Mit dieser Geschichte möchte ich weder werten, noch in irgendeiner Form Partei ergreifen - ich wollte einfach nur eine Geschichte erzählen und dabei - wenn es denn irgendwie funktioniert - aufzeigen, wie immens wichtig gegenseitiger Respekt ist.
Man muss nicht den heutzutage üblichen "Küsschen rechts, Küsschen links"-Quatsch pflegen und so tun, als wäre man die besten Freunde, damit ein "Miteinander" reibungslos funktioniert. Ob eine andere Nation, eine andere Kultur, eine andere Religion oder gar eine andere Hautfarbe...ich habe für mich die Erfahrung gemacht, dass die allermeisten Menschen mit Gegenrespekt reagieren, wenn man ihnen respektvoll und tolerant begegnet.

Ehrlich, eure Meinung würde mich interessieren…

...Vater sein, dagegen sehr!

Es dunkelte bereits, während Hassan mit schweren Schritten seinem Ziel immer näher kam. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, doch er spürte nicht, wie die Feuchtigkeit sein altes, an den Ellbogen abgewetztes, Jackett durchnässte. Hassan grübelte so intensiv vor sich hin, dass er das, was um ihn herum geschah, gar nicht mehr richtig wahrnahm. Er war ein friedliebender, freundlicher Mensch und so scheute er sich vor der Auseinandersetzung, die unausweichlich gleich vor ihm lag. Seit Monaten schon setzte seine Familie ihm zu, sich endlich durchzusetzen, besonders seine Brüder lagen ihm pausenlos in den Ohren. Jetzt hatte er sich endlich durchgerungen und war auf dem Weg, um mit seiner ältesten Tochter Tülay ein ernstes Wort zu reden. Allerdings wusste Hassan, dass die Familie mehr von ihm erwartete als nur ein ernstes Wort. Es wurde von ihm erwartet, dass er Tülay dazu brachte mit ihm nach Hause zu kommen. Unwillkürlich seufzte er laut auf und ein vorbeigehender Passant schaute ihn verwundert an. Hassan bemerkte es nicht einmal.

Schließlich hatte er sein Ziel erreicht. Vor ihm lag das Studentenwohnheim. Hier lebte Tülay seit einem halben Jahr mit ihrem deutschen Freund Andreas zusammen. Hassan war natürlich dagegen gewesen, doch Tülay hatte schon immer ihren Dickkopf durchgesetzt. Sie war, genau wie ihre Schwestern, schon in Deutschland geboren und sie dachte und handelte deutsch. Hassan hatte es nicht verhindern können. Seit dem frühen Tod seiner Frau hatte ihm einfach die Zeit für die traditionelle Erziehung seiner Töchter gefehlt. Zuerst war er sogar froh darüber gewesen, dass die Mädchen so selbstständig waren – jetzt rächten sich seine Vernachlässigungen von früher. Tülay studierte nun schon im vierten Semester Medizin. Im Grunde war Hassan sehr stolz auf seine ebenso hübsche wie kluge Tochter – wenn da nicht diese unglücksselige Geschichte mit Andreas gewesen wäre. Er war im gleichen Semester wie Tülay und die beiden hatten sich stürmisch ineinander verliebt. Nach einem Riesenstreit mit ihrem Vater war sie dann schließlich mit Sack und Pack ausgezogen und seitdem hatte er seine älteste Tochter weder gesehen noch gesprochen.

Hassan las die Namen auf der langen Reihe von Klingelschildern und als er endlich „Aydin/Berger“ fand, huschte unwillkürlich die Andeutung eines kurzen Lächelns über seine Lippen. Dann holte er noch einmal tief Luft, bevor er schließlich entschlossen auf den Klingelknopf. drückte. Mit dem Aufzug fuhr er hinauf in den fünften Stock und schaute sich noch suchend in dem langen Korridor um, als ganz hinten im Gang eine Tür geöffnet wurde. Tülay trat suchend hinaus auf den Flur.

„Vater“, rief sie gleich darauf erstaunt aus. „Ist etwas passiert?“

Traurig ging Hassan langsam auf seine Tochter zu. Ihre offensichtliche Überraschung verletzte ihn. Aber Tülay hatte ja recht. Immerhin hatte er sie noch nie hier besucht.

„Ich möchte mit dir reden“, antwortete er schließlich auf türkisch.

„Ich wüsste nicht, was es zwischen uns noch zu reden gibt“, sagte Tülay kurz, gab aber die Wohnungstür frei und ließ ihren Vater eintreten.

Hassan blickte sich unverhohlen neugierig um. Er hätte nicht sagen können, was er erwartet hatte, aber er musste zugeben, dass ihm das, was er sah, gefiel. Das kleine Appartement war zweckmäßig, aber gemütlich eingerichtet. Vor dem Fenster stand ein großer, alter Schreibtisch, auf dem eine ganze Reihe medizinischer Fachbücher ausgebreitet war. In einem offenen Regal entdeckte Hassan neben einem Bild von Tülay und Andreas, auf dem sie sehr glücklich wirkten, auch eine gerahmte Fotografie ihrer drei Schwestern. Plötzlich fühlte er einen dicken Kloß im Hals. Ihn gab es hier nicht! Offenbar hatte seine Tochter ihn völlig aus ihrem Leben verbannt. Sicher, er hatte es so gewollt, ja, sogar von ihr gefordert, aber er vermisste sie jeden Tag schmerzlich und ihre Fotos waren in seiner kleinen Mietwohnung noch allgegenwärtig.

„Also? – Was willst du hier? – Du kannst dich übrigens auch setzen.“ Tülay deutete auf ein altes abgewetztes Sofa mit einem bunten Überwurf, das in einer Ecke des Raumes stand.

„Nein, lieber nicht, ich...“

Tülay lachte kurz und bitter auf. „Das dachte ich mir. – Also? Ich höre. Sag, was du zu sagen hast.“

„Bist du allein?“ Hassan setzte sich nun doch auf die Sofakante und legte seine Hände auf den Knien ab. Suchend blickte er sich um.

„Lass es, Vater. Ich bin allein. Andreas ist in der Bibliothek.“ Tülays sprach jetzt auch türkisch.

Wieder einmal fiel Hassan auf, dass seine Tochter ihre Landessprache nur mit einem starken Akzent sprach.

„Warum fragst du? Willst du vielleicht deine entehrte Tochter nach Hause entführen?“

„Sprich nicht so mit deinem Vater! – Sprich nicht so über dich!“ Empört blickte Hassan auf. Dann seufzte er tief; dieses Gespräch drohte schon von Anfang an, schief zu laufen. „Wir sollten vernünftig miteinander reden.“

„Und wozu soll das führen? Das haben wir doch alles schon x-Mal durchgekaut.“

„Aber du macht deiner Familie Schande, das weißt du! Alle zeigen schon mit dem Finger auf uns! Und in der Moschee reden die Männer schlecht über dich! Sie sagen…nun, ich schätze, du weißt, was sie sagen. Stört dich das denn gar nicht?“

„Vater, gib es auf. Es hat keinen Sinn. Du warst es doch, der gesagt hat, wenn ich ginge, wäre ich für die Familie gestorben. Also komm mir jetzt bitte nicht so.“

„Du kennst die Bräuche!“ Hassan sprach jetzt lauter. „Du hast keine Wahl!“

„Und ob ich die habe! Vater, die Bräuche sind mir egal, kannst du das denn nicht akzeptieren? Ich liebe Andreas! Hast du eigentlich jemals darüber nachgedacht, ob ich glücklich bin? Zählt das denn gar nichts?“

Hassan schwieg und starrte auf den Boden.

„Nein? Das dachte ich mir. Nun, falls es dich interessiert: Ich bin glücklich und damit du es gleich weißt: Ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt.“ Tülay beobachtete ihren Vater bei diesen Worten genau. Sie wusste, wie sehr ihn diese Mitteilung treffen musste. Er war ein stolzer Mann; einfach, aber stolz. Sie wusste, dass er seine Töchter liebte, aber er hing eben auch an den Traditionen. Er war nun seit über 30 Jahren in Deutschland, aber es käme für ihn nie in Frage, seine Herkunft zu verleugnen.

Hassan erhob sich müde und schwerfällig von der Couch und warf seiner Tochter einen langen traurigen Blick zu. Ihre dunklen Augen blitzten wütend. Wie oft hatte er diesen Blick schon an ihr gesehen? Schon als kleines Mädchen hatte sie diesen Blick eingesetzt, wenn sie unbedingt ihren Willen durchsetzen wollte. Und wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte, warf sie jetzt stolz ihre üppige dunkle Lockenpracht in den Nacken. „Was ist? Du sagst ja gar nichts? – Bin ich nun endgültig gestorben für dich?“

Hassan schüttelte traurig mit dem Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort die kleine Wohnung. Im Flur begegnete er einem jungen Mann, der ihn neugierig musterte, als er an ihm vorüberging. Hassan schaute nicht auf. Tief in Gedanken versunken stieg er in den Aufzug und trat kurz darauf wieder auf die Straße hinaus. Zu Fuß machte er sich auf den langen Weg nach Hause. Er brauchte jetzt ein wenig frische Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wut, Enttäuschung, aber auch Trauer krampften sein Herz zusammen und machten ihn zu einem unglücklichen Mann. Zudem hatte er noch keine Ahnung, wie er diese Neuigkeiten seinen Brüdern beibringen sollte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie reagieren würden. Im Stillen betete er, dass Tülay mit ihrer Entscheidung kein Unglück heraufbeschwor.

Der Regen hatte aufgehört, doch es war empfindlich kalt geworden. Hassan war schon ein gutes Stück gegangen, als er zu frösteln begann und seine Hände tief in die Tasche seines dünnen Jacketts grub. Abrupt blieb er stehen und stutzte. Ausgiebig durchsuchte er sämtliche Taschen und stellte dann bekümmert fest, dass er seinen Schlüssel anscheinend in Tülays Wohnung verloren hatte. Er musste ihm aus der Tasche gerutscht sein, als er sich auf das Sofa gesetzt hatte. Fluchen lag ihm nicht, doch er ärgerte sich maßlos – zur Abwechslung einmal über sich selber. Jetzt durfte er noch einmal den ganzen Weg zurück und musste dann wie ein Bittsteller erneut vor seine Tochter treten. Wenn das nicht ärgerlich war!

Schon von weitem sah er das unruhig rot flackernde Licht am Abendhimmel. Beunruhigt ging Hassan automatisch schneller. Irgendetwas sagte ihm, dass er sich beeilen sollte und so rannte er förmlich um die letzte Straßenecke und stand schließlich schwer atmend und fassungslos vor der Katastrophe: Das Studentenwohnheim, in dem seine Tochter wohnte, stand lichterloh in Flammen. Aus der Ferne hörte man schon die Sirenen der Feuerwehr, die mit jeder Sekunde lauter wurden. Hassan stieß heiser einen entsetzten Schrei aus und stürmte näher auf das Gebäude zu. Die große Hitze nahm ihm fast die Luft zum atmen. Völlig außer sich vor Sorge beobachtete er, wie eine Menge junger Menschen aus dem Haus ins Freie stürzen, doch so sehr er auch suchte: Seine Tochter konnte er unter den Flüchtenden nicht entdecken. Das Chaos auf der Straße wurde indes immer größer. Tülay! Wo war seine Tülay?

„Nein!“ Ein heiserer Schrei verließ Hassans Kehle. Das konnte – das durfte einfach nicht sein!

Hassan überlegte nicht lange und rannte blindlings in das brennende Haus hinein. Im Rennen schüttelte er brüsk einige Hände ab, die versuchten ihn aufzuhalten. Verstanden die Leute denn nicht, dass er nach seiner Tochter suchen musste? Er musste sie unbedingt finden! Warum kam sie ihm nicht mit den anderen jungen Leuten entgegen? Sie war doch zu Hause gewesen!

Natürlich wusste Hassan, dass man einen Aufzug im Brandfall nicht mehr benutzen sollte, doch in seiner Panik hatte er es glatt vergessen und stieg zunächst einmal dort ein – nur um gleich darauf festzustellen, dass er nicht mehr funktionierte. Als er sich hustend auf den Weg zum Treppenhaus machte, rutschte ihm nun doch ein leiser Fluch in seiner Landessprache über die Lippen. Immer noch strömten Menschen die Treppenstufen herunter und für Hassan war es zunächst gar nicht so einfach, sich mühsam Treppe für Treppe nach oben in die oberen Stockwerke zu kämpfen. Am Rande stellte er fest, dass ihm immer weniger Leute begegneten, je höher er kam. Doch das machte seinen beschwerlichen Weg nicht einfacher. Seine Augen tränten und der beißende Qualm schien seine Lungen sprengen zu wollen. Sein Innerstes zog sich schmerzhaft zusammen und er wusste nicht, ob es die Angst oder die schier übermenschliche Anstrengung war. Endlich hatte er den fünften Stock erreicht. Er war inzwischen kaum mehr in der Lage, aufrecht zu gehen. Der Hustenreiz wurde immer schlimmer und verzweifelt rang er nach Luft. Der lange, schmale Flur lag in dichtem Nebel gehüllt vor ihm und Hassan hatte das Gefühl, keinen Meter mehr gehen zu können. Er war nicht mehr der Jüngste und es schien, als wollten seine Beine ihm den Dienst versagen. Zitternd lehnte er sich an die Wand und knickte keuchend mit dem Oberkörper nach vorne ab. Wenn doch nur seine Lungen nicht so schmerzen würden…und seine Luftröhre…und…
Plötzlich glaubte er undeutliche Hilferufe vom Ende des Ganges zu hören. Verzweifelt versuchte Hassan, sich in dem dichten Rauch zu orientieren. Um ihn herum knackte und prasselte das brennende Holz und von den Decken krachten die ersten Balken herunter. Es war so entsetzlich laut. Sollte er sich geirrt haben? Hatten seine Ohren ihm einen bösen Streich gespielt? Ja, bestimmt war es so!

„Hilfe! So helft uns doch jemand! Hierher!“

Ganz deutlich drang nun eine Männerstimme an Hassans Ohr. Und sie kam eindeutig aus Tülays Wohnung! Mit dem Mut der Verzweiflung warf sich Hassan mit der Schulter gegen die geschlossene Tür, unter der schon die Flammen gierig hervorzüngelten. Die alten Holzdielen brannten wie Zunder. Bald würde das ganze Gebäude wie ein Kartenhaus einstürzen. Hassan kannte die Anzeichen – er hatte solche Feuer in der Türkei erlebt und wusste, die Zeit rannte ihm davon! Das Gebäude war alt und wahrscheinlich hatte man hier auch noch Materialien verbaut, die nun giftige Dämpfe freisetzten. Ganz sicher sogar. Dort drüben in der Ecke war gut zu erkennen, wie sich die in den 70-er Jahre modern gewesenen Styropor-Deckenplatten zusammenzogen und tropfend auflösten. Nur diese dumme Tür wollte einfach nicht nachgeben. Sie ächzte und stöhnte zwar, als Hassan sich dagegen warf, doch sie hielt stand. Es kostete den verzweifelten Vater noch 3 weitere Attacken, bevor sie endlich nachgab und ihn taumelnd in das Zimmer stürzen ließ. Der dichte Tränenschleier vor seinen Augen machte es Hassan fast unmöglich sich zurechtzufinden.

„Tülay?“ Hassan hielt sich den einen Arm vor Mund und Nase und ein neuerlicher Hustenanfall ließ ihn sich zusammenkrümmen.

„Hier drüben“, erklang es undeutlich durch das laute Geprassel an seine Ohren und Hassan schöpfte wieder Hoffnung.

Dort! Schemenhaft erkannte er im hinteren Teil des Raumes einen jungen Mann, der verzweifelt an einem anderen Körper zerrte: Tülay! Hassan stürzte hinzu. Für einen kurzen Augenblick trafen sich die Blicke der beiden Männer, dann packte Hassan Tülay, die offensichtlich bewusstlos war, wortlos an den Beinen und Andreas hob sie unter den Achseln an. Beide Männer mussten für den beschwerlichen Rückweg durch die Feuerhölle ihre letzten Kraftreserven mobilisieren.

Taumelnd stolperten sie schließlich mit ihrer schweren Last ins Freie. Sofort rannten einige Feuerwehrleute auf sie zu und versorgten sie mit Sauerstoff. Tülay wurde auf eine Bahre gebettet und zu einem der bereitstehenden Notarztwagen gebracht, wo sich sofort ein Arzt um sie kümmerte. Hassan nahm nur noch nebulös wahr, was um ihn herum geschah: Die Feuerwehrmänner, die alle Mühe damit hatten, dass sich das Feuer nicht auf die angrenzenden Gebäude ausbreitete. Die Ärzte, die sich um die Verletzten kümmerten und die Polizei, die die Schaulustigen in ihre Grenzen wies. Er spürte nicht mehr den stechenden Schmerz, der sich bei jedem Atemzug in seinen Lungen breitmachte. Er wusste nicht einmal genau, ob er verletzt war. Die Sorge um seine Tochter raubte ihm schier den Verstand. Ein Polizist packte Hassan vorsichtig am Arm und sagte etwas zu ihm, doch er schüttelte die Hand grob ab und ging leicht taumelnd hinüber zum Notarztwagen, wo Tülay immer noch ärztlich versorgt wurde. Er registrierte nicht, dass der Polizist ihm folgte.

„Wie geht es ihr?“ Die Angst schnürte Hassan die Kehle zu.

„Sind sie ein Verwandter?“, erkundigte sich der Notarzt.

„Oh ja, er ist ihr Vater.“ Andreas´ Stimme klang scharf und voller Hass als er an Hassans Stelle antwortete. Dann fügte er bissig hinzu: „Und? Sind Sie nun zufrieden? Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!“

Hassans Herz setzte einen Schlag lang aus, als er den tieferen Sinn der Worte verstand. Ungläubig blickte er Andreas an. Das konnte der junge Mann doch unmöglich ernst gemeint haben. Langsam und mit Tränen in den Augen schüttelte Hassan den Kopf.

„Ach, hören Sie doch auf!“, brüllte Andreas wütend. „Sie waren doch eben noch bei ihr! Als ich heimkam bin ich Ihnen im Flur begegnet, erinnern Sie sich? Und Tülay war völlig verzweifelt und weinte, als ich in die Wohnung kam.“

„Aber…aber ich habe nichts getan“, antwortete Hassan tonlos.

Unvermittelt ging Andreas auf Hassan los. Der torkelte ein paar Schritte zurück, als ihm der junge Mann ein paar Mal heftig mit den Fäusten vor die Brust stieß. Doch er wehrte sich nicht. Er konnte es einfach nicht! Erschüttert bis ins Mark empfing er nur stumm die Schläge und konnte nicht glauben, was da gerade geschah. Immer wieder irrte sein Blick hilfesuchend zwischen der Trage, auf der seine älteste Tochter lag, ihrem wütenden Freund und dem Polizisten hin und her.

„Glauben Sie ihm kein Wort!“ Andreas war nun völlig außer sich. „Seitdem wir zusammengezogen sind, hat sie permanent Angst, dass etwas passiert! Jetzt tauchen Sie auf und plötzlich brennt es. Zufall? Ist ja lachhaft!“ Sein hysterisches Lachen klang eher wie ein heiseres Kreischen. Andreas konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Fassungslos stand Hassan schweigend vor dem Freund seiner Tochter. Es war gespenstisch.

„Es reicht! Kommen Sie.“ Der Polizist, der Hassan eben noch hatte aufhalten wollen, war herangekommen und fasste nun Andreas hart am Arm. „Sie wissen ja nicht mehr was Sie sagen. Beruhigen Sie sich, sonst kommen Sie mit aufs Revier.“

„Loslassen! Ich will mich nicht beruhigen! Den da sollten Sie besser mitnehmen! Diesen verdammten Brandstifter!“

„Schluss jetzt!“ Der Polizist winkte einen jungen Kollegen heran. „Hier, bring ihn aufs Revier. Wenn er sich beruhigt hat, kann er ja meinetwegen eine Anzeige machen.“

„Das werde ich! Darauf können Sie sich verlassen!“ Wutschnaubend stieg Andreas in den Streifenwagen. Hassan konnte seine hasserfüllten Blicke noch auf sich spüren, als der Wagen schon längst um die Ecke gebogen und nicht mehr zu sehen war.

„Sie kommen besser auch mit aufs Revier“, wandte sich der Polizist nun Hassan zu. „Aber machen Sie sich keine Sorgen. Das ist eine reine Routinemaßnahme.“

Hassan schüttelte bestimmt den Kopf. „Nein! Tochter verletzt. Ich müssen ins Hospital. Morgen! Morgen ich kommen dann vorbei.“

„Das geht nicht“, wehrte der Polizist ab. „Verstehen Sie, nach dieser Anschuldigung müssen wir...“

„Wir fahren jetzt“, meldete sich der Notarzt zu Wort und der Polizist bemerkte Hassans flehende Blicke. Irgendetwas in Hassans Augen rührte ihn zutiefst an und er gab nach.

„Okay, einverstanden. Sie können Ihre Tochter in die Klink begleiten. Aber ich werde mitkommen. – Kommen Sie, wir nehmen meinen Wagen und fahren hinterher.“

Zögernd folgte Hassan dem Polizisten und stieg in den Wagen. Während der ganzen Fahrt sprach er kein Wort. Zitternd lagen seine Hände zu Fäusten geballt in seinem Schoß und er starrte nur stumm durch die Windschutzscheibe nach draußen auf die Straße.

„Ich habe auch eine Tochter in dem Alter“, sagte der freundliche Polizist. „Ich kann verstehen, wie Sie sich jetzt fühlen müssen. Glauben Sie mir. Aber ihre Tochter ist in guten Händen. Das wird schon wieder.“

Hassan nickte nur stumm.

In der Notaufnahme des Krankenhauses liefen Ärzte und Schwestern hektisch durcheinander und kümmerten sich um die Patienten, die teilweise noch auf Bahren auf dem Flur standen. Tülay wurde direkt in eines der Behandlungszimmer gebracht und eine gestresste Krankenschwester bat Hassan, draußen zu warten. Zusammengesunken wie ein Häufchen Elend hockte er auf der Kante eines der hässlichen, orangefarbenen Plastikstühle im Warteraum. Nachdem der Polizist noch ein-, zweimal versucht hatte, Hassan zum Reden zu bewegen, sah er schließlich ein, dass das im Moment zu Nichts führte. Still stellte er sich daher hinter Hassan und beobachtete voller Mitleid wie der Mann litt. Er bot ein Bild des Jammers. Seine Arme baumelten schlaff am Körper herunter und den Kopf hielt er schräg zur Seite geneigt. Es sah fast so aus, als schliefe er, doch der Polizist wusste genau, dass das nicht der Fall war. Hassan war am Ende. Er besaß noch nicht einmal mehr die Kraft sich gegen die eben von dem aufgebrachten jungen Mann an der Brandstelle geäußerten Beschuldigungen zu wehren. Die Sorge um seine Tochter überlagerte im Augenblick alles andere.

„Herr Aydin?“

Angstvoll hob Hassan den Kopf und schaute auf den Arzt, der vor ihm stehengeblieben war.

„Können Sie mich verstehen?“

Hassan nickte nur. Er brachte keinen Ton heraus. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

„Gut. Ihrer Tochter geht es den Umständen entsprechend gut. Sie hat eine leichte Rauchvergiftung, eine Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Knöchel. Sie wird einige Tage hierbleiben müssen, aber das wird schon wieder. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“

Hassans Augen leuchteten auf und unwillkürlich straffte sich sein Körper. „Kann ich zu ihr – sie besuchen?“

„Noch nicht, sie wird gerade in den OP gebracht. Der Knöchel muss versorgt werden.“

Hassan sprang auf und griff nach der Hand des Arztes. „Danke. – Ich danken Ihnen so sehr!“

Der Arzt lächelte: „Keine Ursache. Morgen können Sie ihre Tochter dann besuchen.“

„Ja. Ja, danke. Ich werden bestimmt kommen. Ich…“

„Natürlich. – Bitte entschuldigen Sie mich jetzt. Ich habe noch viel zu tun.“

Unendlich erleichtert drehte sich Hassan zu dem Polizisten um: „Jetzt ich kann mitkommen.“

Der Beamte nickte zustimmend: „Gut, fahren wir.“ Auch er wirkte erleichtert.

Auf dem Revier erwartete die beiden Männer eine Überraschung. Der Beamte, der Andreas mitgenommen hatte, kam direkt auf sie zu. „Die Situation hat sich geändert. Die Spurensicherung hat es zwar noch nicht bestätigt, aber so wie die Sache im Moment aussieht war ein Kurzschluss im Hauptsicherungskasten die Ursache für das Feuer.“

Die für einen Augenblick lang besorgte Miene seines Kollegen hellte sich sofort wieder auf und er sagte zu Hassan: „Sehen Sie, so schnell wendet sich das Blatt. Ich nehme nur noch Ihre Personalien auf – für alle Fälle sozusagen.“

Hassan lächelte andeutungsweise: „Ich verstehen.“

Der Polizist zögerte: „Herr Aydin?“

„Ja?“

„Ich möchte, dass Sie eines wissen: Ich habe nicht wirklich daran geglaubt, dass Sie mit dem Brand etwas zu tun haben. Aber nachdem, was der Freund ihrer Tochter gesagt hat, musste ich leider so handeln..“

„Schon gut.“ Hassan nahm seinen Ausweis wieder entgegen und steckte ihn in seine Brieftasche. „Ich gehen jetzt. In Ordnung?

„Sicher. Und alles Gute für Ihre Tochter.“

Hassan trat hinaus in die kühle Herbstluft und atmete zweimal tief durch. Seine Lungen schmerzten immer noch bei jedem Atemzug und doch fühlte er sich wie neugeboren. Sein Herz lachte wieder und alles Unglück war mit einem Mal verschwunden. Der Morgen dämmerte bereits heran und plötzlich merkte er, wie müde und kaputt er war. Gut, dass er an diesem Wochenende frei hatte. Eine anstrengende Schicht hätte er in diesem Zustand wahrscheinlich nicht bewältigen können. Doch jetzt musste er erst einmal seine anderen Töchter informieren. Die machten sich bestimmt schon Sorgen. Hassan beschloss, das sofort zu erledigen und steuerte auf eine Telefonzelle vor dem Revier zu. Schnell erledigte er den längst überfälligen Anruf. Zufrieden hängte er kurz darauf ein, öffnete noch ganz in Gedanken die Tür der Zelle – und sah sich plötzlich unvermittelt Andreas gegenüber. Hassan hielt erschrocken mitten in der Bewegung inne. Nicht schon wieder! Doch merkwürdigerweise wirkte sein Gegenüber gar nicht mehr wütend.

„Hören Sie, Herr Aydin“, begann Andreas zerknirscht, hielt jedoch den forschenden Blicken Hassans stand. „Ich…ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Im Eifer des Gefechts habe ich da wohl ein paar Sachen gesagt, die...na ja...ich...es tut mir auf jeden Fall sehr leid. Bitte verzeihen Sie mir.“ Er hielt Hassan die ausgestreckte Hand hin.

Hassan blickte den Freund seiner Tochter nur schweigend an.

„Du meine Güte“, redete Andreas weiter. „Ehrlich, ich weiß gar nicht wie ich auf so einen Schwachsinn kommen konnte. Das muss der Stress gewesen sein. Und die Angst um Tülay. Sehen Sie, ich war unter der Dusche, als es anfing zu brennen. Zuerst habe ich gar nichts davon mitbekommen weil im Bad das Radio lief. Ich nehme an, Tülay ist in ihrer Panik einfach ausgerutscht, hingefallen und hat sich dabei den Kopf angeschlagen. Als ich sie dann so bewusstlos auf dem Boden fand und es schon überall brannte…dann waren plötzlich Sie wieder da…na ja, da sind bei mir alle Sicherungen ausgerastet. Es war auf jeden Fall ganz schön dumm von mir. “

„Das war es“, stimmte Hassan jetzt mit fester Stimme und einem Kopfnicken zu.

„Tja...“ Andreas wusste offenbar nicht so recht, wie es weitergehen sollte, registrierte Hassan mit einer gewissen Genugtuung. Er gab sich einen Ruck.

„Herr Andreas...Entschuldigung, ich haben Ihren zweiten Namen vergessen...“

„Oh, Andreas geht schon in Ordnung.“

Hassan lächelte. „Bitte, kommen Sie morgen mit Tülay besuchen in Klinik, in Ordnung? Ja?“

„Was? Wir beide?“

„Ja, wir beide! Keine gute Idee?“

„Doch, doch, eine prima Idee.“ Andreas lächelte nun auch. „Ich schätze, Tülay wird ganz schön staunen, wenn wir beide da zusammen aufkreuzen.“

„Das macht nichts. Mir nicht.“

„Und mir erst recht nicht. – Ich werde Sie abholen, okay? – So gegen drei Uhr?“

Hassan nickte zustimmend. Mit einem festen Händedruck verabschiedeten sich die rußverschmierten Männer voneinander. Der erste Schritt, der ja bekanntlich immer der schwierigste ist, war getan. Beide gingen mit dem guten Gefühl auseinander, dass der Rest sich nun von selber ergeben würde.