Blind-Date mit Hindernissen

  

 

   „Mädchen, du hast `nen Knall!“

   Julia warf den Kopf in den Nacken und schimpfte leise vor sich hin, während sie gleichzeitig in den engen Gängen der Tiefgarage des Multiplexkinos Ausschau nach einem freien Parkplatz hielt. Selbstgespräche! Ein Blind-Date! Soweit war es also schon mit ihr gekommen! Tapfer schluckte Julia den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter und ignorierte das flaue Gefühl in ihrem Magen. Am liebsten würde sie gleich wieder umdrehen und nach Hause fahren, doch sie hatte sich fest vorgenommen, das jetzt durchzuziehen. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, dass sie ihre blöde Schüchternheit in den Griff bekam. Dabei fand sie – im Nachhinein betrachtet – ihren Plan nicht nur gewagt, sondern fast schon schwachsinnig. Bestimmt würde sie – wie immer - keinen vernünftigen Satz zustande bringen und sich nur mal wieder bis auf die Knochen blamieren. Im Kollegenkreis galt sie sogar schon als eingebildet, weil sie die Zähne nicht auseinanderbekam. Bildhübsch zwar – aber eben eingebildet. Schon so mache interessante Bekanntschaft war durch Julias Zurückhaltung bereits im Keim erstickt worden. Das sollte sich nun heute endlich ändern. Und wenn nicht…Na ja, immerhin wusste niemand von diesem Blind-Date.

   Da! Fast hätte Julia den freien Parkplatz übersehen. Sie bremste hart, schaltete schnell in den Rückwärtsgang, fuhr an...und schon knallte es laut und vernehmlich.

   „Oh, nein! Auch das noch!“ Julia seufzte, kurbelte entnervt das Fenster runter, warf einen Blick nach hinten und riss gleich darauf entsetzt die Augen auf. Michael Hartmann, der neue Abteilungsleiter in ihrem Betrieb und somit ihr direkter Vorgesetzter, kam mit langen Schritten und unverkennbar ärgerlichem Gesichtsausdruck auf sie zu. Fast alle weiblichen Angestellten – inklusive Julia – schwärmten für den schlanken, gutaussehenden Mittdreißiger, der sich jedoch bedeckt hielt und zu allen Mitarbeitern stets gleichermaßen freundlich war.

   Hartmann wollte gerade lospoltern, als er Julia, die zusammengesunken in ihrem Mini-Cooper hockte, erkannte.
   „Sie?“ Offensichtlich verblüfft starrte er sie an und strich sich das kräftige, dunkle Haar aus der Stirn.
   Julia war die Situation einfach nur entsetzlich peinlich und so schwieg sie vorsichtshalber.
   „Was ist los? Hat es Ihnen mal wieder die Sprache verschlagen?“
   „Nein ... äh…ich ... äh ... ich…bin schuld“, stammelte Julia verstört und mied den forschenden Blick aus Michael Hartmanns dunkelblauen Augen, die ihre Kolleginnen regelmäßig zu wahren Begeisterungsstürmen hinrissen, kaum dass der Mann den Raum verlassen hatte.
   „Natürlich sind Sie das“, schmunzelte Hartmann amüsiert. „Und? Was machen wir nun?“
   „Montag ...“, stieß Julia hektisch hervor. „Wir regeln das Montag, ja?“ Damit ließ sie ihren Chef einfach stehen, setzte ihren Wagen schwungvoll in die Parklücke und stürmte danach in Richtung Treppenhaus, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Dass Hartmann ihr kopfschüttelnd hinterblickte bekam sie gar nicht mehr mit.

***************

   Am vereinbarten Treffpunkt in der geräumigen Vorhalle des Kino-Centers suchte Julia kurz darauf vergeblich nach einem Mann mit einer gefalteten Tageszeitung unter dem Arm. In ihrer Nähe stand ein etwa achtjähriger Junge mit Baseballkappe und Sponge-Bob-Rucksack, der sie unverhohlen neugierig musterte.
   „Na, wurdest du auch versetzt?“, fragte Julia schließlich, eigentlich nur, um etwas zu sagen.
   „Ich weiß nicht, was das bedeutet“, entgegnete der Junge treuherzig.
   „Ach, ist nicht so wichtig“, lächelte Julia das Kind freundlich an. „Ich heiße übrigens Julia. Und wer bist du?“
   „Markus. Ich warte hier auf meinen Vater. Wir gehen in den neuen James Bond“, antwortete der Junge stolz.
   „Wow, du hast es ja gut. Dein Vater besorgt wohl gerade Popcorn, was? Am besten, ich warte bis er zurückkommt. Sonst gehst du nachher noch verloren.“
   „Ich bin doch kein kleines Kind mehr“, widersprach Markus entrüstet. „Meine Mutter hat gesagt, ich soll genau hier auf meinen Vater warten und das tue ich auch. Sie musste gehen, weil sie mit ihrem neuen Freund verabredet ist. Der wird immer stinkig, wenn sie sich verspätet. Weißt du, meine Eltern sind geschieden“, erklärte er dann wichtig. „Aber jeden zweiten Sonntag darf ich etwas mit meinem Vater unternehmen. Meistens machen wir dann ganz tolle Sachen.“
   „Schon gut, entschuldige.“ Julia war unangenehm berührt vom Verhalten der Mutter. Ihrer Meinung nach war es unverantwortlich, ein Kind in dem Alter einfach in einer total überfüllten Halle abzustellen und dort sich selbst zu überlassen. „Aber wenn du möchtest, können wir ja einfach gemeinsam warten.“
   „Au ja! Auf wen wartest du denn?“
   „Ich weiß es nicht“, gestand Julia ehrlich.
   „Wie, du weißt es nicht?“, erkundigte sich der Junge verwundert. „Du musst doch wissen, mit wem du verabredet bist.“
   „Nicht so genau. Das nennt man Blind-Date“, erklärte Julia geduldig. „Man verabredet sich mit jemandem, den man nicht kennt. Aber Mr. Unbekannt hat mich anscheinend versetzt. Das bedeutet, dass er es sich anscheinend anders überlegt hat.“
   „Ach so“, meinte der Junge, als sei dies das selbstverständlichste von der Welt und Julia wünschte sich unwillkürlich, sie könnte die Sache auch so auf die leichte Schulter nehmen, denn immerhin hatte sie große Hoffnungen in dieses Treffen gesetzt. Plötzlich ging ein Strahlen über das sonnengebräunte Kindergesicht und Markus begann heftig mit beiden Armen zu winken: „Papa! Hier bin ich! Hallo Papa!“
   Julia folgte den Blicken des Jungen. Oh nein! Nicht schon wieder! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ausgerechnet Michael Hartmann kam da zügig auf die Säule zugeeilt. Entschlossen trat Julia die Flucht nach vorn an und reihte sich rasch in die lange Schlange vor dem Popcornstand ein.
   „Markus“, hörte sie ihren Chef gleich darauf erleichtert ausrufen. „Tut mir leid, ich bin zu spät. Wo ist denn deine Mutter?“
   „Mama hatte es eilig und musste schon weg. Ich soll dir sagen, dass sie mich heute Abend bei dir zu Hause abholen kommt.“
   „Typisch.“ Hartmanns Stimmlage konnte Julia entnehmen wie ungehalten er war. „Sie kann dich doch nicht einfach so alleine hier stehenlassen!“
   „Ach, war nicht so schlimm. Ich bin doch kein Baby mehr. Außerdem war ich nicht alleine. Da war diese nette Frau. Wir haben uns prima unterhalten.“
   Dass Kinder immer so schamlos übertreiben müssen, dachte Julia bei sich. Hilfe, ging das denn hier überhaupt nicht voran? So unauffällig wie möglich wechselte Julia die Schlange, so dass sie nun etwas weiter vorne stand.
   „Ich finde, dann sollten wir uns aber unbedingt bei der netten Frau bedanken, dass sie auf dich achtgegeben hat“, hörte Julia zu ihrem Entsetzen Hartmann da sagen. „Wo ist sie denn?“
   Nach einer kurzen Pause rief Markus laut: „Da! Da drüben steht sie. In der Schlange. Siehst du sie? Die mit den langen schwarzen Haaren und dem gelben T-Shirt.“
   `Oh, nein, bitte nicht´, flehte Julia in Gedanken. Umsonst! Schon spürte sie, wie ihr jemand sachte auf die Schulter tippte. Die leichte Berührung durchfuhr Julia wie ein Stromstoß und sie zuckte unwillkürlich zusammen.
   „Entschuldigen Sie, darf ich ...“ Überrascht starrte Hartmann zum zweiten Mal an diesem Tag in Julias Gesicht. „Nanu, Sie schon wieder?“ Sein intensiver Blick aus blauen Augen brachte Julia vollends aus der Fassung.
   „Ja ... ich ...“, stotterte sie herum. „Ich ... äh ... hören Sie ... der Unfall…eben da unten im Parkhaus ...Sie wissen schon…“ Mist, fluchte sie innerlich. Der Mann musste sie ja für völlig beschränkt halten. Wieso zum Teufel war sie nicht dazu in der Lage, vernünftig mit einem Erwachsenen zu kommunizieren? Bei Kindern hatte sie diese Probleme nicht, aber sobald sie von jemandem angesprochen wurde, der offenkundig älter als ein Teenager war, mutierte sie zwangsläufig zur Vollidiotin. Bei Männern machte sich ihr Problem fatalerweise noch stärker bemerkbar. Okay, neuer Versuch. Julia holte tief Luft: „Dr. Hartmann…ich…es…es tut…“
   „Montag! War es nicht so?“, fiel Hartmann ihr lächelnd ins Wort. „Obwohl, ich muss zugeben: Sie haben mich da eben in der Tiefgarage ganz schön überrumpelt. Kompliment, ich stand ganz schön dumm da. Das passiert mir nicht oft, das dürfen Sie mir glauben.“
   „Tut mir leid, Dr. Hartmann“, murmelte Julia und war erleichtert, wenigstens diesen kurzen Satz ohne Stottern hervorgebracht zu haben.
   „Kein Problem. Und vergessen Sie den Dr. – Wir sind hier nicht in der Firma.“
   Das war Julia durchaus aufgefallen. Sah ihr neuer Chef im Anzug schon gut aus, so toppte seine lässige Freizeitkleidung das noch um Längen. In verwaschenen, eng anliegenden Jeans und einem legeren Sakko, an dem er die Ärmel bis zu den Ellbogen hinaufgeschoben hatte, sah er geradezu unverschämt gut aus. Die Tatsache, dass er sich offenbar am Wochenende nicht rasierte, verstärkte den zwanglosen Eindruck eher noch.
   „Kennt ihr euch“, fragte Markus ungeduldig dazwischen und blickte neugierig von einem zum anderen.
   „Ja, Frau Schneider ist eine Kollegin von mir“, erklärte sein Vater.
   Kollegin! Das klang ja fast so, als wären sie gleichgestellt, registrierte Julia am Rande.
   „Ich darf Julia sagen“, berichtete Markus seinem Vater stolz.
   „Aber du sollst doch Erwachsene nicht bei ihren Vornamen ansprechen.“
   „Ohischoninordnung“, murmelte Julia kaum hörbar und studierte so intensiv die Bodenfliesen, als könnten diese ihr die Lösung für ihr Problem verraten.
   „Papa, kann Julia nicht mit uns den Film ansehen? Sie ist echt nett.“
   Du lieber Himmel, wie war sie da bloß hineingeraten? Und viel wichtiger: Wie kam sie da wieder heraus?

   „Ich weiß, aber sie ist bestimmt auch verabredet.“
   Julia spürte, wie ihr mit einem Mal heiß und kalt wurde. Bitte, Markus, halt den Mund! Kein Wort mehr! Aber Julia ahnte schon, dass ihr stummes Flehen auf taube Ohren stoßen würde.
   „Nicht mehr“, erklärte Markus seinem Vater prompt. „Sie wurde versetzt.“
   „Oh, das tut mir aber leid für Sie.“
   Na klasse! Konnte es noch schlimmer kommen? Die Antwort gab sie sich nur eine Sekunde später: Ja, konnte es!
   „Das braucht es nicht“, fuhr Markus, eifrig bestrebt, seinen Vater ins Bild zu setzen, fort. „War sowieso nur `ne blinde Verabredung. Ist also nicht so schlimm.“
   Julias Knie wurden weich und sie wünschte sich auf der Stelle ein Mauseloch zum verkriechen.
   „Ein Blind-Date? Im Ernst?“ Michael Hartmann schmunzelte. „Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“
   „Oh, vielen Dank auch“, flüsterte Julia undeutlich. Großer Gott, das war an Peinlichkeit ja echt kaum noch zu übertreffen.
   „Sagen Sie mal: Was zum Teufel habe ich Ihnen eigentlich getan?“
   „Wie bitte?“ Überrascht und misstrauisch blickte Julia auf. Forschend und ohne eine Spur von Spott ruhte Hartmanns Blick auf Julias Gesicht.
   „Sie gehen mir aus dem Weg. Und ich meine nicht nur hier; auch im Geschäft. Immer weichen Sie mir aus. Warum?“, fragte Michael nun ganz direkt.
   „Ich ... ich weiß es nicht.“
   „Na also. Wenn es keinen Grund gibt, warum begleiten Sie uns dann nicht? Markus ist ein netter Kerl und er mag sie offensichtlich. Geben Sie uns `ne Chance.“
   „Bitte, Julia“, bettelte Markus. „James Bond ist sooo cool!“
   „Und ich erst“, grinste Michael entwaffnend. „Also? Was ist? Kommen Sie, geben Sie sich `nen Ruck.“
   „Okay.“ Julia gab sich geschlagen. „Ich komme mit.“
   „Super“, freute Markus sich lautstark und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. „Können wir jetzt Popcorn holen?“
   Michael drückte seinem Sohn einen Geldschein in die Hand. „Hier, mach du das. Wir warten an der Säule auf dich.“
   Lächelnd beobachtete Julia, wie Markus sich geschickt vordrängelte.
   „Einen prima Jungen haben Sie da“, rutschte es ihr spontan heraus. „Wissen Sie das eigentlich?“
   „Oh, ja“, nickte ihr Chef stolz. Dann versuchte er Julias Blick einzufangen. „Hey, Sie können ja richtig zusammenhängende Sätze sprechen“, neckte er sie mit sanfter Stimme. „Wer hätte das gedacht?“
   Julia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte und blickte wieder verlegen zu Boden.
   „Hey…“ Sanft, beinahe zärtlich, legte sich Michaels Zeigefinger unter Julias Kinn und drückte es vorsichtig nach oben. „Ehrlich, ich freue mich, dass Sie uns begleiten wollen. Sie ahnen gar nicht, wie sehr…“
   „Tja...“ Julia stutze plötzlich. Eine Säule weiter stand ein dunkelhaariger junger Mann, der eine zusammengefaltete Zeitung unter dem Arm trug, und sich suchend umschaute. Für einen kurzen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Unwillkürlich lächelte Julia leicht und der Mann lächelte zurück. Er wirkte durchaus sympathisch.
   Michael war Julias Blicken gefolgt. „Schon klar“, sagte er und seine Stimme klang ein wenig bitter. „Gehen Sie ruhig. Kein Problem. Wir sehen uns ja dann am Montag.“
   „Aber ich dachte, du kommst mit uns“, erklang da Markus´ Stimme enttäuscht neben ihnen. „Ich hab´ doch extra `ne Riesenportion gekauft.“ Mit beiden Händen hob der Junge die Packung an, die beinahe seinen Kopf unsichtbar werden ließ. „Für uns alle.“
   „Es geht nicht, Markus, Julias Verabredung ist...“, hob Michael an.
   „...nicht wichtig“, fiel Julia ihm entschlossen mit fester Stimme ins Wort und suchte nun ihrerseits Michaels Blick. „Können wir gehen?“ Sie wunderte sich, wie klar und einfach plötzlich alles schien Ihre blöde Unsicherheit war mit einem Mal wie weggeblasen.
   „Bist du dir sicher“, fragte Michael leise und griff zögernd nach Julias Hand.
   „Ganz sicher“, nickte Julia und erwiderte den vorsichtigen Händedruck. „Ich finde James Bond nämlich auch megacool.“
   „Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich dich schon zum letzten Teil eingeladen“, grinste ihr Chef breit.
   „Aber da kannten wir uns doch noch gar nicht“, wandte Julia lächelnd ein und verbot sich streng, über mögliche Probleme nachzudenken, die diese unverhoffte Begegnung eventuell nach sich ziehen konnte. Sie wollte jetzt einfach nur den Augenblick genießen und einmal in ihrem Leben nicht über mögliche Folgen nachgrübeln. Einmal nur sie selbst sein!
   „Papa, wir müssen langsam die Karten kaufen“, quengelte Markus und drängelte sich zwischen die Erwachsenen. „Sonst kriegen wir nämlich keine mehr. Guck mal, wie voll es an den Kassen ist. Händchenhalten könnt ihr später immer noch.“
   Julia lachte befreit auf, als Michael seinem Sohn eine leichte Kopfnuss verpasste: „Du bist ganz schön frech für dein Alter, aber…“ Er schenkte Julia ein entwaffnendes Lächeln. „…manchmal hast du wirklich gute Ideen.“

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Kommentare: 1
  • #1

    Mischa (Freitag, 24 August 2012 07:49)

    Schöne Geschichte. Es kommt immer an anders als man denkt. Cést la vie
    Würde mich brennend interessieren, wie es weitergeht.