Ein Fehler und seine Folgen

   Es klingelte und die Schüler der 12 b atmeten erleichtert auf. „Nichts wie raus hier“, dachte sich auch Marcus, als die vor ihm sitzende Nicole sich zu ihm umdrehte.

   „Hey, bevor ich es vergesse: Ich soll dir von meinem Vater ausrichten, dass sich das mit dem Rasenmähen erledigt hat. Du brauchst nicht mehr vorbeizukommen. Er wird endlich einen richtigen Gärtner einstellen.“

   Marcus sah seine hübsche Klassenkameradin nach dieser Eröffnung entsetzt an: „Aber warum denn?“, fragte er ungläubig. Ist er denn nicht zufrieden mit meiner Arbeit? Er hat nie was gesagt.“

   Nicole zuckte lässig mit den Schultern: „Keine Ahnung. Aber sei doch froh. So brauchst du dir wenigstens deine wissenschaftlichen Hände nicht mehr dreckig zu machen“, setzte sie dann noch spöttisch in Anspielung auf Marcus´ naturwissenschaftliche Ader hinzu. „Hey, so wartet doch auf mich!“ Eilig spurtete Nicole ihren Freunden hinterher, die bereits auf dem Weg nach draußen waren. Dass ihr dabei ein Umschlag aus dem Rucksack gerutscht und unter Marcus´ Tisch gefallen war, bemerkte sie in ihrer Eile nicht.

   „Na toll“, murmelte Marcus ärgerlich vor sich hin, während er sich instinktiv nach dem Umschlag bückte. Als er sich wieder aufrichtete, bekam er gerade noch mit, wie Nicole mit einer geübten Kopfbewegung ihre schulterlangen blonden Haare in den Nacken warf und gemeinsam mit ihrer Clique lachend den Raum verließ. Achselzuckend steckte Marcus den Brief ein. Hinterherlaufen würde er dieser oberflächlichen Kuh ganz sicher nicht. Den Brief konnte er ihr schließlich auch später noch geben.

 

   Als Marcus nach Hause kam, herrschte dort eine ziemlich gedrückte Stimmung. Wie so oft, seitdem sein Vater arbeitslos geworden war. Das, was seine Mutter stundenweise durch Putzen dazuverdiente, reichte zusammen mit dem Arbeitslosengeld vorne und hinten nicht. Mit seinen vierundfünfzig Jahren würde sein Vater es schwer haben, eine neue Arbeit zu finden, das war Marcus völlig klar. Nicht mehr lange und er würde Hartz IV beantragen müssen. Dann würden sie noch weniger Geld zur Verfügung haben. Und jetzt konnte er seinen kleinen Nebenverdienst auch noch in den Wind schießen. Echt super! Wahrscheinlich konnte er sogar das Abi vergessen und sich nach einer Lehrstelle umsehen – auch wenn seine Eltern davon vorläufig noch nichts hören wollten.

   Deprimiert schaufelte Marcus sein Essen in sich hinein und verzog sich dann in sein zwar kleines, aber sehr gemütliches Zimmer. Sein ganz privates Refugium! Seine Mutter hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, hier zu staubsaugen. Überall – selbst auf dem Boden – standen Marcus´ irrwitzige elektronische Basteleien herum. Er hatte sogar schon einmal einen Preis damit gewonnen, doch er machte sich nichts vor. Nützen würde ihm das rein gar nichts, wenn er nicht mit einem Studium seine Talente würde ausbauen und erweitern können. Studium…der Jugendliche lächelte bitter vor sich hin. Es schien als sei sein Traum in unerreichbare Ferne gerückt und mit jedem Tag mehr wurde er noch einen Tick unerreichbarer. Marcus seufzte und schleuderte seinen Rucksack achtlos in eine Ecke, bevor er sich auf sein Bett warf, die Hände hinter dem Kopf verschränkte und die Decke anstarrte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie seine Familie aus dieser prekären Lage wieder herauskommen sollte.

   Aber alles Grübeln brachte ihn auch nicht weiter. Besser er machte seine Hausaufgaben. So bewahrte er sich wenigstens sein gutes Zeugnis. Konnte ja sein, dass er das bald dringend brauchte – für die Bewerbungsschreiben als…ja, als was eigentlich? Mechatroniker vielleicht? Abermals lachte Marcus bitter auf. Hatte immerhin auch etwas mit Elektronik zu tun, oder? War zwar sicher nicht ganz das, was er sich erträumt hatte, aber es war immerhin ein ehrbarer Beruf.

Der Briefumschlag fiel Marcus vor die Füße, als er sein Physikheft öffnete. Großer Gott, den hatte er ja völlig vergessen! Irgendwie sah das Ding wichtig aus. Marcus studierte den Stempel und plötzlich wurde ihm klar, was er da in den Händen hielt. Das war ein blauer Brief! Einer von der Sorte Briefen, die man bekommt, wenn die Versetzung gefährdet ist. Nicole musste ihn abgefangen haben, denn er war eindeutig an ihre Eltern adressiert. Wahrscheinlich war sie deshalb am Morgen so spät zum Unterricht erschienen. Von wegen Arzttermin. Marcus überlegte nicht lange – der Umschlag war ja sowieso schon offen. Gleich darauf pfiff er leise durch die Zähne. „Sieh mal einer an“, sagte er zu sich selbst. „Mathe, Englisch und Physik. Das ist allerdings heftig. Wer hätte das gedacht?“ Sinnierend starrte Marcus auf den Brief. Und plötzlich war der Gedanke geboren. Er war einfach da – in seinem Gehirn und setzte sich dort fest. Es musste Nicole doch etwas wert sein, wenn er dichthielt. Marcus hatte mitbekommen, dass seine Klassenkameradin über ein eigenes Konto und sogar über eine Kreditkarte verfügen durfte. Die Mädels unterhielten sich oft genug darüber. Ohne lange darüber nachzudenken, sprang er auf und griff sich seine Jacke. Jetzt hieß es schnell handeln, bevor ihn der Mut wieder verließ.

   „Bin gleich wieder da“, rief er seinen Eltern zu und machte sich dann auf die Suche nach einer funktionierenden Telefonzelle. Das was er vorhatte, konnte er von zu Hause aus unmöglich erledigen – nicht auszudenken, wenn seine Eltern mitbekämen, was er plante. Und sein Handyguthaben war bereits seit einigen Tagen mal wieder erschöpft.

 

   Auch am nächsten Morgen erschien Nicole nicht pünktlich zum Unterricht, wie Marcus mit stiller Genugtuung feststellte. Er lächelte in sich hinein. Mit seinem gestrigen Anruf hatte er seine Klassenkameradin ganz schön erschreckt. Jetzt hatte sie sicher einiges zu organisieren. Nur gut, dass er im letzten Augenblick noch daran gedacht hatte ein Taschentuch vor die Sprechmuschel zu halten. Nicht auszudenken, wenn Nicole ihn durch so ein blödes Versäumnis an der Stimme erkannt hätte. Aber nun würde er heute Abend um € 3.000,00 reicher sein. Seine nagenden Gewissensbisse beruhigte er mit dem Gedanken, dass es ja schließlich keinen Armen traf. 

   „Hey, was grinst du denn so blöde?“, flüsterte Jan, sein Banknachbar und Freund ihm zu. „Hast du im Lotto gewonnen?“

   „So ähnlich“, flüsterte Marcus zurück. „Achtung, die Berger kommt.“

   Mit einem ungewöhnlich ernsten Gesicht trat die Lehrerin vor die Klasse: „Ich muss euch eine traurige Mitteilung machen“, begann sie ohne lange Einleitung. „Sicherlich ist es euch schon aufgefallen, dass Nicole heute fehlt. Sie hatte einen Unfall – und genau darüber möchte ich heute mit euch reden.“

   „Was ist denn passiert, um Gottes willen“, fragte eine von Nicoles Freundinnen.

   „Nicole wäre in der letzten Nacht fast im Swimming-Pool ihrer Eltern ertrunken. Nur, weil ihre Mutter zufällig aus dem Fenster schaute, konnte sie rechtzeitig gerettet werden.“

   „Und was wollen Sie uns damit sagen“, fragte Bernd, der Anführer der Neureichen-Clique, lapidar. „Dass wir nachts nicht alleine schwimmen gehen sollten? Ist doch wohl ein Witz, oder?“

   „Ihr solltet zumindest nicht betrunken schwimmen gehen. Außerdem hatte Nicole wohl zusätzlich noch Beruhigungsmittel eingenommen. Ein beinahe tödlicher Leichtsinn.“

   Die letzten Worte seiner Lehrerin hatte Marcus nur wie aus weiter Ferne kommend wahrgenommen. Verdammt! Ihm wurde schlecht, als ihm klar wurde, dass Nicole womöglich gar nicht leichtsinnig, sondern im Gegenteil, völlig bewusst gehandelt hatte. In der Klasse redeen jetzt alle durcheinander und so fiel es niemandem auf, dass Marcus mit einem Mal leichenblass geworden war. Er musste so schnell wie möglich hier raus! Entschlossen stand er auf. „Frau Berger, dürfte ich wohl bitte gehen? Ich ... ich hab´ anscheinend was mit dem Magen. Mir ist schon den ganzen Morgen schlecht.“

   Er durfte und stand kurz darauf völlig verwirrt auf der Straße. Und wie weiter? Was konnte, was sollte er nun unternehmen? In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Irgendetwas musste er doch tun. Völlig kopflos rannte Marcus los, ohne ein Ziel zu haben. Es fiel ihm schwer, klar zu denken. Völlig außer Atem blieb er schließlich stehen und blickte sich um. Zu seiner Überraschung war er ganz in der Nähe des Krankenhauses. Urplötzlich war alles klar. Ja, ganz plötzlich wusste er genau, was zu tun war.

        

Nachdem man Marcus am Empfang die Zimmernummer seiner „Schwester“ genannt hatte, suchte er das Zimmer, holte noch einmal tief Luft und klopfte an, doch er bekam keine Antwort. Oh nein, so ließ er sich nicht abspeisen. Jetzt war er einmal hier, jetzt würde er die Sache auch zu Ende bringen, das war er sich und seinem Gewissen schuldig. Leise öffnete Marcus die Tür einen Spalt und schlüpfte ins Zimmer. Gott sei Dank, Nicole war allein. Erstaunt blickte sie ihren Klassenkameraden an.

   „Du? Dass sie so schnell jemanden schicken würden, hatte ich nicht erwartet. Aber wieso ausgerechnet dich?“ Ihre Stimme klang sehr müde und matt.

   „Irrtum. Niemand hat mich geschickt“, fing Marcus an und stockte. Verflixt, war das schwer. Und die Tatsache, dass Nicole ihn beinahe teilnahmslos musterte, machte es ihm nicht gerade leichter. Wie sollte er ihr bloß beibringen, was er zu sagen hatte. „Ich bin freiwillig hier“, erklärte er schließlich wenig aufschlussreich.

   „Freiwillig – toll“, antwortete Nicole ohne große Begeisterung. „Und was willst du … so ganz freiwillig hier?“

   Marcus schwieg und blieb unentschlossen neben der Tür stehen.

   „Nun sag schon. Die Frage musst du dir schon gefallen lassen – schließlich sind wir nicht gerade die dicksten Freunde, oder?“

   „Nein, sind wir nicht“, murmelte Marcus und wagte sich nun Schritt für Schritt näher an Nicoles Bett heran. Sie sah so elend aus. Dicke, dunkle Ränder um die Augen ließen sie noch blasser erscheinen, als sie es sowieso von Natur aus schon war.

   „Was? Was ist los, Marcus? Willst du dich etwa nur an meinem Anblick ergötzen? Sieht dir eigentlich gar nicht ähnlich.“

   „Nein, ich ... wie geht es dir?“ Großer Gott, etwas Blöderes konnte ihm wohl nicht einfallen.

   Nicole starrte ihn denn auch prompt ziemlich entgeistert an. „Was glaubst du wohl? Wie sehe ich denn aus?“

   Diese Frage entlockte Marcus spontan ein kleines Lächeln: „Ich schätze, dass willst du gar nicht so genau wissen.“

   „Wie charmant“, antwortete Nicole, doch sie schien nach wie vor eher gleichgültig als wütend.

   Marcus griff in die Innentasche seiner Jeans-Jacke. „Hör zu, ich … ich weiß, warum du es getan hast“, sagte er dann sehr leise, während er unbewusst den Umschlag in seiner Hand zu einem undefinierbaren Knäuel formte.

   „Was weißt du? Da gibt es nichts zu wissen.“ Marcus glaubte die unterschwellige Angst aus Nicoles Stimme herauszuhören. „Es war ein Versehen – ein blöder Unfall, nichts weiter.“ Ihre Stimme zitterte und ihr Blick irrte hektisch durch das Zimmer, in dem verzweifelten Versuch, seinen bohrenden Blicken auszuweichen. „Ich war betrunken!“

   „Mag ja sein, aber das ist nur das, was die anderen glauben sollen. Ich weiß es besser, denn ich hab´ deinen Brief.“ Sein Herz klopfte so laut, dass Marcus glaubte, Nicole müsse es hören. Er legte den Umschlag auf Nicoles Bett und trat zwei Schritte zurück, als fürchte er ihre Reaktion. Endlich war es raus! Er fühlte sich gleich bedeutend besser.

   Nicole starrte ihn aus großen Augen ungläubig an: „Was? Wie kommst du ... ? Ich … woher hast du den Brief?“

   „Er ist aus deinem Rucksack gefallen und ich hab´ ihn aufgehoben. So einfach.“

   „Und dann hast du versucht, mich damit zu erpressen. Ganz einfach.“

   „Ja … ja, so ist es wohl“, gestand Marcus und starrte auf den Linoleumfußboden. „Verdammt, nach dem, was du mir gesagt hattest, war ich so wütend, aber ich wollte doch nicht, dass du dir was antust. Ehrlich, als ich hörte, dass du ...“

   „Pssst! Nicht so laut“, fiel Nicole ihm schnell ins Wort. „Wenn die das hier spitzkriegen, hab´ ich auch noch `nen Psychoklempner am Hals.“

   „Es tut mir ehrlich leid. Es war `ne Kurzschlussreaktion. Okay, uns geht´s beschissen zurzeit, aber mein Vater überfällt schließlich auch keine Bank. Ich war wie ferngesteuert und ich habe nicht nachgedacht. Oh Mann, es ist einfach passiert und ich musste das jetzt loswerden. Ich weiß, dass ist keine Entschuldigung und wenn du willst, kannst du mich ruhig anzeigen.“

   „Quatsch“, unterbrach Nicole ihn überraschend grob und schaute ihn dann prüfend an. „Ich hätte nie gedacht, dass du ein Typ bist, der um Gnade bettelst.“

   Marcus straffte die Schultern und richtete sich gerade auf: „Das tue ich nicht. Ich wollte nur mit mir ins Reine kommen. Du kannst mit meinem Geständnis machen, was du willst. Ist mir egal.“ Er wandte sich zur Tür: „Gute Besserung noch.“

   „Halt, warte. – Bitte.“

   Marcus hielt mit der Klinke in der Hand inne. Irgendetwas in Nicoles Stimme hielt ihn zurück. Schweigend wartete er ab.

   „Okay“, sagte Nicole nach einer Pause. „Jetzt bin ich dran. Du bist nicht schuld. Dein Anruf war nur der Auslöser. Ehrlich, ich hab´ schon länger dran gedacht. Zerbrich dir also nicht den Kopf. Ich halte den Mund und ich werde dich nicht anzeigen – vorausgesetzt, du kannst auch schweigen.“

   Marcus war entsetzt darüber, wie ruhig und sachlich Nicole sprach. Sie musste in einer fürchterlichen Verfassung sein. Nach seinem Geständnis hatte er mindestens einen Tobsuchtsanfall erwartet. Aber ihr Desinteresse war schlimmer als alles andere. Er ging zurück zum Bett und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, während er versuchte, Nicoles Blick einzufangen. „Aber warum denn nur?“, erkundigte er sich sanft.

   „Du würdest es doch nicht verstehen.“

   „Versuch´s doch mal. Ich bin bekanntlich nicht dumm.“

   „Nein …“ Nicole lachte bitter auf. „… du nicht. – Sag mal, was wolltest du eigentlich mit dem Geld?“, versuchte Nicole dann geschickt das Thema zu wechseln, doch da war sie an den Falschen geraten.

   „Machen wir einen Deal: Wenn ich dir das sage, sagst du mir auch, warum du ... na ja, du weißt schon.“

   Zum ersten Mal lächelte Nicole leicht: „Du bist ganz schön hartnäckig.“

   „He, das ist eine meiner guten Eigenschaften. Also? Was ist?“

   „Du zuerst.“

   Marcus holte einmal tief Luft. „Also gut, da steckt nichts Besonderes dahinter. Du weißt ja, wie lange mein Vater schon arbeitslos ist. Wir brauchen jeden Euro. Dann streicht mir dein Vater noch den Job ... Mensch, ich wollte doch wenigstens noch in Ruhe mein Abi machen. Aber wenn das so weitergeht, werde ich die Schule wohl abbrechen müssen. Tja, so sieht´s aus.“

   „Und da verlangst du nur 3.000 Euro? Damit kommt man aber nicht sehr weit.“

   Marcus druckste kurz herum. „Es erschien mir angemessen“, antwortete er endlich. „Schließlich hast du keine Leichen im Keller – ach, Scheiße, tut mir leid. Hör zu, ich glaube, ich sollte jetzt gehen. Ach ja, es ist supernett dass du den Mund halten willst. Danke.“

   „Keine Ursache. – Aber ... musst du wirklich schon gehen?“

   Ihr Klassenkamerad warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ist besser so. Nach der Schule rauscht bestimmt deine ganze Clique hier an.“ Marcus verzog sein Gesicht. „Und denen möchte ich nicht unbedingt begegnen.“

   „Keine Angst. Es wird niemand kommen. Und alleine dreh´ ich hier noch durch.“

   „Das verstehe ich nicht. Was ist mit deinen Eltern?“

   Nicole lächelte traurig. „Nein, die haben keine Zeit. Gesellschaftliche Termine – Die üben sich sozusagen in Schadensbegrenzung. Und meine Freunde? Na ja, saufen, Pillen schlucken und dann beinahe absaufen, damit erwirbt man sich in unseren Kreisen ein ganz schlechtes Image.“ Sie zuckte mit den schmalen Schultern. „Wenn es geklappt hätte, wer weiß: Vielleicht wäre ich dann ja sogar zur Heldin geworden und alle hätten an meinem Grab fürchterlich geweint.“

   „Hör auf! Du machst einem ja Angst. – Sie werden schon kommen.“

   „Ich denke nicht.“

   „Dann solltest du auf sie pfeifen.“

   „Das klingt so einfach.“

   „Es gibt genügend andere, die sich um deine Freundschaft reißen werden.“

   „Mag sein, aber die passen nicht in unsere Kreise. Siehst du, genau das ist mein Problem. Meine Eltern schreiben mir sogar meine Freunde vor. In welchen Clubs ich Mitglied sein muss und, und, und. Ich kann nicht mehr. Vor lauter Terminen komme ich nicht mehr zum Lernen. Und mir fliegt leider nichts zu. Egal, was ich tue: Ich kann es ihnen nie recht machen. Und jetzt hab´ ich sie schon wieder blamiert. Das werden sie mir ziemlich übel nehmen, fürchte ich.“

   Eine Krankenschwester steckte den Kopf zur Tür herein. „Junger Mann, ich sagte ein paar Minuten. Ihre Schwester braucht noch sehr viel Ruhe.“

   Marcus erhob sich, doch Nicole griff schnell nach seiner Hand und hielt ihn zurück. „Bitte“, sagte sie zur Krankenschwester gewandt. „Ich war seit langem nicht mehr so ruhig und ausgeglichen. Ehrlich, es geht mir gut.“

   Die ältere Schwester lächelte verständnisvoll: „Aber nicht mehr lange. Er kann ja morgen wiederkommen.“ Leise schloss sie die Tür hinter sich.

   Nicole schaute Marcus fragend an: „Wie kommt sie denn darauf, dass ich deine Schwester bin?“

   „Na ja, ich musste doch irgendwie an die Zimmernummer kommen. Aber ich glaube, sie hat uns durchschaut.“ Er schaute auf seine Hand, die Nicole noch immer fest umklammert hielt. Die Berührung war ihm keineswegs unangenehm. Im Gegenteil, er freute sich, dass sie seine Hand auch jetzt noch festhielt und nicht gleich wieder losgelassen hatte, nachdem die Krankenschwester den Raum wieder verlassen hatte.

   „Und? Was ist mit dir? Wirst du´s tun – ich meine, wiederkommen?“

   Marcus zuckte mit den Achseln. Die Vorstellung mehr Zeit mit Nicole zu verbringen hatte durchaus ihren Reiz, doch noch war er vorsichtig. „Wenn du es möchtest. Ich … na ja, ich könnte dir mit den Hausaufgaben helfen, wenn du willst. Deine Schwächen sind zufällig meine Stärken.“

   Nicoles Augen leuchteten zum ersten Mal, seitdem Marcus das Zimmer betreten hatte, erfreut auf: „Das ist die Idee! Wenn du mir dabei hilfst, doch noch die Versetzung zu packen, dann lassen meine Eltern bestimmt was springen. Es wär´ denen doch unendlich peinlich, wenn ich tatsächlich klebenbliebe. Was hältst du von der Idee?“ Gespannt sah sie Marcus in die Augen. „Nun komm, sag schon ja.“

   „Hmm, du wirst nur noch wenig Zeit haben für Tennis und Partys“, gab er ihr zu bedenken.

   „Na wenn schon.“

   „Und für deine Clique.“

   „Ach, zum Teufel mit denen.“

   „Und wenn deine Eltern dir nun jemand anderen besorgen wollen, der mit dir lernt?“

   „Ist mir egal. In drei Monaten werde ich achtzehn. Es ist schließlich mein Leben. Sie werden lernen müssen, das zu akzeptieren. Schließlich wollten sie, dass ich das Abi mache. Ich wollte schon nach der 10. Klasse abgehen.“

   „Okay, also gut. Aber ich will nichts dafür haben. Nein, keine Widerrede. Das bin ich dir einfach schuldig.“

   Jetzt strahlte Nicole sogar. „Dann werden wir uns also jetzt häufiger sehen.“

   „Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen.“ Marcus spürte eine für ihn ungewohnte Verlegenheit in sich aufsteigen.

   „Toll, vielleicht kannst du mich ja auch mal mitnehmen zu deinen Freunden?“

   „Sicher, wenn du es wirklich möchtest.“

   „Und ich werde mit meinem Vater reden. Versprochen! Vielleicht kann ich ihn ja dazu überreden, dass er deinen Vater irgendwie in seiner Fabrik unterbringt.“

   Marcus riss die Augen auf. „Wenn du das schaffen solltest, dann ...“

   „Was dann?“

   „Das wirst du dann schon merken. Lass dich überraschen.“ Marcus Augen blitzten fröhlich. Er hatte einen Fehler begangen, sicher. Eine Riesendummheit sogar, um genau zu sein. Aber trotzdem schien sich alles noch zum Guten zu wenden und auf einmal sah die Zukunft gar nicht mehr so düster aus. „Ich werde jetzt gehen, bevor uns Oberschwester Hildegard doch noch aufs Dach steigt“, verkündete er dann und hielt Nicole seine ausgestreckte Hand hin. „Danke.“

   „Ich habe zu danken!“ Nicole ergriff die ihr dargebotene Hand und hielt sie einen Tick länger fest als nötig. „Also sehen wir uns morgen?“, hakte sie sicherheitshalber noch einmal nach.

   Marcus nickte und lächelte breit: „Ja, wir sehen uns morgen“, bestätigte er mit fester Stimme und einem zusätzlichen Nicken. Die offensichtliche Unsicherheit der sonst immer so selbstbewusst wirkenden Nicole berührte ihn mehr als er vermutet hätte. „Versprochen.“

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Kommentare: 1
  • #1

    Lilli❤ (Mittwoch, 28 Mai 2014 13:59)

    Interessante Geschichte und schön&ansprechend geschrieben. Allerdings glaub ich, dass die Teenager von heute einige Dinge nicht mehr ganz so sagen würden, da sich der Sprachgebrauch extrem verändert hat... trotzdem gut und weiter so!!!