Der verschwundene Busfahrer

  

   „Ob Onkel Hannes wohl krank ist?“, wunderte sich die zwölfjährige Reni, als sie gemeinsam mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Markus und dessen bestem Freund Peter aus dem Schulbus ausstieg. „Der hat doch noch nie gefehlt – das ist gar nicht seine Art.“

  

    „Keine Ahnung“, antwortete Peter, ein für sein Alter groß gewachsener, hagerer dunkelhaariger Schlacks mit Pubertätspickeln, der sein Basecap grundsätzlich falsch herum auf dem Kopf trug. „Wer weiß, vielleicht haben sie ihn ja gefeuert.“

  

   „Nee, das glaube ich nicht.“ Reni schüttelte ungläubig den Kopf, dass die blonden Fransen ihres Pagenkopfes heftig von links nach rechts flogen. „Er ist immer pünktlich, fährt vorsichtig und überhaupt ist er supernett.“

  

   Peter zuckte mit den Achseln: „Ich weiß auch nicht. Aber in letzter Zeit wird viel über ihn geredet. Ich hab´ gehört, dass er früher sogar mal Ärger mit dem Gesetz gehabt haben soll.“ 

  

   „Unser Hannes?“ Markus schnaufte ein wenig und klang ehrlich empört. „Wer erzählt denn so´n Scheiß?"

  

   „Meine Mutter hat es von einer guten Bekannten – und die hat es beim Friseur aufgeschnappt.“ Peters Gesichtsausdruck veränderte sich und er gab seiner Stimme einen verschwörerischen Unterton. „Ich hab´ die beiden belauscht, als sie beim Kaffeetrinken waren. Ehrlich, es soll da einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit geben.“  

 

   „So ein Quatsch! Ich glaub´ viel eher, da ist etwas passiert!“ Reni griff nach ihrem Rucksack und setzte sich mit entschlossener Miene in Richtung Busbahnhof in Bewegung.

  

   „Was soll das? Was hast du vor?“, rief Markus ihr hinterher und verdrehte genervt die Augen. Er hasste die spontanen Einfälle seiner Schwester, die auch ihn schon oft genug in Schwierigkeiten gebracht hatten.

  

   „Na was wohl?“, fragte seine Schwester keck über die Schulter. „Wir werden nachsehen, was da los ist! – Kommt schon, beeilt euch! Sonst verpassen wir noch den Bus.“

 

   „Du kannst doch nicht schon wieder blaumachen! Menschenskind, Reni, du wirst wieder einen Riesenärger kriegen!"

  

   „Und wenn schon!“ Reni schien fest entschlossen. „Was ist nun?Kommt ihr mit oder kommt ihr mit?“ Grinsend blickte das Mädchen den beiden Jungs ins Gesicht. 

  

   Mürrisch sagte Markus zu Peter: „Lass sie – Reisende soll man nicht aufhalten.“

  

   Doch zu Markus Erstaunen erwiderte Peter: „Ich finde, sie hat Recht. Wir sollten wirklich nachsehen, ob mit Hannes alles in Ordnung ist. – Los, komm in die Gänge: Da vorne kommt der Bus!“ Peter setzte sich in Bewegung, während sein etwas stämmiger Freund Mühe hatte mit ihm Schritt zu halten.

  

   „Hey“, rief Reni fröhlich als die beiden im letzten Moment noch in den Bus sprangen. „Seid ihr doch dabei?“

  

   „Bild dir bloß nichts darauf ein“, japste ihr Bruder außer Atem.

  

   „Du solltest wirklich öfter mal joggen“, stichelte Reni. „Sieh´ mich an. Glaub´ mir: Bewegung ist das A und…“

  

   „Ach halt die Klappe!“, fiel ihr Bruder ihr ins Wort. „Du nervst!“

  

   „Hört auf “, beendete Peter den aufkommenden Streit zwischen den Geschwistern. „Ich bin nicht hier um mir euren Zoff anzutun, klar? Ich dachte, wir wollten Onkel Hannes helfen!“

  

   „Ja, ja“, maulte Markus leise vor sich hin. „Sofern er denn überhaupt unsere Hilfe braucht."

 

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Kurz darauf stiegen die drei Jugendlichen an derLaubenkolonie am Stadtrand aus. Mit gemischten Gefühlen machten sie sich auf den Weg und gingen schließlich zögernd auf das kleine Steinhäuschen von Hannes Diehsel zu. Er hatte die Kinder, die regelmäßig mit ihm fuhren, im Frühjahr an einem Wochenende alle zum Grillen eingeladen, daher wussten sie, wo der beliebte Busfahrer wohnte. Doch jetzt wirkten Haus und Garten im krassen Gegensatz zu dem lauten und fröhlichen Grillfest merkwürdig einsam und verlassen. Und trotzdem das Haus im hinteren Teil des Gartens mit den bunt bepflanzten Blumenkästen auf der kleinen Terrasse durchaus freundlich und einladend wirkte, kamen den Kindern plötzlich Zweifel an ihrem Vorhaben.

 

    „Was ist, wenn er nun doch ein Krimineller ist?“, brachte Markus seine Bedenken zum Ausdruck, was er jedoch kaum eine Sekunde später schon wieder bereute. „Stellt euch vor, wenn er uns als Geiseln nimmt?"

 

   „Gott, was bist du doch für ein Schisser!“, hielt seine Schwester ihm verächtlich vor. „Aber bitte, du kannst ja hier auf uns warten, wenn du Angst hast!“

 

   Das tat Markus natürlich nicht. Wer steht schon gerne als Angsthase da - noch dazu vor seiner kleinen Schwester? Aber er ließ Reni, die inzwischen schon angestrengt durch die kleinen Sprossenfenster ins Innere des Hauses spähte, gerne den Vortritt.

 

   „Nichts zu sehen“, verkündete sie gleich darauf. „Hmm, was machen wir nun?“

 

   „Gib´ mir deine Jacke“, forderte Peter Markus auf.

 

   „Was? Wozu denn?“

 

   „Wozu wohl – ich will das Fenster einschlagen, und ich hab´ keinen Bock, mich zu schneiden.“

 

  „Cool!“ Reni flüsterte unwillkürlich. „Wie im Fernsehen!“

 

   „Bist du verrückt? Die Jacke ist ganz neu! Meine Mutter köpft mich, wenn da was dran kommt!“

 

   „Komm schon“, drängte Peter seinen Freund. „Stell dir vor, Onkel Hannes liegt da hinten womöglich in seinem Blut und braucht unsere Hilfe.“

 

   „Schon gut, schon gut, hör auf!“ Markus verdrehte ergeben die Augen, zog seine neue Jeansjacke aus und reichte sie an seinen Freund weiter. Gleich darauf zersplitterte laut klirrend die Scheibe. Nach einer kuzen Schrecksekunde, in der alle drei den Atem anhielten, wandte sich Peter dann an Reni:

 

   „Du bist die Einzige von uns die da durchpasst. Was ist? Traust du dich?“

 

   „Klar trau ich mich!“ Reni hatte schon ein Bein im Zimmer und schlängelte nun vorsichtig ihren zierlichen Körper an der Sprosse und den scharfkantigen Scheiben vorbei ins Innere der Laube.

 

   „Na toll“, nörgelte Markus, der seine kleine Schwester insgeheim bewunderte. „Wozu braucht ihr mich überhaupt?“

 

   „Hey, jetzt sei kein Spielverderber“, meinte Peter versöhnlich. „Ohne deine Jacke wären wir schließlich gar nicht erst…“

 

   „Halt! Was zum Teufel treibt ihr da? Sofort aufhören!“

 

   Die tiefe Stimme klang sehr wütend und die Jugendlichen zuckten erschrocken zusammen und zogen automatisch ihre Köpfe zwischen die Schultern. Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Hannes Diehsel hinter ihnen und er wirkte ziemlich sauer. Fest legte er seine Hand in Peters Nacken:

 

   „Ich denke, ihr habt mir so einiges zu erklären! Rein da, aber dalli!“ 

 

   Kleinlaut saßen die drei Helden zehn Minuten später in der gemütlichen Hütte und erzählten. Je länger die Geschichte dauerte, desto freundlicher wurde Hannes Diehsels Gesichtsausdruck. Das bemerkten die Kinder in ihrer Panik allerdings gar nicht.

 

   „So, so“, sagte er dann gespielt streng als sie ihre Geschichte beendet hatten und zerknirscht vor sich auf die Tischplatte starrten. „Und ihr meint also, das alles gibt euch das Recht so einfach bei mir einzubrechen?“

 

   „Was hätten wir denn tun sollen, Onkel Hannes?“, fragte Reni verzweifelt. „Deinen Chef wollten wir nicht fragen – wenn der nämlich auch das dumme Gerede über dich glaubt, wirft er dich nachher noch raus und das wollen wir doch auf gar keinen Fall. – Ich meine, wir glauben das natürlich nicht“, fügte sie schnell hinzu, ohne genau zu wissen, was sie da eigentlich nicht glaubte.

 

   „Ach Reni!“ Hannes Diehsels Stimme klang plötzlich traurig. „Die Leute reden so viel. Versteht ihr: Wenn jemand lieber alleine lebt, so wie ich, dann entstehen leider schnell solche dummen Gerüchte. Na ja, ist ja auch egal. Die Hauptsache ist doch, dass ihr euch Sorgen um mich gemacht und etwas unternommen habt. Ich bin sehr stolz auf euch.“

 

   „Und das kaputte Fenster?“, fragte Markus leise.

 

   „Ach, das ist halb so schlimm! Im Grunde genommen ist es ja sogar meine Schuld. Ich hätte euch eben doch erzählen sollen, dass ich in Rente gehe. Dann wäre das Alles gar nicht erst passiert. Aber der Abschied von euch frechen Gören fiel mir so schwer, dass ich es einfach nicht übers Herz gebracht habe.“

 

   „Heißt das, du fährst uns jetzt nie mehr?“ Reni klang sehr ent-täuscht.

 

   „Genau, das heißt es“, lächelte der freundliche ältere Mann und streichelte dem Mädchen tröstend über den Kopf. „Aber ich würde mich ehrlich sehr freuen, wenn ihr mich hin und wieder besuchen kommt. Was meint ihr?“

 

   „Klar doch, sehr gerne“, antworteten alle wie aus einem Mund. „Das machen wir! Und jetzt…"

 

   „Jetzt...macht ihr, dass ihr in die Schule kommt“, unterbrach Hannes Diehsel seine jungen Besucher und als in er die bestürzten Gesichter blickte, musste er sich das Lachen verkneifen. „Keine Widerrede, da müsst ihr jetzt durch, sonst nehme ich meine Einladung zurück. Bitte, wenn es das ist, was ihr möchtet…“

 

   „Och, nööö“, kam es wiederum einstimmig zurück.

 

   „Na, dann trollt euch! Aber zackig! Heute Nachmittag könnt ihr meinetwegen gerne wiederkommen – bis dahin habe ich dann auch Grillwürstchen besorgt. Einverstanden?“

 

   Allgemeines Kopfnicken antwortete ihm und so scheuchte er die kleine Meute mit einer Handbewegung lachend aus seinem Haus. "Und sagt euren Eltern Bescheid, wo ihr seid", rief er den davoneilenden Kindern noch hinterher. Ein Stück weiter vorne hoben sich drei Hände zum Zeichen, dass er verstanden worden war. Hannes Diehsel schaute den dreien noch so lange hinterher, bis sie im Bus verschwunden waren. Dann schüttelte er mit einem nachsichtigen Lächeln auf den Lippen den Kopf und ging zurück ins Haus. Dabei registrierte er verwundert, dass er sich zum ersten Mal seit seiner Pensionierung regelrecht erleichtert und frei fühlte. Und bei Gott, das war ein verdammt gutes Gefühl! Vielleicht hatte das Leben ihm ja doch noch etwas zu bieten - wer wusste das schon?

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