eigentlich klar?“

 

Frank hielt atemlos inne und starrte zu Boden. Er hätte sich am liebsten selber in den Hintern getreten, dass er sich für einen Moment lang nicht in der Gewalt gehabt hatte. Im Saal war es totenstill. Niemand wagte es, ein Geräusch zu verursachen. Alle blickten auf den Richter, der mit erhobenem Hammer hinter seinem Tisch saß und versuchte, Frank unglaubliche Unverschämtheit zu verdauen. Schließlich klopfte er mit dem Hammer auf den Tisch.

 

„Das Urteil ist rechtskräftig“, verkündete er eisig. „Ich werde keine Revision zulassen. Herr Baumann, Sie werden sich morgen bei Ihrer Bewährungshelferin vorstellen.“ Er kramte in seinen Unterlagen und ließ Frank durch den Gerichtsdiener eine Visitenkarte überreichen. „Habe ich mich klar ausgedrückt?“

 

Trotzig nickte Frank. Er wagte nicht, zu antworten, da er befürchtete, seine Stimme nicht unter Kontrolle zu haben.

 

„Gut. Ich werde Ihrer Bewährungshelferin Ihre Akte zukommen lassen. Sie wird alles Weitere mit Ihnen besprechen. Sie wird Ihnen dann mitteilen, wann und wo Sie Ihre Sozialstunden abzuleisten haben. Sollten Sie dort auch nur ein einziges Mal unentschuldigt fehlen, verfällt Ihre Bewährung.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Herr Baumann?“

 

„Schon gut, ich habe verstanden“, antwortete Frank gepresst.

 

„Sehr schön. Damit ist die Verhandlung geschlossen.“

 

Endlich, dachte Frank im Stillen. Sein persönliches Waterloo war beendet.

 

„Herr Baumann?“

 

„Was noch?“ zischte Frank aggressiv. Er wusste, dass er sich unmöglich verhielt, doch im Moment konnte er einfach nicht anders.

 

„Ich hoffe wirklich sehr, dass es dieses Mal kein Wiedersehen gibt. Daher möchte ich Ihnen nur eins mit auf den Weg geben: Ich wünsche Ihnen alles Gute. Schon um Ihrer Eltern willen.“

 

„Die können Sie getrost aus dem Spiel lassen“, fauchte Frank heftiger, als er es eigentlich gewollt hatte. Aber seine Gefühlswelt geriet gerade völlig außer Kontrolle und er hatte keine Ahnung, wie er das Ruder wieder in die Hand bekommen konnte. „Kann ich jetzt gehen?“

 

„Jederzeit. Solange Sie Ihren auferlegten Verpflichtungen nachkommen, sind Sie ein freier Mensch.“

 

„Oh, na dann…“ Die Stimme des Jugendlichen troff vor Ironie. „Sie erwarten aber nicht, dass ich Ihnen dafür danke, oder?“ Mit langen Schritten verließ er daraufhin den Gerichtssaal, ohne sich noch einmal umzuschauen.

 

Richter Dohmen blickte dem wütenden jungen Mann kopfschüttelnd hinterher, bevor er sich in sein Zimmer zurückzog. Dabei zeigte seine Körpersprache deutlich, dass er keine großen Hoffnungen in Frank setzte.

 

„Frank!“ Frau Baumann eilte ihrem Sohn hinterher, der schon fast beim Aufzug angekommen war. „Frank, wo willst du denn hin? So warte doch.“

 

Widerwillig wartete Frank, bis seine Mutter ihn erreicht hatte. „Was willst du?“, fragte er ungehalten. „Ihr habt doch alles mitgekriegt. Wenigstens zum Urteilsspruch seid ihr ja noch rechtzeitig gekommen. Gratuliere.“

 

„Jetzt wirst aber unfair. Wir haben im Stau gestanden.“

 

„Oh, ja, sicher. Betet mal, dass kein Stau ist, wenn ich demnächst einen Termin bei meiner Bewährungshelferin habe. Sonst könnt ihr mich gleich im Bau besuchen. Ich meine, natürlich nur, falls es eure Zeit erlaubt.“

 

„Frank, deine Mutter hat Recht“, mischte sich sein Vater ein. „Und selbst wenn wir pünktlich gewesen wären, an dem Urteil hätten wir wohl kaum etwas ändern können.“

 

„Du hast ja so Recht.“ Frank zog eine Grimasse. „Wie immer, nicht wahr?“

 

„Du brauchst nicht ironisch zu werden. Bevor du die Schuld auf andere abwälzt, solltest du mal über eines nachdenken: Wenn du hier heute pünktlich gewesen wärst, wäre die Verhandlung vielleicht ja anders für dich ausgegangen. Was ist? Du bist ja so still?“

 

„Oh, Mann“, stieß Frank mühsam beherrscht hervor. „Weißt du was: Vergiss es einfach!“ Die Aufzugtür öffnete sich und Frank wollte eintreten.

 

„Bitte, Frank. Geh jetzt nicht“, bat seine Mutter leise.

 

Unentschlossen verharrte Frank einen Moment lang in der Lichtschranke.

 

„Wo willst du denn überhaupt hin?“, fragte sein Vater. „Zu deinen sogenannten Freunden?“

 

Das gab den Ausschlag. „Das sind wenigstens Freunde“, fauchte Frank aufgebracht.

 

„Ach ja, und wo waren sie dann eben, deine ach so tollen Freunde? Haben sie dir vielleicht beigestanden? Hat irgendeiner von denen etwas unternommen, um dich zu entlasten? Ich habe keinen gesehen. Also sag schon, wo sind sie, deine sauberen Freunde?“

 

„Du verstehst wirklich nichts. Gar nichts! Aber woher auch? Weißt du was: Leck mich am Arsch. Mama, mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt einfach ein bisschen alleine sein. Das verstehst du doch, oder? Heute Abend bin ich wieder zu Hause, okay?“

 

Frau Baumann zuckte hilflos mit den Schultern, während sich die Aufzugtüren hinter Frank schlossen. Der hörte noch wie sein Vater ihm ein wütendes: „Frank! Du wirst jetzt sofort mit uns…“, hinterherschickte, dann wurde es endlich still in der kleinen Kabine. Frank lehnte sich mit der Stirn gegen das kühle Metall der Innenverkleidung. Die Kopfschmerzen, die er schon zu Beginn der Verhandlung gespürt hatte, waren inzwischen zu einer hämmernden Migräne angewachsen, die ihm jeden klaren Gedanken vernebelte. Er fühlte sich fürchterlich. Aber das Schlimmste war, dass er absolut keinen Schimmer hatte, wie es nun weitergehen sollte.


6. Kapitel - Tonis freier Tag

Nachdem Toni Schwester Maria noch einmal gewunken hatte, radelte sie auf dem schnellsten Weg nach Hause. Natürlich würde sie nicht bummeln gehen. Wovon auch? Sie würde Mike anrufen und ihm vom Ausgang der Verhandlung erzählen. Er machte sich bestimmt schon Sorgen. Zu Hause warteten außerdem Berge Bügelwäsche auf sie und vielleicht schaffte sie es ja sogar noch, ein wenig Schlaf nachzuholen, bevor die Kleinen aus der Schule eintrudelten. Sie hatte wirklich ein anstrengendes Wochenende hinter sich. Für den Abend war außerdem noch eine Bandprobe angesetzt. Wahrscheinlich würde es, wie immer, sehr spät werden.

 

Als sie nach Hause kam, saß ihr Vater in seinem Rollstuhl mit einer Flasche Bier in der Hand vor dem Fernseher. Überrascht schaute er auf seine Tochter.

 

„Schon zu Hause? Musst du denn heute nicht arbeiten?“

 

„Papa, heute war meine Verhandlung“, erinnerte Toni ihren Vater sanft.

 

„Ach ja, das hatte ich völlig vergessen. Und? Wie war´s?“

 

„Glück gehabt“, erwiderte sie schlicht und ersparte ihrem Vater die Einzelheiten. Die zu koordinieren würde sowieso ihr Problem sein. „Sind die Kleinen pünktlich raus?“, fragte sie stattdessen auf dem Weg in die Küche, wo sich das schmutzige Geschirr in der Spüle stapelte. Toni seufzte tief.

 

„Ja, sicher“, kam die Antwort aus dem Wohnzimmer. „Du traust mir wohl gar nichts mehr zu.“

 

„Doch, Papa. Sicher.“ In diesem Augenblick erblickte Toni die Frühstückpakete ihrer jüngeren Geschwister, die sie am Morgen noch in aller Eile vor dem Duschen vorbereitet hatte, mitten auf dem großen Küchentisch. Na ja, dachte sie phlegmatisch, während sie die Päckchen schnell in den Kühlschrank räumte. So war wenigstens das Abendessen für die Kleinen schon vorbereitet. Bevor sie bügelte, spülte sie noch schnell und räumte auf. Als sie endlich alles erledigt hatte, war es zu spät, um sich noch etwas Schlaf zu gönnen. Nicht mehr lange, und die Kleinen würden nach Hause kommen und sie wahrscheinlich in Anspruch nehmen, wenn sie schon einmal außer der Reihe daheim war. Genauso war es. Eine Viertelstunde später stürmte die wilde Horde in die Küche und begrüßte Toni begeistert lautstark.

 

Daniel war zwölf und für sein alter schon recht verständig. die zehnjährige Sarah war genauso rothaarig und sommersprossig wie ihre Schwester, nur dass ihr die wilden Locken fehlten. Insgeheim beneidete Toni ihre jüngere Schwester um ihr glattes Haar. Zu guter Letzt trudelten die Zwillinge Andi und Lukas ein. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Zum Zeitpunkt des Unfalls waren sie gerade drei Jahre alt gewesen und sie hatten ihre Mutter sehr vermisst. Toni platzte schier vor Stolz auf die beiden. Zuerst hatten sie sich sehr an ihre große Schwester geklammert, doch mittlerweile hatten sie sich prächtig gemausert. Sie besuchten im letzten Jahr den Kindergarten und wurden dort auch über Mittag betreut. Gott sei Dank lag die Kita gleich neben Sarahs Schule. Sarah holte die beiden täglich nach Schulschluss dort ab und nahm sie mit nach Hause. Die Geschwister hatten sich mit der Zeit arrangiert und mittlerweile klappte es eigentlich, bis auf wenige Ausnahmen, recht gut.

 

Lukas war an diesem Tag sehr aufgeregt und baute sich vor Toni auf. „Stimmt das, was Daniel sagt?“, verlangte er lautstark zu wissen und drängelte seinen Zwillingsbruder mit dem Ellbogen beiseite.

 

„Keine Ahnung. Was sagt Daniel denn?“, erkundigte sich Toni.

 

„Na, dass du vielleicht bald in den Knast musst“, rief Andi eifrig dazwischen. „Hast du einen umgebracht, oder was?“

 

„Daniel!“ Wütend blitzte Toni ihren Bruder an.

 

„So hab´ ich das nie gesagt“, verteidigte der sich vehement.

 

Toni verdrehte die Augen und ging vor den Kleinen in die Knie. „Also gut, hört zu. Ganz egal, was ihr von anderen hört. Ich habe nichts Böses angestellt und ich komme auch nicht ins Gefängnis. Ganz bestimmt nicht! Macht euch keine Sorgen. Und du …“ Sie warf Daniel noch einen strafenden Seitenblick zu. „ … redest gefälligst nicht so einen Scheiß daher, klar?“

 

„Gott, bist du empfindlich“, schnappte Daniel.

 

„Müsst ihr euch eigentlich immerzu streiten?“, rief ihr Vater aus dem Wohnzimmer. „Kann man hier nicht mal mehr in Ruhe fernsehen? Daniel, bringst du mir bitte noch ein Bier.“

 

Daniel verzog sein Gesicht, auf dem bereits die ersten Pickel zu sprießen begannen, doch Toni nickte ihm leicht mit dem Kopf zu.

 

„Mach ruhig. Ist eh die letzte Flasche.“ Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, waren weitere fruchtlose Diskussionen.

 

Lukas fragte: „Warum trinkt Papa eigentlich so viel Bier? Das hat er früher nicht gemacht. Klavier spielt er auch nicht mehr. Früher hat er uns immer was vorgespielt. Er ist richtig gemein geworden.“

 

„Er hat im Moment einfach keine Lust“, nahm Toni ihren Vater vor den Kleinen in Schutz, obwohl es ihr fast das Herz zerriss. „Du magst doch auch nicht immer auf deiner Flöte spielen.“

 

„Aber Papa wollte mir Klavierspielen beibringen. Das hat er mir fest versprochen und du hast gesagt, Versprechen muss man halten.“

 

„Ich weiß“, seufzte Toni. Sie verstand ihre Geschwister ja. Nur zu gut. Es hatte sich einfach zu viel verändert. Sie kam ja selber kaum damit klar, wie sollten es also erst die Kleinen verarbeiten? Mike und sie gaben zwar ihr Bestes, um den Geschwistern die Mutter zu ersetzen, doch egal, was sie taten, wie sehr sie sich anstrengten, es war einfach nie genug.

 

Wenn ihr Vater es jetzt noch schaffte, den Kleinen die Musik madig zu machen, wusste sie sich auch keinen Rat mehr. Musik war, solange sie denken konnte, immer das große Bindeglied in ihrer Familie gewesen. Mike spielte Schlagzeug, sie selber Geige und Klavier, bzw. Keyboard, Daniel war für sein Alter schon ein recht guter Gitarrist und Sarah befand sich gerade mitten in einer Experimentierphase. Lukas und Andi hatten von klein auf großes Interesse am Klavier gezeigt, doch seit einiger Zeit ließ ihr Vater niemanden mehr an das Instrument. Lukas maulte schon länger, dass er endlich Klavierstunden nehmen wollte, doch dafür fehlte das Geld. Toni fand es außerdem paradox einen berühmten Pianisten in der Familie zu haben und fremde Leute für Unterricht zu bezahlen. Lukas tat ihr zwar leid, doch in diesem Fall mussten Mike und sie hart bleiben. Wenn ihr Vater nicht bald irgendeinen Job annahm, sah es sowieso düster aus. Mike hatte ihm vorgeschlagen Unterricht zu geben, doch das hatte er strikt abgelehnt. Die beiden wären fast in einen Riesenstreit über dieses Thema verfallen.

 

Toni seufzte. In Zukunft würde das Geld noch knapper werden. Sie würde durch die Kurse nicht mehr so viele Schichten im Heim übernehmen können und außerdem stand der Winter vor der Tür. Das bedeutete, dass Mike nur noch eingeschränkt auf dem Bau arbeiten konnte. Zu allem Unglück wuchsen Andi und Lukas zurzeit, dass man ihnen beinahe dabei zuschauen konnte. Es war schlichtweg zum verrückt werden.

 

Toni gelang es, ihren kleinen Bruder zu beruhigen und nach dem Essen verfrachtete sie die Zwillinge kurzerhand in den Garten in den Sandkasten, damit sie weiter arbeiten konnte. Am liebsten würde sie jetzt etwas Geige spielen. Das half immer. Aber dazu fehlte ihr die Zeit. Vielleicht gelang es ihnen ja in der Vorweihnachtszeit ein paar zusätzliche Auftritte für die Band an Land zu ziehen. Die Termine müssten nur geradezu perfekt in ihren engen Zeitplan passen. Mike und sein bester Freund Paul hatten vor vier Jahren eine Band gegründet. Mike an den Drums, Paul an der Gitarre, Dennis, ein alter Schulfreund von den beiden, am Bass und sie selbst am Keyboard. Der Gesangspart teilte sie sich mit Paul. Sie spielten Coverversionen bekannter Popsongs und waren mit der Zeit richtig gut geworden. So gut, dass immer mehr Buchungsanfragen für Firmen- und Stadtfeste kamen, die sie leider schon jetzt nicht mehr alle wahrnehmen konnten.

 

Paul… Toni lächelte traurig vor sich hin. Paul war ihr erster richtiger Freund gewesen, doch die Beziehung hatte nicht gehalten. Nach dem Unfall war Paul zwar für sie da gewesen, doch sie hatte einfach zu wenig Zeit für ihn gehabt. Schließlich war es gekommen, wie es kommen musste. Paul hatte jemand anderen kennengelernt und war seitdem mit ihr zusammen. Anfangs hatte es Toni sehr weh getan, die beiden zusammen zu sehen, doch inzwischen war sie darüber hinweg. Irgendwie konnte sie Paul ja sogar verstehen. Die Hauptsache war, dass die Stimmung in der Band durch das Aus der Beziehung nicht gelitten hatte. Die meisten Stücke, die sie spielten, basierten auf der Chemie zwischen Paul und Toni und da war es immens wichtig, dass sie miteinander auskamen.

 

Die Zeit verging wie im Flug und erst als sie die Zwillinge abends ins Bett verfrachtet hatte, bemerkte Toni, wie zerschlagen sie sich fühlte. Das war also ihr freier Tag gewesen. Na toll! In ihrem Bemühen, den Haushalt mal wieder auf Vordermann zu bringen, hatte sie wahrscheinlich mehr geleistet, als während einer normalen Schicht im Altenheim. Aber da musste sie durch. Sie wollte sich ja auch gar nicht beklagen. Toni lachte bitter auf. Bei wem auch? Bei Mike etwa? Der leistete auf dem Bau tagtäglich noch mehr Knochenarbeit und gönnte sich auch keine Pause. Beide verfolgten sie verbissen das Ziel, diese Familie zusammen zu halten. Schwächeln ist nicht drin, reiß dich gefälligst zusammen, schalt Toni sich selber.

 

Sie gab sich einen Ruck, zog sich schnell um und ging hinunter, wo sie ihren Vater immer noch vor dem Fernseher sitzend vorfand. Mike hatte angerufen und ihr mitgeteilt, dass er direkt von der Arbeit aus zur Bandprobe kommen wollte. Sarah und Daniel machten Hausaufgaben in ihren Zimmern. Das hoffte Toni zumindest.

 

„Die Zwillinge sind im Bett. Ich bin dann jetzt weg“, sagte sie zu ihrem Vater, der kaum aufblickte.

 

„Gut. Haben wir neues Bier im Haus?“

 

„Ja“, seufzte Toni. Offensichtlich interessierte es ihn nicht einmal, wohin seine Tochter ging. Der Biernachschub war ihm wichtiger. Wie viele Flaschen mochte er wohl heute schon wieder intus haben? „Ich hab´ Daniel eben noch zum Kiosk geschickt.“ Es war ihr zwar sehr gegen den Strich gegangen, aber heute tendierte sie eher dazu, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.

 

Jetzt blickte ihr Vater doch auf. „Die verkaufen Daniel Bier?“, wunderte er sich.

 

„Ja, beim Kiosk an der Ecke kennen sie uns schon.“ Dass ihr diese Tatsache entsetzlich peinlich war, verschwieg Toni ihrem Vater wohlweislich. Es hätte sowieso nichts an der Situation geändert.

 

„Dann ist es ja gut.“ Axel Schiffer war zufrieden. „Bring mir nur noch schnell eine Flasche, bevor du gehst, ja?“

 

Toni tat ihrem Vater den Gefallen, doch als sie ihm die Flasche reichte, ließ sie nicht gleich los, als er danach griff. „Papa, bitte…du solltest nicht so viel trinken“, bat sie leise.

 

Herr Schiffer blickte seine Tochter traurig an. „Davon verstehst du nichts, Große. Was bleibt mir denn sonst noch?“

 

„Wir, Papa. Wir bleiben dir. Die Kleinen brauchen dich.“

 

Ihr Vater schwieg und starrte wieder auf den Fernseher.

 

„Du, im Fernsehen wird heute Abend ein klassisches Konzert übertragen. Barenboim dirigiert und …“

 

„Interessiert mich nicht“, fiel Herr Schiffer seiner Tochter schroff ins Wort. „Musst du nicht weg?“

 

„Ja“, murmelte Toni traurig und umarmte ihren Vater kurz. „Du hast recht. Ich bin eh schon wieder zu spät dran.“

 

Überraschend hielt Herr Schiffer seine Tochter am Arm zurück und sagte trotz Bierfahne sehr ernst und eindringlich. „Toni, bitte mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das. Mike und du, ihr macht eure Sache wirklich großartig. Ich weiß nicht, was ich ohne euch tun würde. Hörst du? Alles wird gut.“

 

Toni nickte und spürte einen dicken Kloß im Hals. „Ich muss los“, antwortete sie gepresst. „Gute Nacht, Papa.“

 

Doch die Aufmerksamkeit ihres Vaters war schon wieder auf den Fernseher gelenkt und sie bekam keine Antwort mehr.

 

Toni holte ihr Fahrrad aus der Garage und radelte schnell durch die Kälte zu dem Haus, in dem Paul mit seinen Eltern wohnte. Dort hatte sich die Band im Keller einen Probenraum einrichten dürfen, nachdem bei Schiffers im Haus nicht mehr musiziert werden durfte. Sie hatten Pauls Eltern zwar erklärt, das sei nur vorübergehend, aber mittlerweile war es übergangslos zum Dauerzustand geworden. Als sie total durchgefroren am Ziel ankam, warteten die anderen schon auf sie.

 

„Tut mir leid“, sagte sie anstelle einer Begrüßung, als sie den Keller betrat. Jacke, Schal und Handschuhe warf sie in eine Ecke und ging direkt rüber zu ihrem Keyboard.

 

„Schon gut“, antwortete Paul verständnisvoll.

 

„Was heißt denn hier schon gut“, moserte Dennis. „Sie kommt andauernd zu spät.“

 

Toni wandte sich hilfesuchend an ihren Bruder. „Mensch, ich musste doch erst die Kleinen ins Bett bringen.“

 

„Weiß ich doch.“ Mike nickte ihr zu und warf Dennis einen warnenden Blick zu.

 

„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen“, mischte Paul sich ein. „Dennis, hör auf damit. Lass sie in Ruhe.“

 

„War nicht so gemeint“, entschuldigte der sich halbherzig. „Ich denke nur, dass wir noch ganz schön zurückhängen. Der Gig am Wochenende – gut, den stemmen wir mit links, aber der Auftritt zum EKZ-Jubiläum rückt immer näher und wir haben noch nicht mal endgültig festgelegt, was wir spielen wollen.“

 

„Ich weiß ja“, nickte Tony. „Ich weiß…“ Was sollte sie auch sonst sagen?

 

„Wie war´s denn heute vor Gericht?“

 

Paul versuchte offensichtlich einzulenken, wofür Tony ihm wirklich dankbar war – trotzdem wiegelte sie ab. „Ach, vergiss es. Ich will nicht mehr daran denken. Lasst uns lieber anfangen, bevor ich noch im Stehen einschlafe.“ Toni blickte die anderen auffordernd an. „Also? Kommt schon, was liegt an?“

 

Es entging ihr allerdings nicht, wie Paul und Mike sich vielsagend anschauten, bevor sie an ihre Instrumente gingen.

 

7. Kapitel - Franks Clique

Nachdem Frank das Gerichtsgebäude verlassen hatte, war er langsam und bedächtig die vielen Stufen herunter geschritten und hatte erst einmal tief Luft geholt. Gott, sein Schädel brachte ihn noch um. Der kühle, neblige Novembertag verschaffte ihm wenigstens etwas Linderung. Das war allemal besser, als das schreckliche Neonlicht und die stickige Luft im Gericht. Auf dem Weg zu seinem Motorrad lachte er bitter auf. Sein Vater! Toll! So war er immer. Wenn er ihn überhaupt bemerkte, dann nur, um ihn anzumeckern. Seine Freunde durfte er schon lange nicht mehr mit nach Hause bringen. Nicht, dass die Wert darauf gelegt hätten, aber trotzdem. Sein Vater befürchtete, diese Chaoten, wie er sie nannte, würden dem Image des Hotels schaden und es in Verruf bringen. Wenn Frank ehrlich war, musste er zugeben, dass sein Vater mit dieser Vermutung vermutlich gar nicht so falsch lag. Die Leute aus seiner Clique würden tatsächlich befremdlich in dem vornehmen Ambiente des Hotels wirken. Aber schließlich hatte Frank es sich nicht ausgesucht, in so einem Umfeld leben zu müssen. Es mochte seine Vorteile haben, aber in Franks Augen überwogen die Nachteile.

 

Gut, seine Freunde sahen vielleicht anders aus, als der normale Durchschnittsbürger, doch was war schon normal? Sie kleideten sich bevorzugt in Schwarz und die meisten trugen auch ihre Haare tiefschwarz gefärbt. Zumindest, wenn gerade Geld für derlei Dinge vorhanden war. Die Mädchen schminkten sich ihre Gesichter hell und betonten Augen und Lippen dunkel. Na und? Was war schon dabei? Fast alle aus seiner Clique waren ohne festen Wohnsitz. Die meisten waren zu Hause ausgerissen und einige hatten auch schon wiederholt Ärger mit der Polizei gehabt. Frank war die Truppe am Bahnhof beim Betteln aufgefallen. Er war damals einfach neugierig gewesen und hatte sie angesprochen, obwohl er wusste, dass die meisten möglichst einen Bogen um die jungen Leute machten. Irgendwie hatte die Truppe Frank imponiert. Sie waren Lebenskünstler und sie hielten zusammen. Eine große Familie eben, auch wenn sie nicht miteinander verwandt waren. Ihr Unterschlupf war eine alte, stillgelegte Fabrik am Stadtrand. Innerhalb der Gruppe wurde alles geteilt: Lebensmittel, Alkohol, Matratzen, Decken, Zigaretten, hin und wieder auch schon mal ein Joint oder etwas Koks und manchmal sogar die Mädchen. Zugegeben, das war etwas, was Frank nicht so besonders zusagte, doch da er zurzeit sowieso ungebunden war und ihm keines der Mädchen besonders am Herzen lag, hielt er einfach den Mund und machte mit. Er achtete jedoch sehr darauf, immer ein Kondom zu verwenden. Schließlich konnte man nie wissen. Russisches Roulette war noch nie sein Ding gewesen.

 

Das nötige Kleingeld zum Überleben besorgte sich die Truppe durch das Anbetteln von Passanten in Fußgängerzonen und Einkaufszentren. Frank versuchte dabei immer im Hintergrund zu bleiben, denn das teilweise schon recht aggressive Vorgehen beim Betteln war ihm peinlich. Zudem befürchtete er dabei immer, eines Tages auf Bekannte zu treffen. Wenn beim Betteln nicht genug zusammenkam, besorgte man sich den Rest eben auf andere Art und Weise. Kleinere Einbrüche und Diebstähle waren dabei an der Tagesordnung und mittlerweile hatte Frank sich schon fast daran gewöhnt. Er versuchte sich einzureden, dass das schon in Ordnung ging, solange nur Niemand dabei zu Schaden kam. Wenn sich sein schlechtes Gewissen mal wieder meldete, tröstete er sich damit, dass immerhin niemand dem Staat auf der Tasche lag. Einen festen Job hatte keiner aus der Clique. Selbst Gelegenheitsarbeiten waren schwer zu bekommen, denn die Leute aus der Stadt hatten Angst vor ihnen. Frank hatte schon oft Geld beigesteuert, doch seitdem er nicht mehr so häufig im Hotel aushalf, hatte er auch nicht mehr so viel zur Verfügung wie früher. Der größte Teil seines Taschengeldes ging für Sprit drauf, aber wenn etwas übrig blieb, hatte er es bis jetzt immer gerne abgegeben.

 

Nachdenklich raste Frank mit seinem Motorrad durch die Straßen. Ihm war klar, dass er nun ein echtes Problem hatte. Früher hatten ihm die kriminellen Aktivitäten der Truppe nur selten etwas ausgemacht, doch in Zukunft musste er sich da unbedingt raushalten. Wenn er nicht in den Knast wollte, und das wollte er auf gar keinen Fall, würde er sich den bescheuerten Anordnungen des Richters fügen müssen. Frank hatte seine Zweifel, dass Nick dies verstehen würde. Dafür dass er dichtgehalten und Niemanden verpfiffen hatte, hingen jetzt sechs Monate Bau wie ein Damoklesschwert über ihm. Sollte der Härtefall eintreten, konnte er die Schule endgültig vergessen. Und so ungern er auch dorthin ging: Ohne Abi konnte er all seine Zukunftspläne begraben. Verdammt noch mal, auch wenn er mit Niemandem darüber sprach: Noch hatte er Pläne. Das unterschied ihn von den anderen in der Clique, die einfach nur in den Tag hinein lebten. Frank hatte zwar das unbestimmte Gefühl, dass der eine oder andere aus der Gruppe sich manchmal nach einem geregelten Leben sehnte, doch Niemand sprach solche Gedanken laut aus. Schon gar nicht vor Nick, dem unumstrittenen Anführer der Clique.

 

Nachdrückliches Hupen holte Frank abrupt aus seinen trüben Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Er hatte versehentlich eine rote Ampel überfahren und beinahe einen Unfall verursacht. Wütend gestikulierte ein Autofahrer in seine Richtung, bevor er kopfschüttelnd weiterfuhr. Erschrocken fuhr Frank an den Straßenrand und schaute sich um. Im ersten Moment hatte er nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand, doch dann stellte er fest, dass er sich, ohne es geplant zu haben, in unmittelbarer Nähe der alten Fabrik befand.

 

„Ach, Scheiße, warum eigentlich nicht“, murmelte er leise vor sich hin und gab wieder Gas, wobei er dieses Mal darauf achtete, dass er sich an die Verkehrsregeln hielt. Wenige Minuten später bockte er seine Maschine im Innenhof des alten Gebäudekomplexes, der wegen Einsturzgefahr gesperrt worden war, auf. Er nahm den Helm ab, schüttelte sich kurz und versuchte den kalten Nieselregen, der inzwischen eingesetzt hatte, aus den Knochen zu bekommen. Im Inneren des Gebäudes wurde er mit lautem Hallo empfangen.

 

„Na, Schule schon vorbei. Oder macht Mamis Liebling mal wieder blau?“ Gönnerhaft hieb Nick Frank seine Pranke auf den Rücken.

 

Als Frank sich entnervt umdrehte, registrierte er zum ersten Mal bewusst, was für harte und brutale Gesichtszüge Nick, der ihn jetzt lauernd aus schmalen Augenschlitzen heraus beobachtete, hatte.

 

„Nein, Mann“, antwortete er kurz. „Heute war meine Verhandlung. Schon vergessen?“

 

„Ups. Sag bloß, heute schon?“

 

Frank wusste nicht mehr, wie oft er in den vergangenen Wochen von diesem Termin gesprochen hatte, aber es war definitiv ziemlich oft gewesen, dessen war er sich sicher. „Ja, verdammt! Heute schon. Stell dir vor.“

 

„Und? Wie ist es gelaufen?“, erkundigte sich Nick, ohne eine Spur von Verlegenheit zu zeigen. „Hat Papis Freund dich mal wieder erfolgreich rausgeboxt?“

 

„Scheiße, nein! Hat er nicht.“ Mit knappen Worten schilderte Frank seinen Freunden das Urteil.

 

„Reg dich nicht künstlich auf! Was willst du denn? Du bist doch draußen“, folgte prompt Nicks knapper Kommentar.

 

„Hallo? Ich bin jetzt vorbestraft. Schon mal darüber nachgedacht?“

 

„Na und?“ Nick lachte laut. „Willkommen im Club.“

 

„Hey, ich finde das gar nicht so witzig. Die geringste Kleinigkeit und ich wandere für sechs beschissene Monate in den Bau.“

 

„Bei freier Kost und Logis. Es wird Winter. Was willst du mehr? Manch einer würde sich freuen. Mensch, Frank, mach dir doch keinen Kopf über ungelegte Eier.“ Nick hielt Frank einen halbgerauchten Joint hin. „Hier, nimm ein paar Züge. Dann sieht die Welt gleich wieder ganz anders aus.“

 

Frank zögerte einen Moment, doch als er die abwartenden Blicke der anderen sah, nahm er die unförmige Kippe von Nick entgegen und zog ein paar Mal kräftig.

 

„Alles klar? Na, siehst du“, sagte Nick zufrieden, legte den Arm um eines der Mädchen und hatte Frank und seine Probleme schon vergessen, als er mit dem Mädchen in einen Nebenraum verschwand.

 

Gedankenverloren hockte Frank schweigend mit den anderen im Kreis um das Feuer und zog hin und wieder an seinem Joint. Es war paradox: Je kleiner die Kippe wurde, desto kleiner schienen auch seine Probleme zu werden. Nick hatte wahrscheinlich Recht. Er machte sich einfach zu viele Gedanken. Frank entspannte sich und gab sich dem Rausch hin. Innerlich lächelte er schon wieder über all die dummen kleinen Spießer da draußen.

 

„Hey, wolltest du nicht damit aufhören?“, fragte da eine spöttische Stimme neben ihm. Trixie, eines der Mädchen aus der Gruppe, saß neben ihm und beobachtete ihn aufmerksam.

 

Frank hatte ganz am Anfang als er zu der Truppe stieß, mal was mit ihr gehabt und sie kamen immer noch gut miteinander aus. Er hatte keine Ahnung, wie alt Trixie war, vielleicht fünfzehn, höchstens sechzehn, aber man konnte sich überraschend gut mit ihr unterhalten. Sie trug immer Klamotten, die ihr mindestens drei Nummern zu groß waren und die dunkel umrandeten Augen wirkten riesig in ihrem schmalen, blassen Gesicht. Frank mochte sie. Soweit er wusste, war Trixie von zu Hause ausgerissen, weil ihr Stiefvater die Finger nicht von ihr lassen konnte. Seit etwa einem Jahr lebte sie mit den anderen auf dem Gelände. Ob es das war, was Trixie sich vom Leben erhofft hatte? Sollte das wirklich ihre Endstation sein? Komisch, dachte Frank im Stillen. Darüber haben wir nie gesprochen. Warum eigentlich nicht?

 

„Hey, ich rede mit dir.“ Trixie schnippte mit den Fingern vor Franks Gesicht. „Erde an Frank. Hörst du mich?“

 

„Entschuldigung, was hast du gesagt?“

 

Trixie blickte ihn prüfend aus matten Augen an. „Weißt du was, Frankieboy? Ich will dir jetzt mal was sagen, okay? Irgendwie passt du nicht hierher. Ehrlich, ich finde, du solltest die Kurve kratzen, solange es noch geht.“

 

„Was soll das? Willst du mich etwas loswerden?“ Frank war überrascht.

 

„Nein.“ Trixies Stimme wurde leiser, so als wolle sie vermeiden, dass die anderen etwas von ihrer Unterhaltung mitbekamen. „Keiner von den anderen käme auch nur auf die Idee, sich bei mir zu entschuldigen, nur weil er nicht zugehört hat“, stellte sie dann traurig fest und blickte Frank eindringlich ins Gesicht. „Verstehst du?“

 

„Nein. Trixie! Verdammt, was soll das? Worauf willst du hinaus?“

 

„Dass du hier nicht hergehörst, darauf will ich hinaus, du Idiot. Ich meine, was hoffst du hier zu finden?“

 

Benebelt zuckte Frank mit den Achseln und blieb ihr die Antwort schuldig.

 

„Siehst du. Wir leben im Dreck. Außer Ärger handelst du dir hier nichts ein. Was zum Teufel treibt dich immer wieder hierher? Ich meine, dir geht´s doch gut. Deine Eltern …“

 

„ … sind gottverdammte Spießer“, stieß Frank heftig hervor. „Halt dich da raus, das geht dich nichts an.“

 

„Aber sie halten zu dir“, sagte Trixie eindringlich und legte ihre Hand leicht auf Franks Unterarm „Sie lassen dich nicht hängen.“

 

Rüde schüttelte Frank Trixies Hand ab. „Klar, sie besorgen mir einen Anwalt und das Alles. Willst du wissen, warum sie das tun? Weil sie um ihr Ansehen fürchten. Und weißt du, was heute im Gericht passiert ist. Dieses Superarschloch von Anwalt hat mich volles Rohr auflaufen lassen. Wenn die Bullen mich jetzt noch einmal erwischen sollten, dann wandere ich in den Bau, so sieht´s aus. Ach ja, und die Sozialstunden, nicht zu vergessen. Jede Menge Sozialstunden übrigens. Es ist echt zum kotzen. Im Knast hätte ich wahrscheinlich mehr Freizeit." Betont cool spuckte Frank in hohem Bogen ins Feuer und genehmigte sich noch einen tiefen Zug, bevor er den Joint an Trixie weiterreichte, die ebenfalls tief inhalierte.

 

„Du wolltest doch aufhören mit den Drogen. Schon vergessen?“

 

„Klar“, grinste Frank. „Früher oder später mache ich das auch. Mensch, was ist bloß los mit dir, Trixie? Bist du neuerdings meine Amme?“

 

„Nein, ich denke nur in letzter Zeit viel nach. Glaub mir, wenn ich eine Chance für mich sähe, dann …“

 

„Jetzt hör aber auf. Wenn man dir zuhört wird man ja depressiv. Was ist? Hast du Lust? Gehen wir nach nebenan? Nach dem Scheißtag könnte ich ein bisschen Abwechslung brauchen. Ich weiß, ist schon `ne Weile her, aber…“

 

Trixie schlug Franks ausgestreckte Hand beiseite. „Du hast nichts verstanden“, zischte sie wütend. „Gar nichts! Schade, dass sie dich nicht verknackt haben. Aber mir kann´s im Grunde ja egal sein. Ob hier nun einer mehr oder weniger vor die Hunde geht, macht auch schon keinen Unterschied mehr.“ Sie stand auf und ging rüber zu den vergammelten Matratzen, die vor einer mit obszönen Graffitis besprühten Wand lagen. Sie waren und über und über voll mit Stockflecken durch die andauernde Feuchtigkeit und Trixie wusste genau, dass jede einzelne von ihnen erbärmlich stank. Doch wie schon unzählige Male zuvor schluckte sie die aufsteigende Übelkeit hinunter und rollte sich, ohne zu zögern mit dem Gesicht zur Wand in Fötusstellung zusammen.

 

„He, was ist los mit dir? Machst du jetzt einen auf Mutter Theresa, oder was?“, brüllte Frank ihr hinterher, doch er bekam keine Antwort mehr.

 

„Zickt sie wieder rum?“, erkundigte sich ein anderer aus dem Kreis. „Mann, Alter, hol sie dir doch. Du bist viel zu nachgiebig. Nick musste ihr zuletzt auch schon zeigen, wer hier das Sagen hat.“

 

Frank blickte seinen Kumpel aus trüben Augen an. Hatte er das gerade tatsächlich richtig verstanden? Nein, das konnte doch nicht sein... „Wie meinst du das?“, fragte er schleppend.

 

„Na ja, wie soll ich das schon meinen? Wir haben schließlich die stärkeren Argumente.“ Sein Kumpel fasste sich in den Schritt und lachte schallend. „In der Hose.“

 

„Scheiße!“ Frank schüttelte den Kopf. Er war zugedröhnt. Mit Sicherheit hatte er das gerade in den falschen Hals bekommen. Nick würde doch niemals … Das hatte er doch gar nicht nötig, verdammt. Andererseits … Frank nahm sich vor, Trixie bei Gelegenheit darauf anzusprechen. Auf den Schock brauchte er jetzt erstmal was Stärkeres. „Ist noch Koks da?“

 

„Nein. Aber hier, für `nen Joint wird´s noch reichen. Hier, ich hab´ genug.“

 

Ein kleines Plastikpäckchen wechselte den Besitzer. Frank stand auf und suchte sich eine freie Matratze. Mit klammen Fingern drehte er sich einen neuen Joint, zündete ihn an und streckte sich lang auf der stinkenden Matratze aus. Stoned, so fand er, war seine Lage zumindest einigermaßen erträglich. Vor seinem inneren Auge spulte er dann den vergangenen Tag Stück für Stück noch einmal ab. Seine Eltern, die wie immer zu spät kamen. Richter Dohmen, für den es offensichtlich ein riesiger Spaß gewesen war, ihm so richtig einen reinzuwürgen. Scheißkerl! Plötzlich schlich sich das rothaarige Mädchen in seine Gedanken und Frank hielt den inneren Film an. Irgendwie schien sie ihn zu verfolgen. Warum, zum Teufel? Sie war überhaupt nicht sein Typ. Harmlos und hausbacken waren Attribute, die für ihn, wenn er ein Mädchen interessant fand, nicht an vorderster Front rangierten. Und doch war sie da und setzte sich hartnäckig in seinen Gedanken fest. War sie tatsächlich so harmlos, wie sie aussah? Wenn sie nichts ausgefressen hatte, was hatte sie dann mit Becker zu schaffen? Ihr Verhandlungstermin war direkt vor seinem gewesen. Die Sache war klar. Egal, wie harmlos sie aussah, sie hatte Dreck am Stecken. Eigentlich kaum vorstellbar. Er wüsste zu gerne, um welche Art von Dreck es sich handelte. Zu schade, dass er das wohl kaum erfahren würde. Frank lächelte verträumt vor sich hin, nahm erneut einen tiefen Zug und schloss matt die Augen.

 

Falls es euch gefällt, dann dürft ihr mir nun in den 2. Thread folgen...

 

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Kommentare: 1
  • #1

    MissJenny (Montag, 13 Mai 2013 19:23)

    So - hab ich also doch noch her gefunden. Und bisher meinen Abstecher nicht bereut!!!!
    Gehn wir es mal systematisch durch. Wen haben wir denn da?
    Franky-Boy in NewYork NewYork - neee - irgendwo in Deutschland. Armes, armes Kind. Ja, teilweise mein ich das schon ernst. Kind halbwegs reicher Eltern, die aber nie für ihn Zeit - und auch kaum Verständnis - haben. Selber mit einem eher schwachen Charakter und keiner da, der ihm mal so richtig in den Hintern tritt. Papi mosert zwar, aber ich wette, wenn er sich Sohnmann mal richtig, aber liebevoll, vorfangen würde, wäre es für beide gut.
    Der Richter probierts, aber ob er wirklich weiter kommt. - Na, man wird sehen.
    Frankys Clique ist ja ein Thema für sich. Und dieser Nick - nun, dem könnt ich ohne Gewissensbisse weh tun. Ich hoffe, ja ich hoffe wirklich, dass Frank den Absprung schafft. Vielleicht sieht er ja beim Sozialdienst, dass es andere gibt, denen es wirklich, wirklich mies geht, und die sich trotzdem nicht durchhängen lassen.
    Damit bin ich auch schon bei Tony. Also das Mädel imponiert mir gewaltig!!!! Eine, dieser starken Charaktäre, wie sie in deinen Geschichten immer wieder vorkommen - und die ich so liebe.
    Man muss sich das mal vorstellen: Hält gemeinsam mit ihrem Bruder die ganze Familie zusammen, Schulkinder, behinderter Säufer als Vater, Mutter gerade verstorben und das vor dem Hintergrund, eine einstmals glücklichen liebevollen Familie!!!!
    Und schafft es trotzdem noch mehr oder weniger für ihr Hobby was zu tun. Also DIE Energie hätte ich auch gerne.
    Ihr Vater ist da schon ein anderes Kaliber. Ertrinkt in Selbstmitleid und Bier. Hallo - seinen kleinen Sohn nach Alkohol ausschicken.
    Also das ist der einzige Punkt wo ich Tony und ihren Bruder kritisieren muss (aber vielleicht ist es ja mein fortgeschrittenes Alter und meine Lebenserfahrung, die mich hier sprechen läßt).
    Daddy cool braucht kein Bier - er braucht einen Tritt in den Arsch. Einen gewaltigen. Ich würde für Paps kein Bier holen und keines holen lassen. Wenn er eines will, soll er sich auf die Räder machen und selber besorgen. Dann kommt er mal vom Fernseher weg. Wenn er dafür zu bequem ist, dann hat er nix - würde ihm jedenfalls auch nicht schaden.
    Und hallo - Die Kinder versorgen ihn???? OK - Behinderung ist schlimm, sehr schlimm - aber sein wichtigstes Werkzeug funktioniert ja noch - seine Arme und Hände.
    Da lässt er sich von seiner Tochter und seinem Sohn aushalten, auf die Kleinen schaut er auch nicht. Grrrrrrrrrrrr - du merkst schon, ich bin richtig im Saft. Nicht dass er jetzt für mich der Oberschurke in diesem Stück ist. Aber so ein richtiger Aufreg-Charakter ist er für mich schon.

    Bei Tony bin ich sicher, dass sie ihren Weg geht - wenn er auch noch so schwer ist.
    Bei Frank - hmm - ich hoffe für ihn das Beste
    Bei Daddy - wenn du ihn nicht bald aus seiner verweinten Selbstmitleidsphase rausholst, muss wohl ich ein Wörtchen mit ihm sprechen - und das wird nicht schön.

    Ach ja - was ich wirklich, wirklich noch anmerken möchte: Du schaffst es immer wieder, deine Geschichten voll aus dem Leben zu holen. Man fühlt mit deinen handelnden Personen mit, versteht sie, kann sich, selbst wenn sie unangenehme Züge haben, sehr gut in sie hineinversetzen und irgendwie habe ich gerade in dieser Geschichte wieder das Gefühl, sie könnte sich direkt vor meiner Haustür genau so abspielen.

    Das macht es so schön, deine Geschichten zu lesen. Auch wie du die Charaktäre formst. Jeder hat Ecken und Kanten, jeder kleine Rundungen, an denen man sich gerne anlehnt und jede einzelne ist liebevoll gestaltet. Da gibt es kein Husch/Wusch hingekritzelt - alle sind schön durchgeformt und auf die eine oder andere Form liebenswert (auch wenn man bei so manch einer mal mit der flachen Hand zuschlagen möchte ;-) )

    So - ich warte auf mehr. Freue mich auf den nächsten Teil - und besonders, dass es hier in den Longstorys gepostet wird. Das lässt auf ein langes, angenehmes Lesevergnügen hoffen.

    MissJenny